Eine überdimensionale Christusfigur in Blau mit gelbem Tuch des Künstlers Harry Seeholzer in München.
Schweiz

Walter Kirchschläger: Jesus war ein Alpha-Mensch

Biblische Erzählungen werden zu oft «linear auf Jesu Tod am Kreuz» hin gedeutet, kritisiert der Exeget Walter Kirchschläger (74). Dies werde der Bibel nicht gerecht. Ein Gespräch über die Fusswaschung als «servant leadership», Jesus am Vierwaldstättersee – und was die Auferstehungsgeschichte für ihn persönlich bedeutet.

Raphael Rauch

Ab wann wusste Jesus, dass er sterben wird?

Walter Kirchschläger*: Jesus ist wie ein ganz normaler Junge zur damaligen Zeit aufgewachsen. Seine Eltern waren religiös, deswegen verbringt er viel Zeit mit der eigenen jüdischen Glaubensüberlieferung und lernt da viel über den jüdischen Gott. Aber bis Jesus Johannes dem Täufer begegnet, war er eigentlich nichts Besonderes.

Walter Kirchschläger, emeritierter Professor für Neues Testament an der Universität Luzern
Walter Kirchschläger, emeritierter Professor für Neues Testament an der Universität Luzern

An Weihnachten feiern wir aber: «Gott wird Mensch».

Kirchschläger: Das ist schön, aber wir sollten die Bibel stärker wie einen Blumenstrauss deuten. Der Ostern-Blumenstrauss besteht nicht nur aus Tulpen, sondern auch aus anderen Frühlingsblumen: aus Narzissen und Osterglocken. Die Bibel besteht aus verschiedenen Blumen, aus verschiedenen Erzählungen.

«Lange Zeit ist doch unklar, was aus Jesus und seinen Jüngerinnen und Jüngern wird.»

Worauf wollen Sie hinaus?

Kirchschläger: Mich stört, wenn wir die biblischen Geschichten immer linear auf den Tod am Kreuz hin deuten. Lange Zeit ist doch unklar, was aus Jesus und seinen Jüngerinnen und Jüngern wird.

Jesus beim Abendmahl
Jesus beim Abendmahl

Wie lange war Jesus ein ganz normaler Mann?

Kirchschläger: Bis zu seinem Tod war Jesus ein ganz normaler Mann, aber die Taufe am Jordan hat ihn verändert. Sie wird für Jesus zum Erweckungserlebnis. Jesus war ein Alpha-Mensch und merkt schnell: Es lohnt sich, für eine andere Welt zu kämpfen und nicht einfach nur dem eigenen Beruf nachzugehen und fertig. Aber auch als Wanderprediger weiss Jesus noch nicht, dass er am Kreuz enden wird.

«Verlagern wir Jesus mal in die Schweiz: Die politischen Entscheide geschehen in Bundesbern.»

Ab wann wird klar: Jesus ist ein Systemsprenger, der die radikale Konfrontation mit den Autoritäten sucht?

Kirchschläger: Mit dem Entschluss, nach Jerusalem zu gehen. Verlagern wir Jesus mal in die Schweiz: Er ist in Luzern und besucht die einzelnen Orte um den Vierwaldstättersee. Da kann er etwas erreichen, spricht die Menschen an – aber die politischen Entscheide geschehen in Bundesbern. Und Jesus, der gegen viele religiöse Gesetze verstösst, beschliesst eines Tages, an Pessach, also zu einem der jüdischen Hauptfeste, nach Bern zu gehen. Und dort wird klar: Die unterschiedlichen Auffassungen zur Religionspraxis führen zur Konfrontation, die Lage eskaliert. Da Jesus davon überzeugt ist, dass er mit seiner Verkündigung die Sichtweise seines Gottes vertritt, ist er nicht bereit, klein beizugeben.

Brauchtum in Romont FR: Die "Pleureuses" am Karfreitag.
Brauchtum in Romont FR: Die "Pleureuses" am Karfreitag.

Weiss Jesus, was ihm blühen wird?

Kirchschläger: Natürlich weiss ich nicht, was Jesus gedacht hat. Aber allein der gesunde Menschenverstand dürfte Jesus gesagt haben: Das kann nicht gut gehen. Dafür hat er sich zu viele Feinde gemacht.

«Jesus, die Leitperson, zeichnet sich durch eine Autorität aus, die von Dienen und Wertschätzung geprägt ist.»

Wie deuten Sie die Fusswaschung?

Kirchschläger: Modern gesprochen ist das «servant leadership» und Synodalität: Jesus, die Leitperson, zeichnet sich durch eine Autorität aus, die von Dienen und Wertschätzung geprägt ist. Mich beeindruckt, dass Bischof Franziskus Menschen aller Religionen die Füsse wäscht.

