Weihbischof Wolodymyr Hruza
International

Ukrainischer Weihbischof Hruza: «Lassen Sie uns nicht verbluten»

Wolodymyr Hruza ist Weihbischof von Lemberg. Am Sonntag wird er in Einsiedeln sein – sofern er aus der Ukraine ausreisen darf. Denn er ist im wehrpflichtigen Alter und könnte jederzeit an die Front gerufen werden. Vom Pazifismus hält er wenig. «Jeder Mensch hat das Recht auf Verteidigung», sagt Weihbischof Hruza. Er lädt alle ein, in die Ukraine zu kommen, die Friedhöfe zu besuchen und in die Augen der Witwen zu schauen.

Annalena Müller

Sie sind in Lemberg – wie ist die Lage bei Ihnen?

Bischof Wolodymyr Hruza*: Lemberg liegt im Westen der Ukraine. Die Front ist einerseits weit entfernt. Andererseits prägt der Krieg unser Leben. Die letzten Nächte waren sehr angespannt. Es gab ständig Luftalarm. Aber wir spüren den Krieg auch sonst. Es gibt so viele Beerdigungen…

Die Gräber gefallener Soldaten in Lemberg sind mit Fahnen geschmückt.
Die Gräber gefallener Soldaten in Lemberg sind mit Fahnen geschmückt.

…der gefallenen Soldaten?

Hruza: Ja. Unsere Soldaten aus Lemberg, die an der Front gefallen sind. Allein in Lemberg gibt es über 400 neue Gräber. Als Seelsorger spreche ich viel mit Familien, mit den Kindern, den Frauen und Müttern.

Wie viele Beerdigungen haben Sie im letzten Jahr geleitet?

Hruza: Ich habe sie nicht gezählt. Manchmal beerdigen wir mehrere Soldaten an einem Tag. Wenn wir einen Tag ohne Beerdigung haben, dann ist es ein Feiertag.

Beerdigungen sind Alltag für Bischof Hruza. Oftmals müssen gleich mehrere Lemberger Soldaten bestattet werden.
Beerdigungen sind Alltag für Bischof Hruza. Oftmals müssen gleich mehrere Lemberger Soldaten bestattet werden.

Worunter leiden die Menschen in Lemberg am meisten?

Hruza: Wenn die Angehörigen nicht wissen, wo ihre Söhne, Männer oder Väter sind. Wenn sie gefallen sind, dann gibt es wenigstens ein Grab. Aber oft sind sie verschollen. Dann hoffen die Angehörigen verzweifelt, dass sie noch am Leben sind. Irgendwo. Vielleicht in Gefangenschaft. Dazu kommt die Angst der Männer, bald selbst an die Front zu müssen.

Haben auch Sie Sorge, einberufen zu werden?

Hruza: Meine Einberufung ist möglich, denn ich bin noch keine 60 Jahre. Aktuell warte ich noch auf die Erlaubnis, die Ukraine verlassen zu dürfen, um am Sonntag nach Einsiedeln zu pilgern. Männer im wehrpflichtigen Alter dürfen das Land ja nur mit Sondererlaubnis verlassen.

«Wenn man ein Realitätsbewusstsein hat, dann hat man Angst.»

Wie gehen ukrainische Männer mit dem Wissen um, jederzeit einberufen werden können?

Hruza: Es sorgt natürlich für eine grosse Anspannung. Als gesunder Mann unter 60 weiss man: Jeden Tag kann der Brief kommen, der einen dazu ruft, sein Land zu verteidigen. Man kann keine Pläne machen. Man lebt mit dem Wissen, dass sich von heute auf morgen alles ändern kann.

Bischof Hruza tauft ein Kindes bevor dessen Vater an die Front geht.
Bischof Hruza tauft ein Kindes bevor dessen Vater an die Front geht.

Haben die Menschen Angst?

Hruza: Wenn man ein Realitätsbewusstsein hat, dann hat man Angst. Andererseits spürt man die Verantwortung. Wenn wir das Land nicht im Osten verteidigen, dann kommt der Aggressor auch hierher.

Müssen auch Priester Kriegsdienst leisten?

Hruza: Es gibt aktuell keine Regelung, die Kleriker vom Kriegsdienst befreit. Aber wir versuchen, einen Dispens für Kleriker zu erhalten. Es gibt natürlich Militärkapläne an der Front. Das ist aber etwas anderes.

Junge Soldaten halten ihre Kinder nach der Taufe. Einige werden ihre Kinder nicht aufwachsen sehen können.
Junge Soldaten halten ihre Kinder nach der Taufe. Einige werden ihre Kinder nicht aufwachsen sehen können.

Hat der Krieg das Kirchenleben verändert?

Hruza: Die Pandemie hat die Menschen aus den Kirchen vertrieben. Der Krieg hat sie zurückgebracht. Im Grossen und Ganzen geht das sakramentale Leben trotz Krieg normal weiter. Vielleicht werden Hochzeiten etwas vorgezogen, weil die Männer an die Front gerufen werden. Und wir haben natürlich mehr Beerdigungen.

Die Menschen hadern wegen des Krieges nicht mit Gott und Kirche?

Hruza: Man kann sich ja schon fragen: «Warum lässt Gott das zu?» Aber momentan nehmen wir eher das Gegenteil wahr. Die Menschen suchen Zuflucht in der Kirche. Auch gerade die Soldaten an der Front. Soldaten sagen mir immer wieder: «An der Front gibt es keine Atheisten. Da sind alle gläubig.»

«Es ist ein Wunder Gottes, dass wir als Volk noch existieren.»

