Die Journalistin Christine Mo Costabella erhält den katholischen Medienpreis.
Konstruktiv

Wenn’s mit dem Kinderwunsch nicht klappt: Tabu-Thema künstliche Befruchtung

Viele Paare warten und warten – doch die Frau wird nicht schwanger. Kinderwunsch-Kliniken boomen, auch wenn das Thema vielerorts noch tabu ist. Die Journalistin Christine Mo Costabella erhält heute den katholischen Medienpreis. Paare erzählen ihr von ihrem Kinderwunsch – und wie sie mit dem Lehramt der katholischen Kirche hadern. Fünf spannende Geschichten.

Regula Pfeifer

1.) Nathalie und Cyril in Lausanne

Cyril und Nathalie
Cyril und Nathalie

Das katholische Paar Cyril und Nathalie lebt in Lausanne und kann kein Kind haben. Obwohl medizinisch alles gut sei, wie es später heisst. Sie versuchen es mit Zykluskontrolle und Hormonen, dann mit Napro-Technologie – mit der die Ursache herausgefunden werden soll.

Erfolgreich befruchtete Eizellen werden in die Gebärmutter eingesetzt

Cyrill lässt sich untersuchen. Erst wird Nathalie künstlich besamt. Der nächste Schritt wäre die In-vitro-Befruchtung: Die Eizellen werden entnommen und im Reagenzglas (in vitro) mit dem Sperma befruchtet. Nur diejenigen Eizellen, die erfolgreich befruchtet wurden, werden dann in die Gebärmutter eingesetzt – in der Hoffnung, dass sie sich einnistet.

Beim Hoden-Mapping – hier an der Uni Zürich – werden an mehreren Stellen im Hoden Proben entnommen und die Stellen mit guter Spermienqualität bestimmt.
Beim Hoden-Mapping – hier an der Uni Zürich – werden an mehreren Stellen im Hoden Proben entnommen und die Stellen mit guter Spermienqualität bestimmt.

Doch die beiden lehnen diese Methode ab – auch wegen der Haltung der katholischen Kirche. Schliesslich akzeptieren sie ein Leben ohne Kind. 

«Lieben, verlieren, wachsen»

Unfruchtbarkeit sei eine Lebensschule, sagt Nathalie: «Es gab eine Zeit, in der ich alles kontrollieren, beherrschen wollte; unterdessen lerne ich von einem Tag zum anderen leben.» Cyrill findet: Als er von Frankreich nach Lausanne umzog, habe er loslassen lernen müssen. Ihm halfen die Worte: «Lieben, verlieren, wachsen.» Er bilanziert: «Was wir erleben, lässt uns wachsen.»

Die beiden kritisieren allerdings die katholische Kirche: Diese tue viel für Familien, Junge, Alte, aber wenig für Leute wie sie.

2. Anne-Sophie und Panayotis in Lausanne

Anne-Sophie und ihr Mann haben vier Kinder.
Anne-Sophie und ihr Mann haben vier Kinder.

Anne-Sophie ist Walliserin, Panayotis Lausanner – mit griechischen und spanischen Wurzeln. Die beiden heiraten mit 31 und 34 Jahren. Nach zwei Jahren ist Anne-Sophie mit dem ersten Kind schwanger, verliert es aber nach drei Monaten. 

Das Paar unternimmt eine Wallfahrt ins südfranzösische Cotignac. Hier soll der Heilige Josef erschienen sein, entsprechend findet sich hier ein Heiligtum der Heiligen Familie. Das Paar beschliesst, eine Pflegefamilie zu werden.

Vom Jugendamt durchleuchtet

Die beiden werden vom Jugendamt durchleuchtet. Monate später kommt das frühgeborene Baby Malory zu ihnen. «Wir haben es geliebt, sobald wir es gesehen haben», sagt Anne-Sophie. Sie fühlt sich sofort als Mutter. «Es zerriss mich, arbeiten zu gehen, sogar halbtags. Wir haben schlaflose Nächte verbracht, Erkältungen, Freude über das erste Lächeln… Wie alle Eltern.»