Jesus (Yavn Sagnet) und seine Jüngerinnen und Jünger beim letzten Abendmahl. Szene aus "Das neue Evangelium" von Milo Rau.
Jesus (Yavn Sagnet) und seine Jüngerinnen und Jünger beim letzten Abendmahl. Szene aus "Das neue Evangelium" von Milo Rau.

Warum sind Sie überzeugt, dass Frauen beim letzten Abendmahl dabei waren?

Kirchschläger: Alles andere macht keinen Sinn. Jesus kam mit zwischen 20 oder 30 Personen nach Jerusalem – nachweislich auch mit Frauen. In Jerusalem wird die Stimmung immer dicker. Die Ablehnung zeigt sich, die Gefahr einer Konfrontation steigt. Die Gruppe rückt immer enger zusammen und man stellt sich die Frage: Wie geht das weiter? Und dass Jesus dann sagt: Ich möchte nur mit zwölf Jüngern feiern und die anderen schicke ich weg, «arrangez-vous» – das glaube ich nicht.

«Petrus ist kein Weichei.»

Warum ist Petrus eigentlich so ein Weichei und verleugnet Jesus?

Kirchschläger: Petrus ist kein Weichei, sondern ein ganz normaler Mensch. Von Flavius Josephus wissen wir, wie die Römer mit Personen umgegangen sind, die einem Verurteilten nahestanden. Die Betroffenen haben die Soldaten vor dem Angesicht des Verurteilten kurz und klein gemacht, inklusive Familien, inklusive Frauen, inklusive Kinder. Es ist doch verständlich, dass er in der Situation sagt: Ich gehöre nicht dazu.

War es politisch klug, dass Petrus Jesus verleugnet hat?

Kirchschläger: Natürlich gibt es Menschen, die auch in dieser Situation sagen: Ich stehe dazu. Interessant ist doch die Frage: Wieso erzählen alle vier Evangelisten zu einem Zeitpunkt, als Petrus bereits den Märtyrertod gestorben ist, die Episode?

«In einer Königsbiographie würden alle dunklen Flecken wegretuschiert.»

Petrus als gebrochener Held macht die Geschichte spannender.

Kirchschläger: Die Geschichte ist spannender, aber es heisst doch auch: Die Kirche ist keine Gemeinschaft der perfekten Welt, sondern wir alle haben einen Platz darin. In einer Königsbiographie würden alle dunklen Flecken wegretuschiert. Von daher ist Petrus eine sehr glaubwürdige Figur.

Schule Lucas Cranachs d. Ä., Die Auferstehung Christi und der Triumph des Auferstandenen über Tod und Teufel, 1537, Kunstmuseum Basel, Inv. 180.
Schule Lucas Cranachs d. Ä., Die Auferstehung Christi und der Triumph des Auferstandenen über Tod und Teufel, 1537, Kunstmuseum Basel, Inv. 180.

Wusste Jesus, dass er auferstehen wird?

Kirchschläger: Ich gehe zunächst von seiner Todesgewissheit aus. Sein Verhalten am letzten Abend seines Lebens, insbesondere die Art, wie er mit seiner Gemeinschaft ein Abschiedsmahl feiert, lässt zusätzlich auf eine Todeszuversicht schliessen. Und Jesus stirbt in dem Grundvertrauen, dass Gott ihn nicht allein lässt. Ich würde nicht gleich schon sagen, das heisst Auferstehung. Aber Jesus stirbt sicher nicht verzweifelt und auch nicht in Gottesferne. Wir hören ja manchmal immer nur den Satz: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» Als jüdischer Mensch hat Jesus in der Todesstunde den Psalm 22 meditiert. Aber in der zweiten Hälfte dieses Psalmes geht es nach der Darlegung der eigenen Not vor allem um Hoffnung und Vertrauen auf das rettende Handeln Gottes.

«Jesus sagt: ‘Es ist vollendet’ – und stirbt. Spätestens ab diesem Moment kann nur Gott handeln.»

Wann passiert der entscheidende Moment und Jesus erkennt die Ausweglosigkeit der Situation?

Kirchschläger: Das geschieht wohl mit der Gefangennahme. Laut dem Johannes-Evangelium sagt Jesus als letztes Wort am Kreuz «Es ist vollendet» – und stirbt. Spätestens ab diesem Moment kann nur Gott handeln. Wenn Gott jetzt nicht handelt, endet diese Theodramatik tatsächlich in einer Katastrophe, wie das Hans Urs von Balthasar genannt hat.

