Marietta Meier (links) und Monika Dommann an der Medienkonferenz in Lausanne.
Schweiz

Zwei feministische Historikerinnen untersuchen den katholischen Missbrauchskomplex

Monika Dommann und Marietta Meier leiten das Pilotprojekt zum katholischen Missbrauchskomplex in der Schweiz. Ein Gespräch über die nächsten Schritte, Schweigen und Vertuschung – und warum sie keinen Altbundesrat als Patron brauchen.

Raphael Rauch

Im Mai soll es mit dem Pilotprojekt losgehen. Wie gehen Sie ganz konkret vor?

Monika Dommann*: Wir haben bereits allen Bischöfen geschrieben und von allen eine Antwort erhalten. Wir können in die diözesanen Archive kommen. Uns wurden Kontaktpersonen genannt und unser Team kann loslegen. Ausserdem haben wir die Staatsarchive in allen Kantonen angefragt.

Monika Dommann
Monika Dommann

Was erhoffen Sie sich von staatlichen Archiven? Die meisten Missbrauchsfälle werden gar nicht erst zur Anzeige gebracht.

Marietta Meier*: Es gibt trotzdem Strafakten, die thematisch sortiert sind, und von denen wir uns Aufklärung erhoffen. Hinzu kommen Akten aus dem Bildungswesen. Wenn wir Akten des Staates und der Kirche gegenüberstellen und vergleichen, erfahren wir viel über die Art, wie mit Missbrauch umgegangen wurde.

Marietta Meier
Marietta Meier

Wie gehen Sie mit Betroffenen um?

Meier: Bei uns haben sich schon viele Betroffene gemeldet. Betroffene, die selbst Übergriffe erlebt haben und im Rahmen dieses Projektes aussagen wollen. Und Menschen, die nicht direkt betroffen waren, aber zum Beispiel für die Kirche gearbeitet haben und viel wissen. Wir machen eine Liste mit allen Menschen, von denen wir denken: Die sind für das Pilotprojekt wichtig, die sollten wir interviewen.

Bischof Joseph Bonnemain an der Medienkonferenz in Lausanne.
Bischof Joseph Bonnemain an der Medienkonferenz in Lausanne.

Der frühere Generalvikar von Lausanne, Genf und Freiburg, Nicolas Betticher, sagt, er kenne viele Missbrauchsfälle – mehr, als aktenkundig geworden ist. Wie kann er an der Studie mitwirken?

Meier: Er kann uns einfach eine E-Mail schreiben. Unsere E-Mail-Adressen stehen auf der Website der Uni Zürich.

Wie wird Ihr Team genau vorgehen, wenn es von einem Missbrauchstäter erfährt?

Dommann: Wenn wir im Geheimarchiv darauf stossen, dann schauen wir, wo es noch weitere Akten geben könnte: In den Kirchgemeinden oder in anderen Bistümern, weil der Priester vielleicht versetzt wurde. Alles, was strafrechtlich relevant ist, wird der Rechtsdienst der Uni Zürich an die Staatsanwaltschaft weiterleiten.

Marietta Meier
Marietta Meier

Viele verstehen nicht, warum es erst einmal nur ein Pilotprojekt gibt.

Meier: Das war explizit unser Anliegen. Denn wir wissen gar nicht, was für Quellen es gibt. Deswegen ist es gut, in Etappen vorzugehen. So erhalten wir ein Big Picture: Was gibt es überhaupt für Quellen und was können wir machen?

Was kann das Pilotprojekt aufzeigen?

Dommann: Anhand von konkreten Fällen können wir exemplarisch problematische Konstellationen zeigen: Welche Muster gibt es bei den Tätern? Welche Probleme gibt es im System? Es wäre ein Leichtes gewesen zu sagen: Wir machen ein grosses Projekt, einen Bericht und fertig. Aber das Forschungsprojekt wird besser, wenn wir Schritt für Schritt vorwärts gehen, Bilanz ziehen und die Zwischenresultate evaluieren. Wir werden auch klar zeigen, wer nicht kooperiert hat.

Lucas Federer ist Teil des Forschungsteams.
Lucas Federer ist Teil des Forschungsteams.

Vor allem Bischöfe und Generalvikare dürften viel über Missbrauchsfälle wissen. Werden Sie alle noch lebenden Bischöfe und Generalvikare kontaktieren?

Meier: Wir haben alle Bischöfe, die im Amt sind, angeschrieben. Alle, die etwas von Missbrauchsfällen wissen, können sich bei uns melden. Historische Forschung braucht Quellen. Doch viele Missbrauchsfälle sind nicht schriftlich behandelt worden. Wie gehen wir mit diesen Lücken um? Hier kann «Oral History» weiterhelfen. Auch wenn uns jemand keine Auskunft geben will, ist das eine Aussage. Wir nehmen in unserer Forschung auch das Schweigen, Verschweigen und Vertuschen in den Blick.