Als Malory ein Jahr ist, kommt das Baby Mathys in die Pflegefamilie. Nur vorübergehend für drei Monate – es sollte adoptiert werden. Doch niemand wollte das Kind wegen eines kaputten Gesichtsnervs. Für Anne-Sophie und Panayotis war klar: Sie adoptieren das Kind selbst. Gleichzeitig wird Anne-Sophie schwanger. Mit 38 Jahren bekommt sie Célestine, mit 40 Jahren ein weiteres Kind. Sie haben nun vier Kinder.

Eine Frage bleibt offen: Weshalb musste das erste Kind sterben? Eine Antwortmöglichkeit: Sonst hätten sie nicht dieses «grossartige Abenteuer» erlebt.

3.) Virginie und Vincent im Wallis

Virginie vor der Kapelle von Corbelins am Rande des Dorfes Chandolin.
Virginie vor der Kapelle von Corbelins am Rande des Dorfes Chandolin.

Ein Jahr nach der Heirat gehen die beiden in die Fortpflanzungsabteilung im Spital in Sitten. Sofort wurde ihnen die In-vitro-Fertilisation vorgeschlagen – ein Schock für das Paar. «Sie haben schwere Artillerie aufgefahren, um eine Mücke zu töten», sagt Vincent.

Zudem findet Virginie: «Ein Kind zu machen, ohne Liebe zu machen, wäre, wie wenn man zu einem Essen eingeladen würde, wo wir intravenös ernährt würden.»

«Nichts ist gut, da ich noch nicht schwanger bin»

Stattdessen wählen sie die Napro-Technologie: «Man repariert die Natur, man setzt sich nicht an ihre Stelle.» Auf diese Art wird versucht, mögliche Ursachen der Unfruchtbarkeit eruiert, unter anderem Entzündungen im Unterleib.

Die Behandlung findet bei einer Spezialistin in Lugano statt. Virginie wird mit Hormonen behandelt, muss oft zu Blutentnahmen ins Spital, darf kein Gluten, keine Milchprodukte zu sich nehmen. Die Gynäkologin findet: Alles sei auf gutem Weg, der Zyklus sei regelmässiger geworden. Doch Virginie findet: «Nichts ist gut, da ich noch nicht schwanger bin.»

Das Kind wird geboren, die Eltern sind glücklich

Auf dem Weg nach Lugano im Januar 2019 macht das Paar einen Zwischenhalt an der Wallfahrtskirche der Madonna del Sangue im italienischen Teil des Centovalli. Der dortige Priester sagte: «Ich bete für euch, kommt euch später bedanken.» Sie mussten versprechen, beim nächsten Klinikbesuch am 29. April wieder vorbeizukommen – dem Festtag der Madonna del Sangue.

Einen Monat später ist Virginie schwanger. Im Heiligtum im Centovalli teilen sie das Wunder mit und hängen ein Ex Voto auf. Das Kind wird geboren, die Eltern sind glücklich.

Kommen ungeborene Kinder in den Himmel?

Im Jahr 2021 hat Virginie zwei Fehlgeburten. Deshalb organisiert sie in einer Gruppe am 12. September eine Wallfahrt zu den drei Marien – und zwar von Notre-Dame de Valère in Sitten bis zur Kapelle Corbelin in der Gemeinde Savièse: «Eine Wallfahrt für alle unsere Kinder des Himmels: jene, die zurückgekehrt sind und jene, die noch im Herzen Gottes sind.»

Mütter präsentieren Christus ihre totgeborenen Kinder – zu sehen in der Kapelle von Corbelins.
Mütter präsentieren Christus ihre totgeborenen Kinder – zu sehen in der Kapelle von Corbelins.

Die Kapelle von Savièse ist seit Jahrhunderten ein Ort, an dem sich Mütter einfinden, die ein Kind verloren haben, bevor es getauft werden konnte. Die Eltern hoffen auf ein Wunder, ein Zeichen des Kindes. Das würde es ermöglichen, das Kind doch noch zu taufen. Damit käme es in den Himmel und irre nicht im «Limbus».

