Ein Bild aus alten Tagen: (von links) Urs Baumann, Hans Küng, Anne Jensen, Bernd Jochen Hilberath und Karl-Josef Kuschel.
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Was würde Hans Küng zu Pells Pamphlet sagen?

Der plötzlich verstorbene Kardinal Pell diskrediert in einem Artikel den synodalen Prozess. Der Tübinger Dogmatiker Bernd Jochen Hilberath ist überzeugt: «Pell zielt auf Kardinal Hollerich – meint aber wohl eher Franziskus.» Pell habe Synodalität nicht verstanden: «Es gibt kein in Stein gemeisseltes Lehramt.»

Raphael Rauch

Wie hätte Ihr früherer Kollege Hans Küng auf Kardinal Pells Text reagiert?

Bernd Jochen Hilberath*: Ich weiss gar nicht, ob er überhaupt reagiert hätte. Er hätte das Schreiben wohl nicht sonderlich ernst genommen. Vielleicht hätte Hans Küng mit seiner positiven Sicht auf die Kirche erwidert. 

Papst Benedikt XVI. (links) mit Bernd Jochen Hilberath (ganz rechts).
Papst Benedikt XVI. (links) mit Bernd Jochen Hilberath (ganz rechts).

Man kann das Schreiben kaum ignorieren – schliesslich erhält es durch den überraschenden Tod von Kardinal Pell eine sakrale Aura. Es ist sein kirchenpolitisches Vermächtnis.

Hilberath: Klar wird damit jetzt Stimmung gegen den synodalen Prozess gemacht. Aber Kardinal Pell hat Synodalität nicht verstanden. Ich könnte mir vorstellen, dass Hans Küng den Zusammenhang von Wahrheit und Geschichte, von Katholizität und Pluralität erläutert hätte.

«Selbst in der Neuzeit, als Rom Uniformität und Einheitlichkeit anstrebte, gab es in Wirklichkeit immer ganz viel Vielfalt.»

Kardinal Pell macht den Zeitgeist für den Reformwillen verantwortlich. Warum glaubt er, dass die Kirche monolithisch ist?

Hilberath: Weil gewisse Kreise seit dem Ersten Vatikanischen Konzil dieses Kirchenbild ständig bemühen. Kirche ist von unten her, von den Gemeinden her gewachsen und war schon immer vielfältig. Bevor das Credo in dem heutigen uns bekannten Wortlaut normiert wurde, gab es unterschiedliche Taufbekenntnisse. Es gab unterschiedliche Liturgien und eben nicht nur eine römische einheitliche Liturgie. Vielfalt gehört per se zum Katholizismus. Selbst in der Neuzeit, als Rom Uniformität und Einheitlichkeit anstrebte, gab es in Wirklichkeit immer ganz viel Vielfalt.

Hearing zum synodalen Prozess im September 2022 in Luzern.
Hearing zum synodalen Prozess im September 2022 in Luzern.

Was bedeutet für Sie Synodalität?

Hilberath: Synodalität ist eine Eigenschaft der Gesamtkirche. Für Papst Franziskus sind Synodalität und Kirche synonym. Wie diese Synodalität gelebt und gesichert wird, ist offen. Dazu steht nichts im Neuen Testament. Am ehesten könnte man sagen: So etwas wie Synodalität zeigt sich im sogenannten Apostel-Konzil der Apostelgeschichte. Nicht einer entscheidet allein, sondern mehrere kommen zusammen und ringen um eine Entscheidung.

«Pells Pamphlet ist völlig daneben.»

Was heisst das für das Lehramt?

Hilberath: Es gibt kein in Stein gemeisseltes Lehramt. Es gibt Bischöfe, die meinen, mit der Bischofsweihe bekämen sie die Kriterien zur Wahrung der apostolischen Tradition eingepflanzt. Sie müssen lernen, dass der apostolische Glaube den theologischen Austausch und die Konfrontation mit der Kirche in der Welt von heute braucht. Von daher ist Pells Pamphlet völlig daneben.

Kardinal George Pell
Kardinal George Pell

Was ist Ihr Gesamteindruck von Pells Schreiben?

Hilberath: Das Schreiben ist intellektuell arm. Das ist weder eine intelligente noch eine wohlwollende Interpretation des Arbeitsdokuments des synodalen Prozesses, sondern eine Abrechnung. Pell zielt auf Kardinal Hollerich – meint aber wohl eher Franziskus.

«Gerade junge Frauen in Indien empfinden in Klöstern nicht nur materielle Sicherheit, sondern auch Schutz vor männlicher Gewalt.»

Macht Pell einen Punkt, wenn er sagt, die Kirche wachse nur in Asien und Afrika – nicht aber in Europa und Amerika?

