Orthodox-jüdische Gäste in Davos
Schweiz

Orthodoxe Gäste versichern: «Davos ist nicht antisemitisch»

Seit sich ein Bergrestaurant Mitte Februar weigerte, jüdisch-orthodoxen Gästen Schlitten auszuleihen, wirkt die Winteridylle in Davos gestört. Ressentiments und Spannungen sind aufgeflammt. Ein Talmud-Schüler wurde auf offener Strasse angegangen und beschimpft. Dabei ist der Bündner Luftkurort seit dem 19. Jahrhundert eine beliebte Feriendestination für orthodox-jüdische Touristen. Was ist los in Davos? Eine Spurensuche im Schneetreiben.

Wolfgang Holz

Wie ein Stern strahlen die grünen Linien rund ums Weissfluhjoch ins Tal. So zeigt es der Monitor an der Fassade der Parsennbahn an. Skitouristen strömen trotz schlechter Sicht freudig bergwärts, um ihre Spuren in den frischen Pulverschnee zu setzen. Kein Wunder: Über Nacht hat es meterhoch geschneit, und auch an diesem Morgen stürmen die weissen Flocken vom wolkenverhangenen Himmel.

Hebräischer Schriftzug

Die Parsennbahn heisst israelische Gäste explizit willkommen – wie der hebräische Schriftzug an der Wand im Eingang unter den zahlreichen anderen europäischen Sprachen beweist. «Wir haben immer wieder orthodoxe jüdische Gäste, vor allem im Sommer», bestätigt der Bergbahnangestellte mit Wiener Akzent an der Kasse gegenüber kath.ch.

Auch auf der Parsenn sind jüdische Gäste willkommen: Hebräischer Schriftzug in der Bergbahn.
Auch auf der Parsenn sind jüdische Gäste willkommen: Hebräischer Schriftzug in der Bergbahn.

«Zwar grüssen sie oft nicht und bedanken sich nicht. Und Frauenrollen akzeptieren sie offensichtlich auch nicht», sagt er. Wenn seine Kollegin an der Kasse sitze, komme es ab und zu Diskussionen. «Man merkt, dass sich orthodoxe Juden vor allem in ihren Kreisen bewegen und deshalb offenbar Schwierigkeiten haben im Umgang mit anderen Gesellschaften. Aber ja, die meisten der jüdischen Gäste sind völlig ok.» Sagts und lächelt entspannt.

Orthodox Gäste haben Tradition in Davos

Rund 4000 jüdisch-orthodoxe Gäste haben letztes Jahr in Davos ihre Ferien verbracht. Davos ist unter ihnen beliebt. Der Bündner Ort verfügt über die entsprechende Infrastruktur. Es gibt unter anderem Gebetsräume und ein rituelles Bad.

Die ersten jüdischen Gäste kamen ab 1870 als Lungenpatienten nach Davos. Um die Jahrhundertwende entstanden orthodox geführte Pensionen. 1911 öffnete das Etania, die erste jüdische Lungenheilstätte. Der jüdische Friedhof oberhalb von Davos Islen, 1931 als Teil des Waldfriedhofs vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund eingerichtet, zeugt von der langen Geschichte jüdischen Lebens und Sterbens in Davos.  Vor allem im Sommer ist Davos eine wichtige Urlaubsdestination für orthodoxe Juden.

Koschere Lebensmittel gibt es auch im Winter im Eurospar-Supermarkt in Davos-Platz.
Koschere Lebensmittel gibt es auch im Winter im Eurospar-Supermarkt in Davos-Platz.

Davon zeugt auch das koschere Lebensmittelangebot in den Supermärkten in Davos. Im Eurospar-Supermarkt in Davos-Platz gibt es sogar im Winter koschere Produkte, importiert aus Israel. Reiseintopf Oshplov Style etwa. Oder Shneiders Vanilleschnitten.

Koschere Lebensmittel in Supermärkten

«Im Sommer sind es ganze Regalreihen mit koscheren Lebensmitteln – Brot, Milch, Fleisch», erklärt spontan die Dame aus der Metzgerei. Sie habe «liebe Kunden» unter den orthodoxen Gästen, für die sie im Sommer immer Fisch besorge. «Probleme gibt es manchmal schon, weil es eben eine komplizierte Kultur ist und es inzwischen einfach sehr viele orthodoxe Gäste geworden sind.»

