Die Stadtbeobachter*innen an der Lesung in der Kirche St. Peter in Zürich.
Religion anders

Zürichs «heilige» Orte: ein literarischer Stadtrundgang

Von wegen junge Menschen kommunizieren nur mit Emojis und benutzen lieber ChatGPT, als selbst zu schreiben! Am Mittwochabend präsentierten die Stadtbeobachter*innen des Jungen Literaturlabors in der Kirche St. Peter Texte über Orte in Zürich, die ihnen und anderen «heilig» sind.

Natalie Fritz

«Ich will aufstehen und in der Stadt umhergehen auf den Gassen und Strassen und suchen, den meine Seele liebt», zitiert Richard Reich zu Beginn des Abends aus dem Hohelied. Dies sei zwar so nicht geplant gewesen, erklärt der Co-Leiter des Jungen Literaturlabors JULL, aber die Zeile beschreibe die Arbeit der Stadtbeobachter*innen sehr gut. Ausserdem passe der Verweis auf das Alte Testament zum Setting des Abends in einer Kirche.

Richard Reich, Co-Leiter des Jungen LiteraturLabors JULL.
Richard Reich, Co-Leiter des Jungen LiteraturLabors JULL.

Was macht einen Ort besonders oder «heilig»?

Im Rahmen des Buch- und Literaturfestivals «Zürich liest» trugen am Mittwoch die jungen Autorinnen und Autoren aus der Gruppe der Stadtbeobachter*innen im stimmungsvoll beleuchteten Chor der Kirche St. Peter ihre Texte vor. Darin beschreiben sie Zürich und seine Bewohnenden aus ihrer subjektiven Perspektive. In vielen Beiträgen geht es – manchmal subtil, manchmal weniger – um das Thema «heiliger Orte».

Gina Bucher, Autorin und Coachin Stadtbeobachter*innen.
Gina Bucher, Autorin und Coachin Stadtbeobachter*innen.

Gina Bucher, Autorin und Schreibcoachin der Stadtbeobachter*innen, erklärt, dass dies einerseits dem Ort der Lesung geschuldet sei, andererseits würden viele Texte in ihrer ureigenen Weise auf die Frage eingehen, was einen Ort «heilig» oder bedeutsam mache. Und so nehmen die literarischen Erkundungen der sieben jungen Stadtbeobachter*innen die Anwesenden mit auf eine berührende, humorvolle, nachdenkliche und anregende Reise zu bekannten und unbekannteren Ecken und (Lebens)Räumen Zürichs.

Von Kirchenumnutzung bis zu existenziellen Fragen in der Fallätsche

Der erste Beitrag führt zur Kirche Wipkingen, die sich in einer Phase der Umnutzung befindet. Der Autor stellt sich die Frage, ob durch das sinnbildliche Abstreifen der Tradition, die viele Menschen in ihren Lebensentwürfen einengt, die Kirche als Raum wieder zu einem Ort werden kann, wo man gerne Zeit verbringt; Ein belebter und deshalb «heiliger» Ort?!

Weiter geht es in atemlosem Tempo über den Friedhof Sihlfeld, zur Fallätsche, dieser markanten Steilwand ob Wollishofen bis zum Bücherbrocki. Wie Teile eines Mosaiks fügen sich die Sätze zu Bildern und erwecken die beschriebenen Orte vor dem inneren Auge zum Leben, setzen Assoziationen frei. Der Friedhof wird zum begehbaren Memento mori und am Steilhang wird darüber sinniert, was «Halt» bedeuten könnte.

Die jungen Stadtbeobachter*innen.
Die jungen Stadtbeobachter*innen.

Das Bücherbrocki und die Bärengasse – wo sich das JULL befindet – werden zu «Heimat», in der Bodega in der Münstergasse lernt die Autorin mit einem Augenzwickern und bei einem Glas Rioja erwachsen zu werden, im Opernhaus legt der Autor einen grossen Auftritt hin, als er zu spät in die Loge stolpert. Mal poetisch, mal kritisch und immer ganz persönlich eröffnen die Autorinnen und Autoren dem Publikum einen neuen Blick auf bisweilen Altbekanntes. Und sie laden die Zuhörenden dazu ein, sich zu fragen, welche Orte in der Stadt für sie «heilig» sind.

Darf man in der Kirche…?!

