Arbeit an den "Zehn Geboten, Teil 2" in der St. Galler Altstadt.
Schweiz

Zehn Gebote: Theologin antwortet Riklin-Brüdern

Die Zehn Gebote zwischen Kunst und Kommerz: ein Projekt der Riklin-Brüder gibt zu reden. «Einen konstruktiven Beitrag zur Religionskritik kann ich nicht ausmachen», schreibt Veronika Bachmann* in einem Gastbeitrag.

Die Künstler-Zwillinge Frank und Patrik Riklin haben auf dem Klosterplatz in St. Gallen «Zehn Gebote» in Sandsteintafeln gemeisselt. Statt «Du sollst keine anderen Götter neben mir haben» oder «Du sollst nicht töten» lauten die Zehn Gebote der Riklin-Brüder:

I. Glaube an die Dringlichkeit deiner Gedanken.
II. Vertraue dem Verrückten und hinterfrage das Gewöhnliche.
III. Brich ein, damit andere ausbrechen können.
IV. Wage dich in neue Gebiete vor und überrasche dich selbst.
V. Schaffe neue Realitäten und lasse sie Wirklichkeit werden.
VI. Sei überzeugt – und du wirst keinen Mut brauchen.
VII. Ertrage Kritik, da sie den Diskurs antreibt.
VIII. Akzeptiere Antagonismus – es ist ein Zeichen dafür, dass etwas Neues geschieht.
IX. Suche nicht nach Kunden, finde Komplizen.
X. Halte Prozesse am Laufen, auch wenn sie scheinbar enden.
(Übersetzung aus dem Englischen)

Kunst oder Kommerz? Wahrscheinlich beides. Die Riklin-Brüder.
Kunst oder Kommerz? Wahrscheinlich beides. Die Riklin-Brüder.

Der Titel der Aktion und die Materialität (Text in Stein gehauen) zeigen an, dass sich die Künstler bewusst an das anlehnen, was man sich gemeinhin unter den Zehn Geboten vorstellt. Wie konkret sie die traditionellen Zehn Gebote vor Augen hatten und wie stark sie sich mit dem biblischen Befund dazu beschäftigt haben, lässt sich von der Kunstaktion her nicht beurteilen.

Firmenideologie verbreiten

Mir scheint eher, dass die Aktion nur oberflächlich an eine diffuse Vorstellung von «Zehn Grundregeln» anknüpft. Eine tiefere inhaltliche Auseinandersetzung mit den traditionellen Zehn Geboten, die sich von der Bibel ableiten (Exodus 20,2-17 und Deuteronomium 5,6-21), ist nicht erkennbar, weder abgrenzend oder anknüpfend.

Dagegen legt die Homepage von fyooz, dem Blockchain-Unternehmen, das die Aktion mitlanciert, offen, dass jeder Satz, den die Aktion zum neuen Gebot erhebt, einem ihrer Firmenslogans entspricht. Weder die alttestamentlichen Weisungen der Bücher der Tora noch die traditionellen «Zehn Gebote» wollen eine Firmenideologie verbreiten.

Symbol von «Menschlichkeit»

Biblisch geht es bei den zahlreichen Geboten, die Gott seinem Volk am Sinai offenbart – dazu gehören weit mehr als die sogenannten Zehn Gebote –, um die Frage, wie gutes Zusammenleben möglich ist. Dass Gottesliebe nicht ohne Nächstenliebe geht, ist eine der Pointen davon, wobei zur Nächstenliebe auch das Gebot gehört, mit Fremden gut umzugehen (vgl. Levitikus 19,34).

Im Judentum und im Christentum begann man die Zehn Gebote aus Exodus 20 und Deuteronomium 5 als universale sittliche Grundregeln zu deuten, womit sie zu einem Symbol von «Menschlichkeit» werden konnten.

Assoziativer Umgang mit der Tradition

Heute mögen die Zehn Gebote in gewissen Kreisen plakativ als Symbol einer altbackenen, überholten Religion gelten. Da die Gebote der Aktion ohne theologischen Bezug formuliert sind, könnten sie somit eventuell eine anti-religiöse Stossrichtung verfolgen. Aber auch einen konstruktiven künstlerischen Beitrag zur Religionskritik, der in der heutigen Zeit durchaus spannend wäre, kann ich nicht ausmachen.

Auch bei den Steinblöcken geht die Kunstaktion sehr assoziativ mit der traditionellen Vorstellung um. Traditionell stellt man sich zwei Steintafeln vor, auf der die Zehn Gebote eingemeisselt sind. Die einen Religionstraditionen (zum Beispiel jüdisch und christlich-reformiert) platzieren auf jeder Tafel fünf Gebote, andere (zum Beispiel christlich-lutherisch und römisch-katholisch) auf der ersten Tafel drei, auf der zweiten Tafel die restlichen sieben Gebote.

Beliebt in der Ratgeberliteratur

Jedem Gebot eine eigene Tafel zu widmen, wäre im Alten Orient eine Ressourcenverschwendung gewesen. Biblisch ist denn auch die Rede davon, dass die Tafeln vor- und rückseitig beschrieben waren (vgl. Exodus 32,15), analog zu den keilschriftlichen Gesetzestafeln, die man von den grossen Nachbarkulturen kannte.

Die zehn Gebote – ganz klassisch.
Die zehn Gebote – ganz klassisch.

Im kommerziellen Bereich sind die «Zehn Gebote» schon längst zu einem griffigen Konzept geworden, um – in welchem Bereich auch immer – wesentliche Grundsätze zu formulieren (vgl. die Ratgeberliteratur, unter der man zum Beispiel die «Zehn Gebote für das philosophische Schreiben» oder die «Zehn Gebote des gesunden Menschenverstandes» findet).

Beliebtes Motiv in der Kunst

Auch in der Kunst (literarisch, bildnerisch…) gibt es natürlich bereits zahlreiche Werke, die sich enger oder loser mit den «Zehn Geboten» auseinandersetzen. Interessant finde ich etwa die Dekalog-Filmreihe des Regisseurs Krysztof Kieslowski (1988–89), die 2015 unter der Regie von Karin Henkel äusserst gelungen im Schiffbau Zürich als Theaterstück aufgeführt wurde.

Diesen Frühling versuchte sich am Schauspielhaus Zürich Regisseur Christopher Rüping am gleichen Stoff – bewusst unter Corona-Bedingungen. Um künstlerisch zu überzeugen, müsste die Aktion «10 Commandments Vol. 2» mit solchen Projekten mithalten können.

Kunst kann zur Farce werden

Hinzu kommt aus meiner Warte: Wer sich künstlerisch daran macht, mit grossen Traditionen in einen Dialog zu treten, sollte diese Traditionen kennen. Fehlt dieses Hintergrundwissen, besteht die Gefahr, dass die sogenannte Kunst zur Farce wird.

«Da waren’s nur noch zehn …?» – Beitrag der Autorin zu den Tora-Geboten auf reli.ch

* Veronika Bachmann ist Dozentin für Altes Testament und Bibeldidaktik am Religionspädagogischen Institut (RPI) der Theologischen Fakultät Luzern.


Arbeit an den «Zehn Geboten, Teil 2» in der St. Galler Altstadt. | © Screenshot Livestream
30. Juli 2020 | 06:30
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