.Soldaten finden im Trommelfeuer zu Gott?

Hruza: Viele haben mir gesagt, dass man an der Front an Gott glauben muss. Gott ist die einzige Zuflucht dort. Aber auch fernab der Front denken wir oft, dass es ein Wunder Gottes ist, dass wir als Volk noch existieren.

Wie meinen Sie das?

Hruza: Als Russland am 24. Februar 2022 einmarschiert ist, hiess es überall: Nach drei Tagen würden wir nicht mehr existieren – als Land und als Volk. Über ein Jahr später sind wir immer noch da. Gerade auch weil die Ukrainer und Ukrainerinnen eine grosse Einheit spüren. Seit einem Jahr gibt es keine Regierung, keine Opposition. Alle arbeiten für den Sieg zusammen.

Bischof Wolodymyr Hruza auf dem Friedhof in Lemberg.
Bischof Wolodymyr Hruza auf dem Friedhof in Lemberg.

Das westliche Ausland hat den Kampfeswillen der Ukrainer und Ukrainerinnen und ihre Opferbereitschaft unterschätzt…

Hruza: Dies ist kein Krieg gegen den Staat Ukraine. Es geht nicht um Land, um Häuser oder Dinge. Nein. Russland führt einen Krieg gegen das ukrainische Volk. Jeder Mensch hier spürt die Verantwortung zu helfen.

Wie sieht diese Hilfe jenseits der Front aus?

Hruza: Viele Frauen auf dem Land kochen und backen Brot für die Soldaten an der Front. Sie helfen so bei deren Versorgung. Kinder machen Konzerte und sammeln Geld – das geht auch an die Soldaten. Jeder und jede ist auf irgendeine Weise involviert. Das zeigt: wir wollen nicht okkupiert werden. Und jedes Volk hat das Recht, sich zu verteidigen.

In Europa – und auch gerade in der Schweiz – sind Waffenlieferungen sehr umstritten. Es gibt die Idee, dass Waffen den Krieg nur verlängern. Vertreter der Schweizer Kirchen berufen sich auf den radikalen Pazifismus der Bergpredigt. Was sagen Sie dazu?

Hruza: Jesus fragt im Johannesevangelium: «Warum schlägst du mich?». Ein zweiter Einwand gegen die enge Auslegung der Bergpredigt ist, man muss sie exegetisch und theologisch verstehen. Aber meine Einwände gehen über Bibelexegese hinaus.

«Jeder Mensch hat das Recht auf seine Würde und auf Verteidigung derselben.»

Nämlich?

Hruza: Jeder Mensch hat das Recht auf seine Würde und auf Verteidigung derselben. Nehmen wir hypothetisch an, jemand käme in die Schweiz und würde sagen: «Ich nehme dir alles weg, was du hast. Und deine Identität, die nehme ich dir auch. Und wenn du Widerstand leistest, dann bringe ich dich um.» Wie würden die Schweizer dann reagieren? Sie würden sich zusammenschliessen und sich verteidigen.

Täufling auf dem Arm seines Vaters.
Täufling auf dem Arm seines Vaters.

Da haben Sie wahrscheinlich Recht.

Hruza: Aber besser als zu versuchen, theoretische Antworten auf praktische Fragen zu geben: Ich lade alle ein, selbst in die Ukraine zu kommen. Sie müssen gar nicht in den Osten an die Front. Es reicht in den Norden zu kommen. Nach Butscha zum Beispiel. Dort sieht man viel. Oder Sie können in Lemberg auf den Friedhof gehen. Oder in die Augen der Witwen und Waisenkinder schauen. Das zu sehen, bringt mehr als tausend Worte. Denn unsere Friedhöfe zeigen: Für uns ist das keine theoretische Frage.

Pazifistische Kreise in Westeuropa argumentieren: Waffenlieferung würden den Krieg nur verlängern. Ohne Waffenlieferungen, wäre der Krieg längst zu ende…

Hruza: Das bezweifle ich. Es geht bei diesem Krieg nicht um die Ukraine. Die Motivation des Aggressors ist Imperialismus. Wenn die Ukraine fällt, dann zieht die Front weiter. Und die Länder, die an die Ukraine grenzen, wissen das sehr genau. Darf ich mich direkt an die Leser und Leserinnen wenden?

«Bitte, lassen Sie die Ukraine nicht verbluten!»

Selbstverständlich.

Hruza: Bitte, lassen Sie die Ukraine nicht verbluten! Denn die Wunde, der Wundbrand, wird sich ausbreiten.

Sollte Europa also mehr Waffen liefern?

Hruza: Ich bin kein Politiker. Ich kenne mich mit den Details der Verhandlungen nicht aus. Mir ist nur klar – jeder Tag der Verzögerung kostet Menschenleben.

*Wolodymyr Hruza (47) legte im Jahr 2000 die ewige Profess ab. Er ist promovierter Dogmatiker und seit 2016 Weihbischof von Lemberg.


Weihbischof Wolodymyr Hruza | © zVg
17. Mai 2023 | 12:45
Lesezeit: ca. 5 Min.
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Das internationale katholische Hilfswerk «Kirche in Not (ACN)» lädt am Sonntag, 21. Mai 2023, zur Wallfahrt nach Einsiedeln. Aus der Ukraine kommt der Hauptzelebrant, Weihbischof Wolodymyr Hruza, der in der Klosterkirche ein Pontifikalamt um 12.30 Uhr predigen wird.

Im Anschluss findet im Kongresszentrum «Zwei Raben» ein Podium statt: «15 Monate Krieg in der Ukraine: Folgen für Europa, die Schweiz und die Kirche.»