Zum Glück gesund! Mutter und Kind in einem Spital-Projekt in Afghanistan.
Religion anders

Weiterhelfen trotz Angst, Verboten und Taliban

Frauen dürfen ab sofort nicht mehr für Nichtregierungsorganisationen in Afghanistan tätig sein. Dies verkündete das Taliban-Regime Ende Dezember. Was bedeutet das für die grösste privat finanzierte Schweizer Hilfsorganisation vor Ort? «Wir ziehen uns nicht zurück», sagt Michael Kunz von der Afghanistanhilfe in Schaffhausen. 

Sarah Stutte

Welche Frauen betrifft das sofortige Arbeitsverbot in Afghanistan?

Michael Kunz*: Davon sind praktisch alle afghanischen Mitarbeiterinnen in allen Bereichen betroffen. Eine Ausnahme stellen Mitarbeiterinnen in Uno-Organisationen sowie im Gesundheitswesen dar. Über diese Ausnahmen sind wir sehr froh.

Michael Kunz (vorne links) bei der Eröffnung der neuen Klinik in Poshtroq.
Michael Kunz (vorne links) bei der Eröffnung der neuen Klinik in Poshtroq.

Weil?

Kunz: Wir möchten Hilfe leisten, die für alle Menschen zugänglich ist. In unseren Gesundheitseinrichtungen werden Frauen traditionell von weiblichem Personal untersucht und Männer von männlichem. Ein generelles Arbeitsverbot hiesse, dass wir nur noch Männer medizinisch versorgen könnten. Das wäre für uns inakzeptabel.

Zahnärztlicher Untersuch durch Mirella Walter im Asyhana Bamyan 2018.
Zahnärztlicher Untersuch durch Mirella Walter im Asyhana Bamyan 2018.

Das Verbot beeinflusst also Ihre Projekte vor Ort bisher nicht?

Kunz: Teilweise. Das Arbeitsverbot gilt für das weibliche Büropersonal unserer lokalen Partner. Hier haben wir einen pragmatischen Ansatz gewählt – die Frauen sollen weiterhin arbeiten können, nun einfach von zu Hause aus. Unsere Projekte laufen also erstmal weiter wie bisher. 

«Wir sind pragmatisch: unsere Projekte laufen erstmal weiter wie bisher.»

Andere Hilfsorganisationen wie beispielsweise Caritas International mussten ihre humanitäre Arbeit in Afghanistan aufgrund der neuen Situation pausieren. Das kam für Sie nicht infrage?

Kunz: Einige dieser Hilfsorganisationen haben nur einzelne Projekte pausiert. Dies betrifft vor allem die Verteilungen von Geld, Kleidung und Lebensmitteln. Wenn es tatsächlich noch zu einem generellen Arbeitsverbot für Frauen kommen sollte, würden wir voraussichtlich die Hilfe in denjenigen Bereichen sistieren, in welchen die Hilfe nicht überlebenswichtig ist.

Das hiesse, beispielsweise unsere kleineren Kliniken in abgelegeneren Ortschaften zu schliessen und unser Spital im Notbetrieb laufen zu lassen.

Ein sicherer Ort: Projekt Waisenhäuser in Afghanistan.
Ein sicherer Ort: Projekt Waisenhäuser in Afghanistan.

Für unsere drei Waisenhäuser, in denen wir für rund 200 Kinder verantwortlich sind, würde das bedeuten, dass nur noch männliches Personal die Kinder betreut – zusammen mit den Müttern von Halbwaisen, die ebenfalls in den Waisenhäusern leben.

Im Moment scheint es jedoch so, dass die Taliban das einheimische Gesundheitssystem nicht kollabieren lassen…

Kunz: Genau. Offenbar haben sie eingesehen, dass das andernfalls die medizinische Versorgung im Land tatsächlich nicht mehr gewährleistet werden könnte.

«Auch die Frauen und Töchter der Taliban brauchen medizinische Hilfe.»

Auch die Taliban haben Frauen und Töchter, die Kinder gebären und medizinische Unterstützung benötigen. Es hätte mich aber auch nicht erstaunt, wenn die Taliban den Gesundheitsbereich nicht ausgenommen hätten. Denn die Entscheidung wurde offensichtlich vom radikalen Flügel der Taliban getroffen. Dieser würde meiner Meinung nach alles in Kauf nehmen, um ihre Ideologie umzusetzen.

Neugeborene in einem Spital in Afghanistan.
Neugeborene in einem Spital in Afghanistan.

Wie kam es überhaupt zu dieser Zuspitzung? Neben dem radikalen Flügel gibt es im Land doch auch einzelne Taliban-Gruppen, die durchaus mit sich reden lassen. 

Kunz: Das beweist, dass in der Taliban-Organisation grundsätzlich die Radikalen das Sagen haben. Gewisse Taliban-Vertreter haben in den Provinzen das Bildungsverbots für Mädchen nicht konsequent umgesetzt. Dies wurde vermutlich von den radikaleren Taliban-Gruppen registriert. Diese Entscheidung kann allenfalls als eine Art Machtdemonstration verstanden werden.