«Das Schweigen sagt oft genauso viel aus wie das Reden.»

Dommann: Wir sprechen viel zu wenig über das Schweigen. Dabei sagt das Schweigen oft genauso viel aus wie das Reden. Hier sehe ich eine Stärke unseres historischen Ansatzes: Wir können mit einer historischen Studie auch das Schweigen und Reden in verschiedenen Nuancen thematisieren.

Wird Ihr Pilotprojekt zu Rücktritten führen, wie man es etwa in deutschen Bistümern beobachten und nicht beobachten kann?

Meier: Wir sind Historikerinnen, keine Prophetinnen. Aber unsere Forschung reicht bis in die Gegenwart hinein. Von daher betrifft sie auch noch lebende Personen.

Magda Kaspar (Bern) ist Teil des Forschungsteams der Uni Zürich.
Magda Kaspar (Bern) ist Teil des Forschungsteams der Uni Zürich.

An der Medienkonferenz wurde es auch emotional. Ein Herr aus der Westschweiz traut Ihnen das Projekt nicht ganz zu und wünscht sich einen Altbundesrat, der über das Projekt wacht.

Dommann: Es ist klar: Es gibt Konflikte und unterschiedliche Interessen. Das ist kein rein innerkirchlicher, sondern auch ein gesellschaftlicher Konflikt. Wahrscheinlich werden die Konflikte auch zunehmen, weil das zum Aufklärungsprozess dazugehört. Wir trauen uns das Projekt zu. Dafür brauchen wir keinen Altbundesrat.

Sie haben sich an der Medienkonferenz als feministische Historikerinnen positioniert. Wie ist es, in eine Männerwelt wie die katholische Kirche einzutauchen?

Dommann: Das ist für uns nicht unüblich. In der Wissenschaft haben wir es auf der Ebene der Professoren auch vor allem mit Männern zu tun.

Was wäre für Sie eine rote Linie? Wann würden Sie das Pilotprojekt abbrechen?

Meier: Wenn wir hintergangen oder wenn Absprachen nicht eingehalten werden, sprechen wir mit dem Beirat. Wenn das Problem nicht gelöst werden kann, wird der Beirat und unser ganzes Forschungsteam zurücktreten.

«Es gibt nicht die eine katholische Kirche.»

Jedes geschlossene System tut sich bei der Aufarbeitung schwer. Wie schätzen Sie die katholische Kirche in der Schweiz ein?

Meier: In der Vorbereitung haben wir gelernt: Es gibt nicht die eine katholische Kirche. Die katholische Kirche besteht aus unterschiedlichen Institutionen, Personen und Interessen. Da sind sehr viele unterschiedliche Meinungen dabei.

Gibt es auch die Befürchtung, dass sich zu viele Betroffene bei Ihnen melden könnten – und Sie dem rein quantitativ nicht gerecht werden können?

Dommann: Es kann sein, dass wir nicht mit allen sprechen können. Ein Pilotprojekt hat Grenzen. Aber trotzdem ermuntern wir Betroffene, sich bei uns zu melden. Alles wird dokumentiert – das ist für den Forschungsprozess wichtig.

Lorraine Odier (Lausanne) ist Teil des Forschungsteams.
Lorraine Odier (Lausanne) ist Teil des Forschungsteams.

Historische Aufarbeitung kann Leid weder ungeschehen machen noch wiedergutmachen. Werden Sie Betroffene enttäuschen müssen?

Meier: Die Frage nach Gerechtigkeit ist sehr schwierig. Das Leid, das so vielen Menschen angetan wurde, ist unermesslich. Und trotzdem ist es wichtig, dass die Stimme der Betroffenen gehört und dass sie auch ihre Unzufriedenheit mit dem Pilotprojekt äussern können.

Welche Grenzen hat das Pilotprojekt?

Meier: Wir werden keine Zahl nennen können wie in der französischen Dunkelfeldstudie. Innerhalb eines Jahres können Sie keine quantitativen Resultate vorweisen.

* Monika Dommann ist Professorin für Geschichte der Neuzeit an der Universität Zürich. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören Verflechtungen der Alten und Neuen Welt (insbesondere Europa, Nordamerika, Karibik), Mediengeschichte, Wirtschaftsgeschichte, Rechtsgeschichte und Wissens- und Wissenschaftsgeschichte. Sie ist aus der katholischen Kirche ausgetreten.

Marietta Meier ist Titularprofessorin. Sie leitet seit 2019 den Bereich Studium und Lehre am Historischen Seminar der Universität Zürich. Von 2016–2019 hat sie das Forschungsprojekt «Medikamentenversuche in der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen» geleitet. Sie ist Mitglied der katholischen Kirche.


Marietta Meier (links) und Monika Dommann an der Medienkonferenz in Lausanne. | © Bernard Hallet
4. April 2022 | 19:21
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