Die Stadtbeobachter*innen stellten die Auswahl der Texte für den Abend im Austausch mit Gina Bucher und den Veranstaltenden, dem Verein St. Peter, zusammen. Man habe sich dabei schon auch gefragt, welche Texte man in einer Kirche vortragen könne. Gina Bucher erklärt schmunzelnd: «Als bei der Probe das Wort ‹Scheisse› laut vorgelesen wurde, erstarrten die Autorinnen und Autoren kurz.» Die Verunsicherung darüber, ob man in einer Kirche Fäkalsprache benutzen dürfe, sei gross gewesen. Bucher konnte die Stadtbeobachter*innen jedoch beruhigen. «Es geht schliesslich darum, dass sie mit ihren Worten erzählen, sich nicht durch den sakralen Raum einschüchtern lassen», erklärt die Schreibcoachin.

Der Chor der Kirche St. Peter in Zürich kurz vor der Lesung.
Der Chor der Kirche St. Peter in Zürich kurz vor der Lesung.

Religion und Glaube waren während des Reformationsjubiläums übrigens schon einmal ein zentrales Thema der Stadtbeobachter*innen. Damals machten sie sich als Reformationsbeobachter*innen auf Spurensuche nach der Rolle von Religion. Nicht wenige seien dabei zu überraschenden Einsichten gekommen, stellt Bucher fest.

Das Literaturlabor als Ort des Austauschs und der Wünsche

Die jungen Autorinnen und Autoren wirken nach der Lesung erleichtert und erfreut – die Texte sind beim Publikum sehr gut angekommen. Sie habe erst zum zweiten Mal an einer Lesung teilgenommen, erklärt die 25-jährige Sabrina. Das Vortragen sei schön, aber noch wichtiger sei der Austausch mit anderen jungen Autorinnen und Autoren. «Es ist schön, mit anderen über eigene Texte zu diskutieren», bestätigt der 22-jährige Noah. Er hat, wie Sabrina, schon vor dem JULL geschrieben – aber nur für sich. Im geschützten Raum des Literaturlabors können die Autorinnen und Autoren nicht nur in Ruhe schreiben und an ihren Texten feilen, sondern auch Feedback einholen.

Sabrina und Noah geniessen den Austausch übers Schreiben.
Sabrina und Noah geniessen den Austausch übers Schreiben.

Sabrina erzählt, dass sie bei den Stadtbeobachter*innen eingestiegen sei, kurz vor Ausbruch der Pandemie. Während dieser Zeit haben die Autorinnen und Autoren das Projekt «Wunschorte» gestartet. Einmal pro Monat erkundete jemand aus dem Team der Stadtbeobachter*innen einen Ort für eine Person, die diesen, aufgrund von Covid oder anderer Motive, nicht selbst aufsuchen konnte. Die Texte – einige wurden auch im St. Peter vorgelesen – wurden in den Zeitungen der Lokalinfo-Gruppe veröffentlicht. Eine schöne Idee, die zu unerwarteten Einblicken führte – wahrscheinlich für Wünschende und Schreibende gleichermassen.

Die Lesung war ein Erfolg, die Stadtbeobachter*innen freuts.
Die Lesung war ein Erfolg, die Stadtbeobachter*innen freuts.

Ist der HB heilig?

Gerne hätte man an diesem Mittwoch noch mehr gehört, weitere bekannte Plätze neu gesehen. Auch wenn die literarische Reise durch Zürich über 25 Stationen, äh Texte, führte und fast so schnell getaktet war, wie der SBB-Fahrplan, so fühlte man sich nach einer Stunde Lesung nicht erschöpft, sondern belebt. Wohl nicht wenige der Anwesenden planten beim anschliessenden Apéro bereits den sonntäglichen Stadtrundgang im Geiste.

Auf dem Rückweg zum Hauptbahnhof tauchen dann plötzlich Erinnerungsfetzen an den letzten, der vorgetragenen Texte auf: «Heilig ist der Ort, wo du herkommst. Heilig der Ort, wo du hingehst. Der HB ist heilig…» Ein Gedanke, der beim alltäglichen Pendeln nicht unbedingt im Vordergrund steht, aber warum eigentlich nicht…

Das Buch- und Literaturfestival «Zürich liest» findet noch bis und mit Sonntagabend an verschiedenen Orten in der Stadt statt; hier geht es zum Programm.


Die Stadtbeobachter*innen an der Lesung in der Kirche St. Peter in Zürich. | © Jürg Meyer/nf
28. Oktober 2023 | 06:30
Lesezeit: ca. 4 Min.
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JULL – Junges Literaturlabor
Das Junge Literaturlabor JULL ist ein öffentlicher Schreibort and er Bärengasse in Zürich. Hier arbeiten Schulklassen zusammen mit Autorinnen und Autoren, schreiben Jugendliche und junge Erwachsene in losen Verbänden oder allein. Nebst Schreibräumen gibt es auch Tonstudie sowie eine Bühne und ein Café im JULL.