Hilberath: Hier macht es sich Pell zu einfach. Zum einen: Warum haben wir im Westen und in Lateinamerika eine grosse Kirchenkrise? Die Menschen haben ja nach wie vor spirituelle Bedürfnisse – fühlen sich in der Kirche aber nicht mehr zuhause. Nun aber zu Asien: Die Fakultät in Tübingen hat eine enge Partnerschaft mit der Fakultät Pune in Indien. Wir wissen, dass vielerorts aus materiellen Gründen junge Menschen Priester oder Ordensschwester werden wollen. Gerade junge Frauen in Indien empfinden in Klöstern nicht nur materielle Sicherheit, sondern auch Schutz vor männlicher Gewalt. 

Adam und Eva in einer TV-Verfilmung.
Adam und Eva in einer TV-Verfilmung.

Pell fürchtet die Verdrängung christlicher Vorstellungen wie Vergebung, Sünde, Opfer, Heilung und Erlösung.

Hilberath: Ich weiss nicht, warum die verdrängt werden sollten. Die Zeitschrift «Una Sancta» erarbeitet gerade ein Themenheft zu Sünde und Schuld. Wir haben kontrovers die Frage diskutiert: Sind die Menschen heute noch schuldbewusst und schuldfähig? Die einen sagen, die Leute könnten mit Schuld und Sünde nichts mehr anfangen. Andere sagen: Heute geht es nicht mehr um Sünden wie früher etwa beim Thema Sexualität, sondern um eine andere Sensibilität, etwa in der Klimafrage, im Umgang mit Geflüchteten und Machtverhältnissen – dass es sündige Strukturen gibt. 

"Papa, da ist ein Monster", steht auf diesem Pfeiler in Venedig. Kreuzfahrtschiffe gelten als Umweltsünder.
"Papa, da ist ein Monster", steht auf diesem Pfeiler in Venedig. Kreuzfahrtschiffe gelten als Umweltsünder.

Was bedeutet Pells Brief für den weiteren synodalen Prozess?

Hilberath: Der wird weitergehen und lässt sich von Pells Schreiben nicht beeindrucken. Wohlwollend könnte man sagen: Okay, wir prüfen den ein oder anderen Punkt. Aber Synodalität heisst nun einmal auch, das Evangelium im Hier und Jetzt zu deuten und neue Antworten zu finden. Wenn ich wie Pell der Meinung bin, die Lehre der Kirche steht für Jahrtausende fest, habe ich natürlich ein Problem damit. Aber ein Realitätscheck zeigt: Die Kirche hat sich in den letzten 2000 Jahren immer wieder geändert. 

Die Allmacht der Kleriker ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts
Die Allmacht der Kleriker ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts

Was erwarten Sie von den Bischöfen? Manche Bischöfe wollen offenbar nicht selber nachdenken, sondern verstehen sich als Filialleiter einer römischen Kette.

Hilberath: Das Zweite Vatikanische Konzil hat festgelegt, dass der Bischof die Brücke zwischen der Diözese und der Weltkirche ist. Er hat die Aufgabe, über das Lehramt in seinem Bistum zu wachen – aber auch zu garantieren, dass die Menschen gemäss dem Evangelium leben können. Dass wir vor Ort unterschiedliche Lösungen brauchen, versteht sich von selbst. 

Erzbischof Georg Gänswein (r.) bei der Trauermesse für Benedikt XVI..
Erzbischof Georg Gänswein (r.) bei der Trauermesse für Benedikt XVI..

Georg Gänswein schreibt in seinem Buch, Papst Benedikt XVI. habe sich mutigere Bischöfe gewünscht. «Fragen mangelnder Orthodoxie» liessen sich «am besten vor Ort» lösen – etwa das heisse Eisen Sexualmoral. Allerdings wollten sich die meisten Bischöfe «nicht die Finger verbrennen. Lieber warten sie auf eine Klärung aus Rom», ist dem Gänswein-Buch zu entnehmen. Wie sehen Sie das?

Hilberath: Auch ich würde mir mutigere Bischöfe wünschen. Gerade Bischöfe in Afrika und Asien halten sich mit Vorstössen zurück, etwa bei Gender-Themen. Aber auch das gehört zur Katholizität. Wir alle befinden uns in grossen Lernprozessen. Diesen darf sich kein Bischof verweigern.

Bernd Jochen Hilberath (74) war von März 1992 bis zu seiner Emeritierung 2013 Professor für Dogmatische Theologie und Dogmengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen. Zusammen mit Peter Hünermann hat er «Herders Theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil» herausgegeben.


Ein Bild aus alten Tagen: (von links) Urs Baumann, Hans Küng, Anne Jensen, Bernd Jochen Hilberath und Karl-Josef Kuschel. | © zVg
13. Januar 2023 | 18:01
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