Der Kapuziner Walter Ludin
Kommentar

Walter Ludin: Persönliche Erinnerungen an Joseph Ratzinger

Benedikt XVI. war scheu und doch zugänglich, jedenfalls kein «Panzer-Kardinal». Er konnte kein oberster Brückenbauer sein, doch sein Rücktritt zeugte von innerer Grösse. Ein Kommentar über einen zukunftsweisenden Theologen.

Walter Ludin*

1969 studierte ich Theologie in Solothurn. In den Sommerferien sollten wir uns mit einem freigewählten Buch intensiver auseinandersetzen. Ich wählte Joseph Ratzingers «Einführung in das Christentum», ein damals hochgerühmtes zukunftsweisendes Werk. Ich bereute es nicht, da es mir wertvolle Anregungen vermittelte.

Händeschütteln beim Pressetee

Einige Jahre später verfolgte ich ab 1977 als Berichterstatter die Weltbischofs-Synoden, u.a. für die damalige Katholische internationale Presseagentur Kipa – die zweisprachige Vorgängerin von kath.ch. Jeden Montagabend waren wir deutschsprachigen Medienschaffenden eingeladen zu einem «Pressetee» in den Campo Santo Teutonico – den deutschen Friedhof des Vatikan.

Vatikanfahne am Campo Santo Teutonico
Vatikanfahne am Campo Santo Teutonico

Wir hatten dabei Gelegenheit, mit den in Rom anwesenden Bischöfen und Kardinälen aus dem deutschen Sprachraum in Kontakt zu kommen. Ein einziger von ihnen bemühte sich, jeden einzelnen von uns mit Handschlag zu begrüssen. So tönte es dann recht leise: «Ratzinger …, Ratzinger …, Ratzinger» obwohl bestimmt keiner den Kardinal nicht kannte. Dieser wirkte fast scheu, jedenfalls nicht als «Panzer-Kardinal», wie ihn englische Medien nannten.

Kritische Fragen am Mediengespräch

Es war an einem dieser Mediengespräche: Eine junge Kollegin vom Westdeutschen Rundfunk, braungebrannt, in modischer Kleidung, stellte Ratzinger eine kritische Frage. Einen Tag später hatte mein Freund Ludwig Kaufmann SJ ein Interview mit dem Kardinal. Dieser begrüsste ihn leicht entgeistert: «Wer war diese abenteuerliche Frau gestern?»

Benedikt XVI. mit seinem Bruder Georg Ratzinger (l.) und seinem Sekretär Georg Gänswein (r.) 2008.
Benedikt XVI. mit seinem Bruder Georg Ratzinger (l.) und seinem Sekretär Georg Gänswein (r.) 2008.

Als Ratzinger zum Papst gewählt wurde, schrieb ich in einem Blog von einer unerfreulichen Wahl. Denn Ratzinger könne nicht – wie ein Titel des Papstes lautet – Pontifex Maximus/Oberster Brückenbauer sein. Als Präfekt der Glaubenskongregation habe er unzählige Brücken zu nicht-traditionalistischen Theologen abgebrochen.

Vorwurf der verfrühten Kritik

Es folgt das, was man heute einen «Shitstorm» nennt. Man verfluchte meine «respektlose» Schreibe. Kritisch, aber nicht ehrverletzend war der Brief eines betagten, renommierten Priesters: «Warum so negativ? Gib ihm doch eine Chance!»

Die Theologen Karl Rahner und Joseph Ratzinger (rechts) 1972
Die Theologen Karl Rahner und Joseph Ratzinger (rechts) 1972

Zwei Jahre später hiess es schon etwas zweifelnd: «Langsam sehe ich, dass du Recht hattest.» Nochmals zwei Jahre später antwortete der Priester auf mein Gratulationsschreiben zu seinem 95. Geburtstag: «Lieber Walter, ich sehe, dass du vollkommen Recht hattest!»

Kein «Ratzinger 3» geworden

Wie gern hätte ich Unrecht gehabt. Und Joseph Ratzinger wäre nach den Erwartungen von Walbert Bühlmann – dem Schweizer Theologen und Kapuziner – zu einem «Ratzinger 3» geworden: der erste war der zukunftsweisende Theologe, der zweite der hart durchgreifende Leiter der Glaubenskongregation.

Klostergarten des Kapuzinerklosters in Schwyz
Klostergarten des Kapuzinerklosters in Schwyz

Ich fühlte mich bestätigt, triumphierte aber nicht, als manche, die sehr «benedikttreu» gewesen waren, nach seinem Rücktritt allmählich verlauten liessen, er sei fehl am Platz gewesen.

Doch um positiv zu enden: Der Rücktritt des Ratzinger-Papstes wurde zurecht als grossartige Leistung gewürdigt. Er zeugte von innerer Grösse.

* Der Kapuziner Walter Ludin ist Theologe und Priester. Er arbeitet als Journalist und Autor – und als Blogger bei kath.ch.


Der Kapuziner Walter Ludin | © Georges Scherrer
1. Januar 2023 | 15:40
Lesezeit: ca. 2 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!