Wolfgang Bürgstein ist Generalsekretär von Justitia et Pax Schweiz
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Wolfgang Bürgstein: «Ich bin für militärische Unterstützung»

Der Generalsekretär von Justitia et Pax begeht den zweiten Jahrestag der russischen Invasion mit «einem Gefühl der Wut». Die Situation der Ukraine haben bei ihm «schmerzhafte Veränderungsprozesse» in Gang gesetzt, sagt Wolfgang Bürgstein. Der überzeugte Pazifist sagt: «Heute stehen wir vor der Realität, dass wir mit mehr Waffen einen Waffenstillstand erzwingen müssen.» Einen Widerspruch zur Bergpredigt sieht er nicht.

Annalena Müller

Wolfgang Bürgstein (62) ist Generalsekretär der Schweizer Kommission «Justitia et Pax». Die Kommission, eine Art katholischer Think Tank zu sozialen, politischen, wirtschaftlichen und ökologischen Fragen, untersteht der Schweizer Bischofskonferenz (SBK). Im Gegensatz zu anderen Nationalkommissionen haben die Schweizer Kommission und die SBK bisher kein Statement zum Krieg gegen die Ukraine veröffentlicht. Bürgsteins Antworten geben daher seine persönlichen Ansichten wieder.

Heute jährt sich die russische Invasion der Ukraine zum zweiten Mal. Mit welchen Gefühlen begehen Sie den heutigen Tag, Herr Bürgstein?

Wolfgang Bürgstein*: Die Gefühle der Ohnmacht, des Unverständnisses und auch der Verzweiflung am Beginn des Krieges sind mittlerweile einem Gefühl der Wut gewichen. Aufgrund des Krieges habe ich in den letzten zwei Jahren meine eigenen friedensethischen Überlegungen aus früheren Zeiten grundlegend infrage gestellt.

Wie äussert sich das?

Bürgstein: Während meiner Studienzeit, Mitte der 1980er Jahre, habe ich aus tiefer Überzeugung «Frieden schaffen mit weniger Waffen» skandiert und die Zufahrt zum Pershing Lager in Mutlangen (D) blockiert. Heute stehen wir vor der Realität, dass wir mit mehr Waffen einen Waffenstillstand erzwingen müssen. Ein Waffenstillstand ist noch kein gerechter Friede. Aber wir müssen dem Morden, Sterben, Vergewaltigen und den täglichen Bombardements so schnell wie möglich ein Ende bereiten. Und das geht nur mit militärischen Mitteln. Ich sehe keine Gesprächsbereitschaft auf russischer Seite, die auch für die Ukraine akzeptabel wäre.

Heinrich Boell und andere Friedensbewegte demonstrieren 1983 vor dem US-Militärdepit in Mutlangen.
Heinrich Boell und andere Friedensbewegte demonstrieren 1983 vor dem US-Militärdepit in Mutlangen.

Sie sprechen sich also für Waffenlieferungen an die Ukraine aus?

Bürgstein: Ich persönlich bin für eine entschiedene militärische Unterstützung. Die deutsche Kommission von Justitia und Pax spricht von «klugen Waffenlieferungen». Das heisst, man muss im Einzelfall unterscheiden und entscheiden, welche Waffensysteme geliefert werden. Dafür fehlt mir sicherlich die Kompetenz.

«Ich sehe im Moment keine Alternative zu Waffenlieferungen.»

Aber ich sehe im Moment keine, auch ethisch begründete, Alternative zu diesem Weg. Die luxemburgische Kommission vertritt eine noch schärfere Position:  Sie fordert, dass schleunigst mehr Waffen geliefert werden müssen. Und zwar so lange, bis die russische Seite versteht, dass es so nicht weitergehen kann.

Das Christentum steht für Liebe und versteht sich als Friedensreligion. Würden Sie zustimmen, dass die Lehre der Bergpredigt in der Ukraine an ihre Grenzen stösst?

Bürgstein: Nein, überhaupt nicht! Die Frage ist, wie man die Bergpredigt versteht. In der Bergpredigt geht es um die Vision einer grösseren Gerechtigkeit. Eine Vision, die sich abkehrt vom alttestamentlichen «Auge um Auge, Zahn um Zahn». Die sich aber deshalb nicht auf ein «wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die linke hin» reduzieren lässt.

«Die Bergpredigt ist nicht zu verwechseln mit Zynismus und Naivität.»

Denjenigen oder diejenige möchte ich sehen, der die Position eines radikalen Pazifismus vertritt gegenüber der Witwe eines ukrainischen Soldaten oder einer Mutter, die im Bombardement ihr Kind verloren hat. Die Bergpredigt ist nicht zu verwechseln mit Zynismus und Naivität, sondern mit der Idee einer grösseren Gerechtigkeit. Natürlich ist Gerechtigkeit nicht ohne Frieden zu bekommen – aber Friede ohne Gerechtigkeit eben auch nicht.

Der Katechismus der katholischen Kirche kennt die Lehre vom gerechten Krieg. Kirchenhistoriker Hubert Wolf hat kürzlich darauf hingewiesen, die Situation der Ukraine erfülle alle Kriterien eines gerechten Verteidigungskrieges. Warum tun wir uns als Katholiken und Katholikinnen so schwer, die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf zu unterstützen?

