Nach dem Weltuntergang
Religion anders

Wenn nur die «Gottesgärtner» überleben – Margaret Atwoods MaddAddam-Trilogie

Unsere Lage ist ungemütlich. Klimaerwärmung, Krieg, Pandemie – wer sich Sorgen um die Zukunft macht, ist weder Traditionalistin noch Endzeitprophet. Was passieren könnte, wenn wir jetzt nichts ändern, das schildert Margaret Atwood in ihrer öko-apokalyptischen MaddAddam-Trilogie.

Natalie Fritz

Spätes 21. Jahrhundert. Nach der Pandemie ist die Welt nicht mehr die gleiche. Ausgelöst durch ein Virus, das in einer Sexpille namens OrgassPluss (BlyssPluss) eingekapselt war, wird die Menschheit innert Monaten ausgelöscht. Unter gleissender Sonne suchen nun genmanipulierte Organschweine in zerfallenen Städten nach Beute; weit und breit keine Menschenseele. Oder doch?

Ödnis nach der wasserlosen Flut?!
Ödnis nach der wasserlosen Flut?!

Schneemann und die neue Schöpfung

Schneemann, ein ehemaliger Werbefachmann, hat offenbar als einziger Mensch das Ende der bekannten Welt überlebt. Vergrämt und ausgehungert, erklärt er den Crakern – einer neuen und verbesserten Menschenart – ihre Herkunft. Die Craker ernähren sich rein pflanzlich, haben weder Aggressionspotenzial noch werden sie gierig. Sie sind friedliebend, schnurren Schmerzen weg und paaren sich, wenn sich ihre Unterkörper blau verfärben.

Schneemann ist für sie eine Art Prophet mit direktem Draht zu Crake, ihrem anbetungswürdigen Schöpfer. Alles, was die Craker mit ihrem kindlichen Intellekt noch nicht verstehen, erklärt ihnen Schneemann. Allerdings in geschönter Form. Nur Schneemann weiss, dass sein Jugendfreund, der geniale Genetiker Crake, das Todes-Virus erschaffen hatte. So wollte er den Planeten von der Menschheit erlösen, um ihn danach mit «seinen» Crakern zu bevölkern. Doch diese Wahrheit behält Schneemann für sich und kreiert für die arglosen Craker einen glatt geschliffenen Schöpfungsmythos.

Gleissendes Licht fällt auf Eden bei der Schöpfung von Mensch und Tier, J.E. Ridinger, 1750 (Ausschnitt)
Gleissendes Licht fällt auf Eden bei der Schöpfung von Mensch und Tier, J.E. Ridinger, 1750 (Ausschnitt)

Der Mensch braucht Mythen

Und genau das ist es, was die grosse kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood (The Handmaid’s Tale) uns in ihrer visionären Trilogie verdeutlicht: Menschen brauchen Mythen, um zu verstehen, was das Menschsein ausmacht. Wir müssen Normen und Werte erlernen, damit wir miteinander auskommen, die (Um)Welt verstehen. Die MaddAddam-Trilogie ist entsprechend voll von religiösen Motiven und Erzählungen; denn wo, wenn nicht im Mythos, werden das Weltbild einer Kultur und ihre Regeln umfassend erklärt?

Margaret Atwood an der Frankfurter Buchmesse 2019.
Margaret Atwood an der Frankfurter Buchmesse 2019.

Wie die Menschen müssen auch die Craker lernen, was gut und was schlecht, was richtig und was falsch ist. Crake hat seine Craker im Paradice-Labor erschaffen, und ihnen dabei alles abtrainiert, was ihm schädlich und unnütz erschien. Vermeintlich auch die Religiosität, die Crake als Voraussetzung für Machthunger und Unrecht einstufte. Aber Genetiker Crake hat nicht damit gerechnet, dass seine idealen neuen Erdenbewohner und -bewohnerinnen immer noch das Bedürfnis nach Orientierung und Sinn haben. Crakes maximalen Optimierungsbemühungen zum Trotz wollen sie Leitlinien für ihr Dasein. Schneemanns konstruierter Mythos erklärt den Crakern die Welt und reflektiert zugleich die Versäumnisse der Menschen, die letztlich zur Katastrophe geführt hatten.

Atwoods prophetische Trilogie

Ausgetrocknete Flüsse und Seen, ein möglicher Atom-Gau in Saporischschja, Covid, drohende Strommangellage – wir leben gerade in einer ziemlich ungemütlichen Welt. Wenn man bedenkt, dass der erste Teil der MaddAddam-Trilogie Oryx und Crake 2003 veröffentlicht wurde, muss man Atwood als Prophetin eines möglichen Untergangs bezeichnen. Die Apokalypse, die sie beschreibt, wirkt beängstigend gegenwärtig.

Verdorrte Landschaft
Verdorrte Landschaft

Die Autorin wehrt sich entsprechend gegen die Kategorisierung der Trilogie als Science Fiction. In einem Interview erklärt sie, dass obwohl MaddAddam ein fiktionales Werk sei, die beschriebenen Technologien und Forschungsansätze real existierten und keineswegs nur theoretische Gebilde seien. Atwood bezeichnet die Trilogie als «Spekulative Fiktion». Gerade bei MaddAddam zeigt sich, dass Science Fiction oder eben Spekulative Fiktion immer in einem konkreten Bezug zu unserer Lebensrealität steht und die Konsequenzen unseres heutigen Handelns nur zuspitzt und weiterdenkt.