Liturgie mit Liebe: Priorin Irene Gassmann feiert im Kloster Fahr die Karfreitagsliturgie.
Liturgie mit Liebe: Priorin Irene Gassmann feiert im Kloster Fahr die Karfreitagsliturgie.

Und Gott handelt und wir werden durch Jesu Tod erlöst?

Kirchschläger: Das ist eine mögliche Deutung des Geschehens: Jesus ist am Kreuz gestorben, ein furchtbares Geschehen, schrecklich, grausam. Die Menschen um Jesus müssen dem einen Sinn geben. Und aus dem Ganzen, was vorher sonst in den Schriften steht, kann gesagt werden: Das ist ein Opfertod für uns.

«Es geht um ein Gottesbild, das in den Geschichtsverlauf eingreift.»

Als moderner Mensch kann man mit diesem Opfer wenig anfangen.

Kirchschläger: Die Menschen waren zur Zeit Jesu näher dran an den alttestamentlichen Vorstellungen und Deutungsmöglichkeiten als wir heute. Es geht um ein Gottesbild, das in den Geschichtsverlauf eingreift und auch straft. Ein Paulusschüler schreibt im Kolosser-Brief: Jesus hat den Schuldschein am Kreuz zerrissen, er ist für unsere Schuld gestorben. Für die Menschen damals hat das Sinn ergeben.

Jesus am Kreuz vor dem Osterfeuer in Chur
Jesus am Kreuz vor dem Osterfeuer in Chur

Wie stellen Sie sich Ostern vor?

Kirchschläger: Der Zugang führt sicher nicht über ein wirkliches Verständnis. Und sicher nicht über eine historisierende Lesung oder Aufnahme der Texte. Ostern hat nur dann eine Chance, wenn ich die biblischen Texte, die in der Liturgie dieser Tage vorgetragen werden, als ganz verschieden gefärbte Elemente verstehe, die ein einzigartiges Geschehen begreifbar machen möchten. Verstehen ist mir schon zu viel – es geht darum, uns einen Zugang zu erschliessen: Was möchten mir die einzelnen Verfasser über diesen Jesus von Nazareth, über sein Leben, seinen Tod und seine Auferstehung und damit letztlich auch über das Verhältnis Gottes zum Menschen, zur Welt sagen? Dazu gehört aber auch, Unterschiede stehen zu lassen. Ich darf nicht harmonisieren, wie wir das so gerne getan haben in unserer biblischen Geschichte.

«Jesus hat ohne Kompromisse gelebt, koste es, was es wolle.»

Und was heisst das jetzt konkret?

Kirchschläger: Ich stelle mir Jesus als einen Menschen vor, der von seiner Lebensaufgabe klar überzeugt war. Und der diese Lebensaufgabe wie Menschen vor oder nach ihm konsequent gelebt hat: ohne Kompromisse, koste es, was es wolle. Und Jesus hat deutlich gemacht, dass er das nicht nur aus eigenem Antrieb heraus macht, sondern das an seine Gottesbeziehung gebunden ist.

"Lumen Christi": Das Osterfeuer steht für die Auferstehung, das "Licht Christi".
"Lumen Christi": Das Osterfeuer steht für die Auferstehung, das "Licht Christi".

War Jesus dann überhaupt Gottes Sohn?

Kirchschläger: Jesus stand in einem einzigartigen Verhältnis zu Gott – und zwar in einem familiären Beziehungsverhältnis. Das ist ein durchgehender Befund durch die biblischen Schriften und ich habe keinen Grund und keine Berechtigung, an diesem Befund zu kratzen. Und Gottes Sohn kann auch anderes und mehr heissen, als dass Sie und ich die Söhne unserer Väter sind. Das kann man als gesetzt voraussetzen.

«Es geht um ein neues Leben ‘in Überfülle’.»

Und wie deuten Sie für sich die Auferstehungsgeschichte, ganz persönlich?

Kirchschläger: Das Geschehen von Tod und Auferstehung Jesu führt zur grundlegenden Einsicht der Zuwendung Gottes zu uns Menschen. Angesichts der Tragödie des gewaltsamen Todes Jesu erschliesst sich Gott als der eine, der über den Tod hinaus neues Leben «in Überfülle» geben kann und will, wie das Johannes-Evangelium berichtet. Spätestens damit wird Ostern für jede und jeden von uns zum fundamentalen Rettungsgeschehen.

* Walter Kirchschläger (74) ist emeritierter Professor für Neues Testament der Uni Luzern.


Eine überdimensionale Christusfigur in Blau mit gelbem Tuch des Künstlers Harry Seeholzer in München. | © KNA
16. April 2022 | 09:45
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