Karin Iten
Schweiz

«Wer zu nah kommt, geht zu weit» – Karin Iten tritt am Aktionstag der Schweizer Hochschulen gegen sexuelle Belästigung auf

Die Schweizer Hochschulen haben für heute zu einem nationalen Aktionstag gegen sexuelle Belästigung aufgerufen. Ziel: einen Mentalitätswandel herbeizuführen. Die Theologische Hochschule Chur lädt zu einem Podium über Missbrauch und Prävention in kirchlichen Institutionen.

Annalena Müller

Das Thema sexuelle Belästigung ist oft subtil. Die Grenzen sind fliessend. «Wann sage ich stopp? Wann ist es zu spät? Welche Konsequenzen hat es, wenn ich mich wehre?» Mit solchen Fragen quälen sich Betroffene. Und oftmals schweigen sie. Aus Scham. Und vor allem aus Angst. Aber seit einigen Jahren hat sich die Stimmung geändert. Immer mehr Opfer trauen sich zu sprechen.

Sexuelle Belästigung an Hochschulen verbreitet

Wo das Machtgefälle gross ist, ist Missbrauch selten weit. Das gilt nicht nur für die Kirche. Auch Hochschulen produzieren immer wieder Skandale. Die wenigsten sind so abstrus wie die Göttinger Fälle, über die ZEIT Campus letztes Jahr berichtete. Hier schlug ein Professor seine Doktorandin regelmässig mit einem Bambusstock. Ein anderer masturbierte vor einer Studentin.

Junger Mann, zutiefst betrübt
Junger Mann, zutiefst betrübt

Das sind keine Einzelfälle. In einer repräsentativen Umfrage von 2022 in Deutschland gaben 31 Prozent der Befragten an, sexuelle Belästigung an der Uni erlebt zu haben. Die Situation in der Schweiz dürfte ähnlich sein. Denn die Strukturen sind die gleichen. Das haben die hiesigen Hochschulen und Forschungsinstitute erkannt. Auf Initiative der Universitäten haben sie für den 23. März einen gemeinsamen Aktionstag gegen sexuelle Belästigung organisiert.

Professoren und Professorinnen benennen Probleme

Seit gestern Abend finden zahlreiche Veranstaltungen an Hochschulen in der ganzen Schweiz statt. Den Auftakt machte ein Video. Darin bekennen 34 Rektorinnen und Rektoren der verschiedenen Schweizer Hochschulen, dass sexuelle Belästigung ein Problem ist. Als Gründe nennen Sabina Larcher, Rektorin der Pädagogischen Hochschule Thurgau und Günther Dissertori, Rektor der ETH Zürich, vor allem das grosse Machtgefälle.

Schweizer Hochschulprofessorinnen und -professoren nehmen Stellung zum Aktionstag gegen sexuelle Belästigung
Schweizer Hochschulprofessorinnen und -professoren nehmen Stellung zum Aktionstag gegen sexuelle Belästigung

Machtgefälle gibt es viele an Hochschulen. Zwischen Dozierenden und Studierenden. Zwischen Doktorierenden und Betreuenden. Der Direktor des Paul Scherrer Instituts, Christian Rüegg, nennt in dem Video ein weiteres Einfallstor für Missbrauch: Abhängigkeitsverhältnisse. Viele Universitätsangestellte verfügen nur über befristete Arbeitsverträge. Weil sie befürchten, dass diese nicht verlängert werden, lehnen sie sich nicht auf.

Auch horizontaler Missbrauch ist weit verbreitet

Sexuelle Belästigung geht aber nicht nur vertikal von oben nach unten. In Luzern seien die am häufigsten gemeldeten Fälle «Belästigungen und Stalking unter Studierenden». Dies teilt die Projektzuständige, Pia Ammann, auf Anfrage von kath.ch mit. Für solche Fälle sei die Universität aber gut aufgestellt. Es gebe Anlaufstellen und ein klares Regelwerk.

Liturgiewissenschaftlerin Birgit Jeggle-Merz
Liturgiewissenschaftlerin Birgit Jeggle-Merz

Birgit Jeggle-Merz kann die Luzerner Beobachtung für die Theologische Hochschule Chur nicht bestätigen. Jeggle-Merz ist Professorin für Liturgiewissenschaft und eine der beiden Anlaufstellen für Hochschulangehörige, wenn es um jegliche Form von Missbrauch, Diskriminierung und sexualisierte Gewalt geht. Wie ihre Kollegen im Video, identifiziert auch sie das Machtgefälle und die Abhängigkeiten als grösstes Einfallstor für Missbrauch.

«Manche der Geschichten sind schwer zu ertragen.»

Birgit Jeggle-Merz, Professorin und Anlaufperson für Missbrauch

Am Telefon sagt Jeggle-Merz, dass es Zeiten gab, in denen das Beratungsangebot rege genutzt wurde. Aktuell sei es ruhiger. Aber es kämen nach wie vor Betroffene zu ihr und ihrem Kollegen. «Es ist nicht immer leicht. Manche der Geschichten sind schwer zu ertragen. Und ja, manchmal findet man sich als Professorin und Kollegin in einer Zwickmühle.»

Gerade weil man als Professorin oder Dozent in einer Machtposition ist, sei es wichtig, diese zu reflektieren. Das sei ein wesentlicher Punkt beim heutigen Aktionstag: Bewusstsein schaffen. Veränderung gehe nur, wenn ein Mentalitätswechsel geschieht. Auch im Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Als Professorin müsse sie sich mit der Frage auseinandersetzen: «Wieviel Macht habe ich und wie gehe ich damit um?».

Karin Iten in Chur

Auch an den Schweizer Hochschulen und Universtäten stehen heute Diskussionen, Round Tables und Filmvorführungen auf dem Programm.

Am Donnerstagabend wird Karin Iten, die Präventionsbeauftragte des Bistums, an der TH Chur an einem Referat mit Podiumsdiskussion teilnehmen. Dies zum Thema «Blinde Flecken, graue Zonen, rote Linien – Missbrauch und Prävention in kirchlichen Institutionen». Ebenfalls mitdiskutieren werden Vreni Peterer von der Interessensgemeinschaft für Missbrauchsbetroffene im kirchlichen Umfeld, St. Gallen, Daniel Krieg, Leiter des Priesterseminars St. Luzi, Chur und Domdekan des Churer Domkapitels, sowie Erika Cahenzli, Kirchenratspräsidentin der Evangelisch-reformierten Landeskirche Graubünden.

Ökumenisches Podiumsgespräch mit Karin Iten, 23. März, 18 Uhr bis ca. 19:30 Uhr, in der Kirche St. Regula, Reichsgasse 15, Chur / Eintritt frei


Karin Iten | © Christian Merz
23. März 2023 | 17:04
Lesezeit: ca. 3 Min.
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