Tief verschneit: Davos
Tief verschneit: Davos

Aber das habe nichts mit Antisemitismus zu tun. Das gelte auch für andere Gruppierungen: «Etwa, wenn es zu viele Deutsche gibt.» Ihr Kollege, der gerade Kartons einsammelt, stimmt ihr zu. «Wir verdienen an den jüdischen orthodoxen Gästen gut. Wir haben hin und wieder eher Probleme mit anderen Gruppierungen – etwa, wenn arrogante, junge Chauffeure während des WEF zu uns schlecht gelaunt in den Laden kommen und das Personal anschnauzen.»

«Einmal mehr hat Davos einen Antisemitismus-Skandal»

Doch zurück zu den orthodoxen Juden in Davos. Bekanntlich wurden Antisemitismus-Vorwürfe laut, nachdem das Bergrestaurant Pischa Mitte Februar auf einem in Hebräisch verfassten Aushang jüdischen Gästen mitteilte, ihnen künftig keine Schlitten und Sportgeräte mehr auszuleihen.

Das Bergrestaurant rechtfertigte die Entscheidung mit negativen Erfahrungen und fehlendem Respekt gegenüber den Regeln. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) verurteilte den Vorfall als antisemitisch und diskriminierend. Auch wenn das Unternehmen vereinzelte, schlechte Erfahrungen gemacht haben sollte, sei das kein Grund dafür, diese zu pauschalisieren. Und die deutsche «Jüdische Allgemeine» schrieb vor kurzem: «Einmal mehr hat Davos einen Antisemitismus-Skandal. Offensichtlich stört dies aber nur die wenigsten.»

An der Promenade in Davos-Platz
An der Promenade in Davos-Platz

«Juden attackieren uns»

Andererseits ist es seit Jahren kein Geheimnis, dass nicht nur durchglühte, «koscher gemachte» Herdplatten und verstopfte Toiletten in Ferienwohnungen, verursacht von einzelnen orthodoxen Juden infolge des Sabbatgebots, immer wieder zu Ärgernissen und Unverständnis unter den Einheimischen führen. Sie regen sich auch auf, wenn von orthodoxen Gästen Abfall weggeworfen wird oder in Bergrestaurants von ihnen nichts ausser Mineralwasser konsumiert wird. Die NZZ berichtete zuletzt im August 2023 über die Konflikte.

Ein Leserbrief in der jüngsten Ausgabe der «Davoser Zeitung» trägt gar die Überschrift: «Juden attackieren uns». Der Autor schreibt, dass «sich die Probleme mit den jüdischen Gästen nicht geändert haben.»  Und führt das Beispiel einer Davoser Mutter an, die mit ihren Kindern von jüdischen Müttern vom Spielplatz vertrieben worden sei. Im Vergleich zu vor 25 Jahren habe sich die Zahl der orthodoxen Juden in Davos enorm vervielfacht.

«Dabei spielen die Juden ihr eigenes Fehlverhalten konsequent herunter, reden es klein, negieren es sogar. Während sie Einzelfälle, zum Beispiel auf Seiten der Einheimischen, zu Weltdramen hochstilisieren», so der Leserbrief weiter. Es gehe nicht um die Juden als solche, sondern um das immer wieder inakzeptable Verhalten einzelner Menschen.

Talmud-Schule in Davos
Talmud-Schule in Davos

Ein junger Talmud-Schüler erklärt sich

Was sagen eigentlich jüdisch orthodoxe Gäste zur neuerdings wieder angespannten Situation in Davos? Vor der Talmud-Schule in der Talstrasse wirkt an diesem trüben, verschneiten Morgen alles sehr friedlich. Zwei Rabbis ziehen gerade ihre Koffer im Schneegestöber übers Trottoir, ihre Hüte in Plastikfolie eingepackt – zum Schutz gegen die Flocken und die Nässe. Sie grüssen den Passanten freundlich. Eine jüdisch orthodoxe Grossfamilie aus Zürich ist gerade angekommen und entlädt den Wagen. Ein junger Mann mit Kippa schippt den Schnee aus der Einfahrt weg. Andere Talmudschüler kommen neugierig an die Tür.

«Ja, das mit dem Pischa-Bergrestaurant habe ich als antisemitisch empfunden», sagt ein Talmud-Schüler aus London auf Englisch offen gegenüber kath.ch. «Davos ist deswegen aber nicht antisemitisch», ist er überzeugt. Er könne nachvollziehen, dass Menschen, die sich in der jüdischen Kultur nicht so auskennen, sich ob des Verhaltens von manchen orthodoxen Juden befremdet fühlen könnten. «Wenn sich jüdische Gäste teils respektlos verhalten haben, waren das aber sicher nur Einzelfälle», sagt der junge Mann. Ihm werde manchmal auf der Strasse nachgeschrien. «Das macht mir aber nichts aus.»