Grausame Limbus-Vorstellung

In der katholischen Theologie ist der Limbus der Ort, an dem sich Seelen befinden, die ohne eigenes Verschulden vom Himmel ausgeschlossen sind. Dazu gehören auch ungetaufte Kinder. Hier ist die kirchliche Lehre grausam. Denn die Vorstellung, dass die Seelen ihrer totgeborenen Kinder auf ewig in der Vorhölle herumirren, schmerzt Eltern seit dem 12. Jahrhundert. Aus der Zeit stammt das Konzept des Limbus. 

Die traditionelle Wallfahrt nach Savièse wurde in den 1950er-Jahren eingestellt. Virginie lässt die alte Tradition wieder aufleben. Die Wallfahrt endet mit Worten, die auch unfreiwillig kinderlose Paare ansprechen können: «Wir kommen zu dir, Herr, im Leiden und der Trauer über dieses Kind, das wir uns wünschen und das nicht kommt…»

4.) Joëlle und Loïc aus Fanthey VS

Joëlle und Loïc
Joëlle und Loïc

Die beiden heiraten mit 24 und 28 Jahren. Nach zwei Jahren ohne Schwangerschaft sucht Joëlle ihren Hausarzt auf. Fortan muss sie täglich Hormon spritzen. Der Sex richtet sich nach dem Zeitpunkt des Eisprungs – ohne Erfolg. Der nächste Schritt ist die künstliche Befruchtung. Das Paar versucht dies, obwohl dies die katholische Kirche nicht erlaubt. Dreimal ohne Erfolg.  

Der Versuch scheitert – kein Embryo entwickelt sich

Als nächstes kommt die In-vitro-Fertilisation. Sie habe gewusst, dass die Kirche das nicht erlaube, sagt Joelle. Daher habe sie zusätzlich gelitten. 

Das Paar hatte 2015 gegen die Ausweitung der Fortpflanzungsmedizin in der Schweiz gestimmt. Aber zwei Jahre später reisen sie selbst nach Tschechien für eine In-vitro-Befruchtung. Joëlle hat ein Herz-Problem. Sie schreibt einen Brief an Loïc für den Fall, dass sie nicht aufwachen würde. Der Versuch scheitert: Kein Embryo entwickelt sich.

Enthaltung bei der «Ehe für alle»

Als die In-vitro-Befruchtung auch in der Schweiz erlaubt ist – im Jahr 2017 –, machen die beiden einen erneuten Versuch in Lausanne. Joëlle wird muss ins Spital – wegen körperlicher und psychischer Erschöpfung. «Unseren Versuchen ein Ende zu setzen, war ein Frage des Überlebens», sagt Joëlle. 

Protest gegen eine liberalere Bioethik: Mitglieder des Verbands "La Manif Pour Tous" in Frankreich.
Protest gegen eine liberalere Bioethik: Mitglieder des Verbands "La Manif Pour Tous" in Frankreich.

Dass die Kirche die Fortpflanzungsmedizin ablehnt, stört sie. Wenn es bei ihnen geklappt hätte, hätte sie sich dafür eingesetzt, sagt Joëlle. Und Loïc findet: Fortan werden sie sich bei Abstimmungen enthalten – so auch bei der Ehe für alle.

Heute beteiligen sie sich als Betroffene bei Ehevorbereitungskursen in der Kirche. Sie haben den Weg der Adoption eingeschlagen. Und dabei gesellschaftliche Missstände entdeckt. Kinder würden teilweise wegen Armut zur Adoption gegeben.

5.) Maxime und Stéphanie haben die Grenzen des Lehramts überschritten

Stéphanie, Maxime und ihre Kinder
Stéphanie, Maxime und ihre Kinder

Auch dieses Paar hat einen unerfüllten Kinderwunsch. In der Gemeinschaft Emmanuel treffen sie andere Paare mit dem gleichen Problem. Sie lernen, dass sie auf andere Art fruchtbar sind– etwa indem sie mehr Zeit für Freundinnen und Freunde haben.