Projekt: Schule in Afghanistan – Bildung für alle!
Projekt: Schule in Afghanistan – Bildung für alle!

Offiziell begründen sie den Entscheid dadurch, dass die Mitarbeiterinnen der westlichen Hilfsorganisationen sich trotz mehrfachem Hinweis nicht an die Kleidervorschriften gehalten hätten.

Was bedeutet das Verbot für die afghanischen Frauen und ihre sowieso schon prekäre Situation?

Kunz: Sie wird immer schlimmer. Frauen, die arbeiten konnten, fehlt jetzt dieses Geld.

«Die Lage spitzt sich nicht nur für die Frauen, sondern auch für ihre Familien zu.»

Darunter leiden nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Familien, die sie mit dem Verdienst unterstützt haben.

Viele werden dadurch weiter aus der Gesellschaft und an den Rand gedrängt. 

Wie schätzen Sie die momentane Stimmung im Land ein?

Kunz: Ein Teil der Bevölkerung ist schon geflüchtet oder plant die Flucht. Weil sie sich mit den neuen Machthabern nicht arrangieren können oder einfach auch die Hoffnung auf eine Zukunft für ihr Land verloren haben. Vor allem viele gebildete Afghaninnen und Afghanen verlassen ihre Heimat. Gerade die Bildung ist das Fundament einer positiven Entwicklung, die immer mehr abhandenkommt.

Wie lange noch Heimat? Hüggellandschaft in Daykundi
Wie lange noch Heimat? Hüggellandschaft in Daykundi

In Afghanistan leben auch einige tausend konvertierte Christinnen und Christen. In welcher Gefahr befinden sie sich?

Kunz: Ich kenne ihre Situation nicht aus direkten Kontakten. Aber ich nehme an, dass sich auch für sie die Lage verschlimmert hat. Sie waren schon vorher bedroht und sind es jetzt noch viel mehr.

Sie müssen sich also verstecken?

Kunz: Ja. Es gibt wohl etliche, von denen niemand weiss, dass sie zum Christentum übergelaufen sind. Aus Angst vor Repressionen praktizieren sie ihren Glauben nicht oder im Verborgenen. Einzelpersonen verstecken sich genauso wie ganze Familien.

«Ein Bekenntnis zur Konversion kann tödliche Folgen haben.»

Sie können den Personen in ihrem näheren Umfeld, teilweise sogar in der eigenen Familie nicht sagen, dass sie die Religion gewechselt haben. Eine Konversion kann ihr Todesurteil bedeuten. Viele Familienmitglieder haben deshalb das Gefühl, ihre Liebsten verraten zu müssen, um das Unheil gegenüber dem Rest der Angehörigen abzuwenden. Deshalb sind Christinnen und Christen in Afghanistan vor niemandem sicher.

Wie wird sich die Situation im Land Ihrer Ansicht nach entwickeln?

Kunz: Ich war schon hoffnungsvoller. Solange der radikale Flügel in Afghanistan das Sagen hat, sehe ich wenig Hoffnung auf eine positive Entwicklung. Wir halten aber an der Hoffnung fest, dass die gemässigten Taliban noch die Macht an sich reissen können. Dazu wäre aber auch Druck aus der Zivilgesellschaft notwendig. Den sehe ich zur Zeit nicht.

Armut und Hunger werden immer schlimmer. Frau in Poshtroq, 2019
Armut und Hunger werden immer schlimmer. Frau in Poshtroq, 2019

Zu sehr kämpfen die Menschen hier momentan mit der prekären wirtschaftlichen Lage, die sich immer weiter verschlimmert. Millionen leiden Hunger, weshalb diese Notlage prioritär ist.

«Die Taliban haben das Land fest im Griff.»

Zudem haben die Taliban das Land fest im Griff. Die Strafen sind erheblich, wenn jemand einen Aufstand probt. Derzeit ist deshalb nicht absehbar, wie sich das Land befreien könnte.

Gibt es Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Afghanistanhilfe, die akut in Gefahr sind?

Kunz: Ja. Einige von ihnen konnten in die Nachbarländer Pakistan oder den Iran gelangen. In die Schweiz können wir sie nicht holen, denn diese hat bisher noch keinen unserer Anträge auf ein humanitäres Visum bewilligt. Beim Bundesverwaltungsgericht sind diesbezüglich verschiedene Rekurse hängig. Die Anforderungen an die hiesigen Visa sind enorm hoch und manche Bedingungen fast nicht erfüllbar. Ich würde mir wünschen, dass alle Geflüchteten in der Schweiz so empfangen werden, wie die Ukrainerinnen und Ukrainer.

* Michael Kunz ist Präsident der Afghanistanhilfe Schaffhausen. Das Hilfswerk setzt sich seit mehr als 30 Jahren mit verschiedenen Projekten im Bereich Gesundheit, Bildung und Armutsbekämpfung für Hilfe vor Ort ein.


Zum Glück gesund! Mutter und Kind in einem Spital-Projekt in Afghanistan. | © afghanistanhilfe.org
14. Januar 2023 | 05:00
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