Bürgstein: Ich kenne kaum jemand, der den Angriff Russlands auf die Ukraine nicht verurteilt. Aber wir tun uns in der Tat schwer, die Ukraine mit mehr als Worten zu unterstützen. Unser Kollege von Justitia et Pax in Lemberg/Lwiw, betont:

«Wir haben drei Forderungen an den Westen. Bitte, bitte unterstützt uns humanitär. Wir schaffen es nicht alleine. Unterstützt uns politisch und finanziell. Wir schaffen es nicht allein. Aber bitte unterstützt uns auch mit Waffen und Munition. Wir schaffen es nicht alleine.»

Der Katechismus der Katholischen Kirche, das kürzere Kompendium und "Youcat"
Der Katechismus der Katholischen Kirche, das kürzere Kompendium und "Youcat"

Das ist natürlich für friedensbewegte Christinnen und Christen eine Herausforderung. Auch für mich ist das eine grosse Herausforderung, die ich nicht einfach locker dahinrede. Dahinter stecken schmerzhafte Veränderungsprozesse auch auf persönlicher Ebene. In der Vergangenheit bin ich immer davon ausgegangen, dass die Kraft des besseren Arguments zählt. Und dass die Botschaft des Völkerrechts und die Idee der regelbasierten Ordnung überall verstanden wurde. Aber die Welt ist heute eine andere. Vor dieser Realität die Augen zu verschliessen, ist unmoralisch. Und das hat auch Konsequenzen für unser friedensethisches Engagement.

«Völkerrecht und Katechismus sind klar: Man hat das Recht auf Selbstverteidigung.»

Wie meinen Sie das?

Bürgstein: Sowohl im Völkerrecht als auch im Katechismus ist klar gesagt: Man hat das Recht auf Selbstverteidigung. Und ich denke, es ist im Fall Russland-Ukraine so klar, wer Ross und wer Reiter ist; wer der Angreifer und wer der Angegriffene ist. Und wir sollten uns jetzt nicht in solchen Fragen verheddern, ob nicht die NATO, die USA oder sonst wer eine Mitschuld daran trägt, dass sich Putin bedroht fühlt. Aus meiner ethischen Perspektive gibt es keine Rechtfertigung für den Angriffskrieg Russlands.

Im November wird in den USA gewählt. Sollte Donald Trump gewinnen, könnte das verheerende Folgen für die internationale Sicherheit und ganz konkret für die Ukraine haben, die militärisch von US-amerikanischer Unterstützung abhängt. Beschäftigen sich Justitia et Pax und SBK bereits mit einem solchen Szenario und bereiten sie sich darauf vor?

Bürgstein: Selbstverständlich beschäftigen wir uns als Justitia et Pax mit dieser möglichen Entwicklung. Und wir versuchen, uns darauf intellektuell und argumentativ soweit vorzubereiten, wie eben möglich. Ich glaube im Übrigen, dass ein Sieg Trumps nicht nur gravierende Folgen für die Ukraine haben würde, sondern für die globale Sicherheitsarchitektur und vor allem für Europa. Europa und auch die Schweiz stehen hier vor einer immensen Herausforderung. Die Grundlage unserer Neutralität ist das Völkerrecht. Müsste es nicht in unserem ureigenen Interesse sein, gegenüber einer Missachtung des Völkerrechts nicht abseits zu stehen?

Donald Trump 2017 im Vatikan
Donald Trump 2017 im Vatikan

Was wünschen Sie sich von der Schweiz für die Ukraine?

Bürgstein: Persönlich wünsche ich mir, dass die Schweiz das Thema engagierter angeht. Dass sie sich ihrer Verantwortung stärker bewusst wird. Es ist meine tiefe Überzeugung, dass es kein reines Abseitsstehen geben darf. Wir müssen in der Schweiz mehr über die ethische Perspektive gegenüber Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und Missachtung des Völkerrechts diskutieren, anstelle uns hinter der Neutralität zu verstecken, unter der jeder und jede etwas anderes versteht.

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Was wünschen Sie sich persönlich für die Ukraine?

Bürgstein: Ich wünsche mir einen Waffenstillstand, lieber gestern als heute. Einen Waffenstillstand als Basis für Frieden und Gerechtigkeit. Wichtig ist das Wort Gerechtigkeit. Kann es gerecht sein angesichts der Opfer, die die Ukraine erbracht hat? Die die Bevölkerung der Ukraine bis heute jeden Tag erbringt. Auch da stehen wir vor riesigen Herausforderungen. Aber ich glaube, das Allerwichtigste ist, so rasch wie möglich diesem Sterben und diesem Elend ein Ende zu bereiten. Darf ich noch etwas Persönliches anfügen, das mich sehr beschäftigt?

Gerne.

Bürgstein: Mein Kollege, Andriy Kostyuk, Dozent an der Katholischen Universität in Lemberg/Lwiw und Mitglied der ukrainischen Justitia et Pax-Kommission, hat uns letzte Woche von den unvorstellbaren Zuständen in den Schützengräben berichtet. Dort herrscht neben allem eine Mäuseplage. Wenn sich die Soldaten nachts zum Schlafen hinlegen, passiert es, dass ihnen Mäuse in den Mund klettern. Das klingt nach einer Szene aus einem Horrorfilm, aber es ist die Realität, mit der sich die Soldaten dort jeden Tag konfrontiert sehen. Zusätzlich zur Kälte, dem Bombardement und dem Munitionsmangel.

*Dr. Wolfgang Bürgstein (62) ist Ökonom und Theologe. Für die Kommission Justitia et Pax arbeitet er seit 2003. Er ist deren Generalsekretär. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Sozial- und Wirtschaftsethik, Gesundheitspolitik sowie Fragen der Menschenrechte.


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24. Februar 2024 | 09:00
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