Das Paar entscheidet sich für die In-vitro-Fertilisation mit Eizellenspende. Die Eizelle stammt dabei von einer anderen Frau. Stéphanie ist also biologisch nicht mit dem Kind verwandt. Das Paar sieht es als Vorteil, dass trotzdem beide daran beteiligt sind: Er spendet das Sperma, sie trägt das Kind aus. Eine Adoption kommt für sie nicht infrage. Sie hätten Mühe, die Fragen des Kindes später zu beantworten.

Zur In-vitro-Fertilisation nach Tschechien

Für die In-vitro-Fertilisation reisen sie nach Tschechien. Stéphanie wird schwanger, sie gebiert Zwillinge. Nach zwei Jahren lässt sie sich einen dritten Embryo einpflanzen. Auch dieses Kind kommt zur Welt. Und der vierte Embryo, der übrig blieb? Dazu seien sie noch nicht bereit, sagt Maxime. «Er wartet auf uns in der Tiefkühltruhe.»

Stéphanie ist überzeugt: «Unsere Kinder werden Fragen haben über ihre biologische Mutter, die anonym bleibt.» Maxime sagt: «Die Gesichtszüge von Stéphanie sind in den Gesichtern unserer Kinder nicht zu erkennen. Damit haben wir Mühe», sagt Maxime. Dennoch: «Das hat meinem Leben einen Sinn gegeben», sagt Stéphanie.

Katholischer Medienpreis für die Journalistin Christine Mo Costabella

Die Journalistin Christine Mo Costabella erhält den katholischen Medienpreis für ihre Artikelserie zum Thema Unfruchtbarkeit bei christlichen Paaren. Die Beiträge «haben die Jurymitglieder tief berührt», heisst es in der Mitteilung der Schweizer Bischofskonferenz.

«Mo Costabella hat die heikle Thematik feinfühlig behandelt und leistete eine grosse Recherchearbeit. Ihre Gesprächsserie weist eine ausgeweitete Untersuchung der verschiedenen Aspekte des Themas und eine ausgezeichnete redaktionelle Leistung auf», lobt die Jury.

Der katholische Medienpreis wird jedes Jahr durch die Schweizer Bischofskonferenz verliehen. Mit dem Preis sollen die Arbeit und die Verantwortung von Medienwerken anerkannt werden, die über die Botschaft des Evangeliums berichten.

Thierry Collaud ist Professor für  Moraltheologie und Ethik an der Uni Freiburg i.Ü.
Thierry Collaud ist Professor für Moraltheologie und Ethik an der Uni Freiburg i.Ü.

Zur Artikel-Serie gehört auch ein Interview mit dem Sozialethiker Thierry Collaud. Er erklärt in einem Interview, warum die katholische Kirche gegen die Fortpflanzungsmedizin ist. Auch enthält die Serie einen Artikel über Florence Gabioud. Sie verantwortet mit ihrem Ehemann Casimir die Familienpastoral im Bistum Sitten. Sie räumt ein: Es gibt keine Angebote für kinderlose Paare im Bistum Sitten. Paare hätten zudem Mühe, über ihr Problem zu sprechen. Überhaupt hätten die meisten Mühe, über Beziehungsprobleme zu sprechen: «Damit geht man nicht hausieren.»

Monique Dorsaz
Monique Dorsaz

Ähnliches sagt Monique Dorsaz, Verantwortliche für Familienpastoral in der Waadt. Sie erfahre von den Paaren nicht direkt von deren unerfülltem Kinderwunsch. Dies geschehe eher in informellen Gesprächen. Und sie betont: Das negative Urteil der Kirche gegenüber der Fortpflanzungsmedizin verletze die Menschen. Der Artikel enthält Infos zu Anlaufstellen, Büchern und Videos zum Thema. (rp)


Die Journalistin Christine Mo Costabella erhält den katholischen Medienpreis. | © Bernard Hallet
1. März 2023 | 11:11
Lesezeit: ca. 7 Min.
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