Orthodox-jüdische Gäste im Hotel Cresta in Davos.
Orthodox-jüdische Gäste im Hotel Cresta in Davos.

Ein ähnlicher Vorfall erschütterte die jüdische Gemeinde vor kurzem in Davos: Ein 20-Jähriger aus Zürich, der zurzeit die Talmud-Schule besucht, wurde von einem Mann beschimpft. Der junge Mann war gerade aus einem Bus gestiegen, als ein Passant ihn beleidigte: Juden seien in Davos nicht erwünscht, fluchte der Angreifer.

Jüdische Gäste im Hotel Cresta

Im jüdischen Hotel Cresta, wenige Gehminuten von der Talmud-Schule entfernt, sitzen gerade ein jüdischer Immobilienhändler aus London und sein Bruder mit ihren Familien in der Lobby. Sie unterhalten sich mit einem Neuankömmling aus Israel. Viele kleine Kinder tollen herum. Es herrscht eine entspannte Atmosphäre.

«Wenn ich auf der Strasse bin, schauen sich manche Leute nach mir um – das empfinde ich als unangenehm», sagt der Tourist aus Israel. Der Londoner Immobilienhändler, der in Zürich aufgewachsen ist und fliessend deutsch spricht, übersetzt für ihn. «Dabei habe ich gedacht, die Schweiz ist ein sicheres Land für Juden.» Dann steht er plötzlich auf, holt Schokolade hervor und bietet spontan Kaffee an.

«Wir haben unsere Bibel und den Sabbat»

Die "Mini-Synagoge" im Hotel Cresta: Hinter dem Vorhang ist die Thora.
Die "Mini-Synagoge" im Hotel Cresta: Hinter dem Vorhang ist die Thora.

«Wir sind eben ein Volk, das sehr für sich lebt», versucht der britische Jude die Verhaltensweisen von jüdisch orthodoxen Gästen gegenüber kath.ch zu erklären. «Wir heiraten auch nur unter uns. Ich habe manchmal den Eindruck, dass manche Leute neidisch auf uns sind, weil wir eben noch ein Volk sind», sagt er. «Das Hauptproblem ist wohl, dass wir orthodoxen Juden unsere Bibel haben und den Sabbat.» Der Sinn des Lebens sei, Gott zu dienen.

Dabei gebe es viele Untergruppen unter den orthodoxen Juden, schildert der Londoner Immobilienhändler weiter. «Es gibt orthodoxe Juden, ultraorthodoxe Juden und ultraultraorthodoxe Juden. Und wenn solche die Herdplatten in einer Ferienwohnung zerstören, müssen sie dafür zu hundert Prozent bezahlen», ist er überzeugt. «Wenn ich eine Wohnung miete, respektiere ich natürlich die Regeln.» Davos sei für jüdisch orthodoxe Gäste aus aller Welt als Ferienort sehr attraktiv, weil es nicht weit vom Flughafen Zürich entfernt sei.

«Davos is the best»

So weit so gut. Aber ist Davos jetzt aus Sicht der orthodoxen Touristen antisemitisch oder nicht – nicht zuletzt aufgrund des Pischa-Vorfalls? Die drei Männer schauen sich an und sind sich einig: «Davos ist nicht antisemitisch», sagen sie. Die Ehefrau des Immobilienhändlers, die nach ihren Kindern schaut, streckt spontan den Daumen in die Höhe und meint: «Davos is the best». Danach führt ihr Ehemann den Journalisten in die «Mini-Synagoge» im Frühstückszimmer des Hotels, wo hinter einem Teppich die Thora aufbewahrt wird.

Anzeige ↓ Anzeige ↑

Bleibt zu fragen, was man tun könnte, um das Verhältnis zwischen den orthodoxen Gästen und den Einheimischen aufzupolieren. Der Gast aus Israel deutet es an – indem er seinen Mund mit den Fingern zu einem breiten Lächeln zieht.

«Es braucht mehr Kommunikation»

Einer ähnlichen Meinung ist am Abend im Zug nach Landquart ein Pendler. «Es braucht einfach mehr Kommunikation und Dialog zwischen den orthodoxen Gästen und den Einheimischen, damit sich die unterschiedlichen Kulturen besser verstehen lernen.»

*Da einige Personen nicht mit Namen genannt werden wollten, haben wir auf Namensnennungen ganz verzichtet. Die Namen sind der Redaktion bekannt.


Orthodox-jüdische Gäste in Davos | © Wolfgang Holz
26. Februar 2024 | 16:00
Lesezeit: ca. 6 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!