Vor der jüdischen Bäckerei in Zürich-Wiedikon: Ein orthodoxer Jude. Das Opfer des Messerattentats ist sein Kollege an der Talmudschule.
Schweiz

Zürcher Juden nach dem Messerattentat: «Das Sicherheitsgefühl in der Schweiz ist eingebrochen»

Der Schrecken nach dem Messerattentat vergangenen Samstag auf einen orthodoxen Juden in Zürich sitzt tief. Wie geht es den jüdischen Gläubigen Tage danach? Auf den ersten Blick scheint in Zürich-Wiedikon, wo viele orthodoxe Juden leben, die Normalität im Alltag wieder eingekehrt. Wer mit den Menschen spricht, spürt aber eine grosse Verunsicherung.

Wolfgang Holz

Man erkennt das eigene Gesicht auf dem Bildschirm der Gegensprechanlage. Nach dem Klingeln an der Pforte der Synagoge Agudas Achim in der Erikastrasse tut sich erst mal nichts. Dann ruft eine Stimme hinter der Tür: «Es ist offen!»

Aushang der Stadtpolizei Zürich in der Synagoge

Drinnen im Eingangsbereich steht ein orthodoxer Jude. Er studiert den Aushang der jüdischen Gemeinde und entdeckt dabei die Information der Stadtpolizei Zürich über das schreckliche Messerattentat des 15-jährigen.

Vor der Agudas Achim-Synagoge in Zürich-Wiedikon
Vor der Agudas Achim-Synagoge in Zürich-Wiedikon

Der muslimisch stämmige Jugendliche, der sich über die IS radikalisierte, hat bekanntlich einen 50-jährigen orthodoxen Juden am Samstagabend mit mehreren Messerstichen schwer verletzt und dabei gemäss Augenzeugen «Tod der Juden» geschrien.

«Riesiger Schock für uns»

«Diese Tat ist ein riesiger Schock für uns», sagt der Mann in der Synagoge. Er sei gerade aus Israel gekommen. Man habe dort sofort von dem Messerattentat in Zürich aus den Nachrichten erfahren.

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Wieder draussen vor der Tür der Synagoge ist gerade ein Talmudschüler auf dem Trottinett angekommen. «Das Opfer ist mein Lehrer, das hat mich schockiert», sagt der junge Mann betroffen. Jetzt, nachdem einige Tage vergangen seien, gehe es ihm schon besser. «Je weiter weg, desto besser», sagt er und lächelt. Er kenne Leute, die nun Angst haben.

Polizeiauto des Konsularschutzes

Wer sich an diesem Nachmittag in Zürich-Wiedikon in der Weststrasse aufhält, dem fällt nichts Besonderes auf. Es ist ruhig. Rund um die Synagoge spazieren orthodoxe Gläubige und gehen ihren Besorgungen nach. Nur in einer Seitenstrasse fällt das Polizeiauto des Konsularschutzes auf, das dort geparkt ist. Drei Sicherheitsbeamte unterhalten sich in einem Hauseingang. Fünf Minuten später sind sie wieder weg.

Die Polizei ist präsent in Wiedikon
Die Polizei ist präsent in Wiedikon

«Es gibt keinen Grund für diese Tat, das ist einfach nur Böse. Wir vertrauen weiter auf Gott.»

Jüdisch orthodoxer Familienvater

«Es ist im Augenblick schon schwer und traumatisch für uns», sagt ein junger Mann mit Kippa auf der Weststrasse. Er stamme aus Israel und lebe schon seit einigen Jahren mit seiner Familie und seinen Kindern in Zürich.

«Es ist ein grosser Schock für uns gewesen, weil wir uns bis jetzt in der Schweiz immer so sicher gefühlt haben», bekennt er. Es brauche nun dringend mehr Kontrollen der Polizei. Das Opfer des Messerattentats sei der Talmudlehrer seines Sohnes. «Es gibt keinen Grund für diese Tat, das ist einfach nur Böse. Wir vertrauen weiter auf Gott.»

Gesalzene Sonnenblumenkerne in "Koscher-City", dem jüdischen Supermarkt in Wiedikon
Gesalzene Sonnenblumenkerne in "Koscher-City", dem jüdischen Supermarkt in Wiedikon

Fast alles ruhig in «Koscher-City»

Auch in «Koscher-City», dem jüdischen Supermarkt an der Weststrasse mit koscheren Lebensmitteln, geht es sehr ruhig zu. Ein Ladenangestellter räumt Weinflaschen ins Regal. Eine Mutter mit einem Kleinkind im Kinderwagen lässt sich Zeit für ihren Einkauf. Die ältere Dame an der Kasse tippt entspannt auf ihrem Handy.