Nach der Apokalypse…

Atwood schildert in der Trilogie nicht einfach eine angsteinflössende, weil durchaus mögliche, Dystopie. Vielmehr blitzt in allen drei Büchern immer wieder Hoffnung auf. Hoffnung, weil nicht die gesamte Menschheit ausgerottet wurde. Hoffnung, weil die Überlebenden ihren bisweilen tiefschwarzen Humor nicht verloren haben und bereit sind, etwas zu ändern. Das liegt auch daran, dass die Mehrheit der Überlebenden aus ethisch agierenden Genetikern oder sogenannten «Gottesgärtner» besteht.

Der Garten Eden, Izaak van Oosten, 1655-1661
Der Garten Eden, Izaak van Oosten, 1655-1661

Die Gottesgärtner lebten vor der Pandemie, der «wasserlosen Flut», wie sie sie nennen, in einer spirituellen Öko-Gemeinschaft auf einem Dachgarten namens «Felsen Eden». Die Mitglieder ehren und schützen die Natur, essen kein Fleisch, meditieren und verehren «Heilige» wie die Gorillaforscherin Dian Fossey. Sie zelebrieren Feiertage wie den Maulwurftag, der allen unterirdischen Lebensformen gewidmet ist und folgen ihrem charismatischen Anführer Adam Eins. Dieser hat die wasserlose Flut vorausgesagt und seine Gottesgärtner dazu angehalten, in Verstecken Vorräte für die Zeit danach zu sammeln. Diese Verstecke nennt Adam Eins Ararats – wie der Name des Gebirges auf dem Noah nach der Sintflut strandete!

Noah und seine Familie treten aus der Arche, Julius Schnorr von Carolsfeld 1851–1860
Noah und seine Familie treten aus der Arche, Julius Schnorr von Carolsfeld 1851–1860

… ist vor der Hoffnung

Die Parallelen zur biblischen Sintflut und Noah haben einen durchaus hoffnungsvollen Ansatz. Bei Atwood rettet zwar nicht die Frömmigkeit die Überlebenden, aber die Rückbesinnung auf einen respektvollen Umgang mit der Schöpfung und auf verbindliche Werte. Dieses Wissen geben die überlebenden Menschen den Crakern und ihren Nachkommen mündlich und schriftlich weiter, in Form eines Mythos – und zwar eines mehrstimmigen.

Wie die drei Bücher der MaddAddam-Trilogie wird der neue Mythos aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Schneemann wird im zweiten Band von den Gottesgärtnerinnen Toby und Ren, im dritten von Toby und dem Crakerbuben Blackbeard als Erzähler abgelöst. Die Geschichten ergänzen einander, vertiefen Aspekte, lassen einige Punkte weg oder bringen neue ein.

Mit jedem weiteren Erzählen wachsen die einzelnen Perspektiven zusammen, verweben sich zu einer Einheit. So überleben die einzelnen Erzählstimmen als Teile einer grossen Erzählung. Man kann sich vorstellen, dass es bei der Entstehung der Bibel, wie wir sie kennen, ganz ähnlich zuging. Und das ist ein weiterer hoffnungsvoller Aspekt dieser dystopischen Trilogie. Wenn verschiedene Versionen einer Geschichte letztlich einen Mythos schaffen, muss dessen Auslegung auch wieder Sache jedes Einzelnen sein.

Nach dem Weltuntergang | © JannikR64 | © pixabay.com/JannikR64, Pixabay License
8. Oktober 2022 | 05:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
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Margaret Atwood

Die kanadische Schriftstellerin und Dichterin Margaret Atwood wurde 1939 in Ottawa geboren. Parallel zu ihrer Lehrtätigkeit als Literaturwissenschaftlerin veröffentlichte sie Lyrik, Romane und Essays. Mit ihrer dystopischen Zukunftsvision A Handmaid’s Tale (Der Report der Magd) wurde sie 1985 einem grösseren Publikum bekannt. Atwoods Werk fokussiert auf Frauen- und Genderfragen, Umweltproblematik und technologischen Fortschritt. Sie hat unzählige renommierte Preise für ihr literarisches Schaffen erhalten. http://margaretatwood.ca/

MaddAddam-Trilogie

Band 1, Oryx und Crake (Oryx and Crake), 2003: Nach einer Pandemie lebt Schneemann in einer zerstörten Welt, vermeintlich als einziger Mensch unter einer menschenähnlichen Spezies, den Crakern. Ihnen erzählt er davon, wie sie entstanden sind und wird von ihnen als Prophet verehrt. In Rückblenden erfährt die Leserschaft von Schneemann, wie es zum Weltuntergang kam.

Band 2, Das Jahr der Flut (Year oft he Flood), 2009: Toby und Ren haben die Seuche ebenfalls überlebt. Getrennt voneinander schlagen sich die beiden ehemaligen Gottesgärtnerinnen durch. Ihre Erinnerungen ergänzen die Erinnerungen von Schneemann aus dem ersten Band.

Band 3, Die Geschichte von Zeb (MaddAddam), 2013: Toby und Ren haben weitere Überlebende, Schneemann und die Craker gefunden. Gemeinsam versuchen sie, eine neue Zivilisation zu errichten. Gleichzeitig wird das Geheimnis um Adam Eins gelüftet.