«Man hat keine Wahl: Das Leben muss weitergehen.»

Orthodoxer Ladenangestellter

Ein anderer Ladenmitarbeiter, der gerade die Kühltheke bestückt, versichert: «Ich habe jetzt keine Angst, aber ich kenne Menschen, die seit dem Attentat Angst haben.» Er schaue eben nun einfach genau, wenn er auf die Strasse gehe. «Man hat keine Wahl: Das Leben muss weitergehen.»

Leckereien und Brot in der jüdischen Bäckerei Ma'adan
Leckereien und Brot in der jüdischen Bäckerei Ma'adan

Gezuckerte Kugel mit Vanillecreme

Einige Strassenecken weiter, in der jüdischen Ma’adan-Bäckerei in der Schimmelstrasse, gehen viele Kunden ein und aus. Schülerinnen und Schüler gönnen sich etwas Süsses aus der Auslage. Ein junger Mann kauft sich eine gezuckerte Kugel mit Vanillecreme. «Unsere Kundinnen und Kunden sprechen hier nicht über das Attentat», sagt die freundliche Verkäuferin und reicht einem anderen Kunden ein Bejgli aus dem Fenster.

«Seit 3000 Jahren werden wir, das jüdische Volk, von anderen geplagt.»

Orthodoxer Jude, Moses Hershtein

Vor der Ladentür nimmt ein orthodoxer Jude Stellung zu dem furchtbaren Messeranschlag. «Seit 3000 Jahren werden wir, das jüdische Volk, von anderen geplagt. Das kann man nicht erklären, und dagegen kann man nichts machen», sagt Moses Hershtein. Das Opfer sei sein Kollege an der Talmudschule in der Manessestrasse. «Ich habe keine Angst, inzwischen geht es schon wieder besser.»

Vor der jüdischen Bäckerei in Zürich-Wiedikon: Ein orthodoxer Jude. Das Opfer des Messerattentats ist sein Kollege an der Talmudschule.
Vor der jüdischen Bäckerei in Zürich-Wiedikon: Ein orthodoxer Jude. Das Opfer des Messerattentats ist sein Kollege an der Talmudschule.

Aus dem Auto heraus angepöbelt

Ein orthodoxer Jude, der die Birmensdorfer Strasse entlanggeht, resümiert die Dramatik der Situation für die jüdische Bevölkerung. Er stamme aus Berlin und sei eigentlich Konflikte gewöhnt. Auch daran, dass er manchmal aus Autos heraus, die Richtung Autobahn unterwegs seien, als Jude angeschrien und angepöbelt werde.

«Das Schlimme an der jetzigen Situation ist, dass das Sicherheitsgefühl eingebrochen ist.»

Orthodoxer Jude

«Das Schlimme an der jetzigen Situation ist, dass das Sicherheitsgefühl eingebrochen ist», erklärt er. Dabei sei er ja extra in die Schweiz gekommen, weil das jüdische Leben hier freier und sicherer sei als in Deutschland. Um gewisse arabische Gruppen mache er aber inzwischen sicherheitshalber einen grossen Bogen. Das Attentat habe gezeigt, dass so eine Gewalttat inzwischen überall auf der Welt geschehen könne. Auch in der Schweiz.

Orthodoxe Juden in der Zelgstrasse
Orthodoxe Juden in der Zelgstrasse

«Krieg in Gaza gewinnen»

«Wir müssen deshalb auch den Krieg in Gaza gegen die Hamas-Terroristen gewinnen, sonst gibt es für das israelische Volk künftig keine Sicherheit mehr», ist der orthodoxe Jude überzeugt. Einen echten Frieden in Palästina zwischen Christen, Muslimen und Juden könnte er sich durchaus vorstellen – in einem gemeinsamen demokratischen Staat wie die Schweiz es ist. «Doch dafür stehen die Chancen derzeit ziemlich schlecht.»


Vor der jüdischen Bäckerei in Zürich-Wiedikon: Ein orthodoxer Jude. Das Opfer des Messerattentats ist sein Kollege an der Talmudschule. | © Wolfgang Holz
6. März 2024 | 16:30
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