Der Gratzug in einem Werk der Oberwalliser Künstlerin Katrin Riesterer-Imboden.
Religion anders

Walliser Sagenerzähler: «Ich glaube nicht an Geister, ich erzähle lieber über sie»

Andreas Weissen ist Sagenerzähler aus Brig. Den Oberwalliser haben die heimatlichen Geschichten schon als Kind fasziniert. Diese gewisse «Lust an der Angst» findet er spannend und die Wurzeln der eigenen Sprache. Diese ist im Übrigen auch in der Begegnung mit Geistern wichtig.

Sarah Stutte

Wie wird man eigentlich Sagenerzähler?
Andreas Weissen*: Nun in meinem Fall war es so, dass ich als Kind ganz begeistert von den Walliser Sagen des Mundarterzählers Karl Biffiger war, die dieser in den 60er-Jahren im Radio zum Besten gab. Er war ein genialer Erzähler, der die Geschichten in einem speziellen Singsang vortrug. Das hat mir gefallen.

Auch meine Mutter berichtete mir von Abenteuern, die sie als Bergsteigerin sowie aus ihrer Zeit als  professionelle Schmugglerin während des 2. Weltkriegs gehört und erlebt hatte. Mit neun Jahren habe ich im Pfadfinderlager dann angefangen, selbst Geschichten zu erzählen.

Der Oberwalliser Sagenerzähler Andreas Weissen
Der Oberwalliser Sagenerzähler Andreas Weissen

Wovon handeln Oberwalliser Sagen?

Weissen: Es gibt viele Alp- und Bauernsagen, in denen es um Naturkatastrophen geht, wie beispielsweise die Rollibock-Sage. Viele sahen darin eine Strafe Gottes, weil bestimmte Gebote nicht eingehalten wurden. Schuldige mussten gefunden werden – wie die Hexen, die man verfolgte und tötete.

«Sagen über Pfarrer und Tanzveranstaltungen waren der Geistlichkeit ein Dorn im Auge.»

Daneben gibt es auch Sagen über Pfarrer oder über Tanzveranstaltungen, welche die Geistlichkeit nicht gerne gesehen hat. An heimlichen Tanzabenden tauchte anscheinend oft der Teufel auf, in Form einer bildhübschen Frau oder eines schönen Mannes. Doch meistens verriet er sich, bevor er eine Seele fangen konnte. 

Leben mit den Toten. Das Beinhaus in Leuk.
Leben mit den Toten. Das Beinhaus in Leuk.

Was fasziniert Sie an diesen Geschichten?

Weissen: Das Unheimliche und eine gewisse Lust an der Angst. Die Frage, wieviel ich vertragen kann. Wenn Karl Biffiger am Radio erzählte – das höre ich oft von älteren Walliserinnen und Wallisern – haben alle die Füsse unter dem Tisch hochgehoben, weil sie nicht sicher gewesen sind, ob der Teufel nicht schon dort sitzt und einen von ihnen packt.

Auch die Vorstellung der Gletscher-Rückkehrer ist furchteinflössend. Dass nur über die Erzählung so viele Bilder im Kopf entstehen können, finde ich spannend. Mich reizt der Umgang mit der Sprache. Ich glaube nicht an Geister, ich erzähle lieber über sie.

«Das Fegefeuer ist nicht überall ein heisser Ort.»

Was hat es mit den Gletscher-Rückkehrern auf sich?

Weissen: In den Sagen aus dem Wallis, aber auch in Uri oder im Tal von Chamonix ist das Fegefeuer kein heisser Ort, sondern ein eisig kalter. Die meisten Menschen müssen nach dem Tod im Gletschereis für ihre Verfehlungen büssen und sich läutern. Zu gewissen Zeiten im Jahr verlassen die  armen Seelen den kalten Reinigungsort und können Lebenden begegnen. Manchmal benötigen sie von uns Hilfe, etwas Unvollendetes zu beenden. Manchmal möchten sie auch nur, dass wir für sie beten.

Unterwegs auf dem Gletscher. Szene aus dem Film «Winna - Weg der Seelen»
Unterwegs auf dem Gletscher. Szene aus dem Film «Winna - Weg der Seelen»

Wie begegnet man den Toten?

Weissen: Es ist wichtig, sie mit ganz bestimmten Formeln anzureden. «Ich gebe dir den Atem, aber das erste und letzte Wort gehört mir. Ich helfe dir gerne, aber es soll nicht mir und auch nicht dir zum Schaden sein. In Gottesnamen, sag, was du willst». Man muss mit den Toten die eigene Atemluft teilen, um mit ihnen ein Gespräch führen zu können.

«Manchmal reicht ein Kreuzzeichen mit der Zunge, um böse Geister fernzuhalten.»

Um böse Geister von sich fernzuhalten, wird Gott angerufen oder das Kreuzzeichen gemacht. Falls man sich nicht mehr bewegen kann, reicht auch ein Kreuzzeichen mit der Zunge.

Die "Armen Seelen"-Werke der Oberwalliser Künstlerin Katrin Riesterer-Imboden.
Die "Armen Seelen"-Werke der Oberwalliser Künstlerin Katrin Riesterer-Imboden.

Glauben im Wallis viele Menschen an Geister?

Weissen: Früher waren es viele, heute sind es wenige. Weit verbreitet war die Überzeugung, dass nach dem Tod nicht einfach alles beendet ist. Man glaubt auch, dass es Menschen gibt, die eine besondere Sensibilität gegenüber den Verstorbenen und der Geisterwelt haben. In der Regel die sogenannten Quatemberkinder, die in vier bestimmten Wochen des Kirchenjahres geboren wurden – in den Wochen nach dem Aschermittwoch, nach Pfingsten, nach der Kreuzerhöhung (14. September) und nach Sankt Luzia (13. Dezember)  oder an speziellen Tagen wie Allerseelen.

«Die armen Seelen reisen auf klar definierten Routen.»

Wann wandern die armen Seelen vom Aletsch herunter?

Weissen: Der Gratzug oder die Totenprozession ist in den Quatemberwochen unterwegs. Dabei kommen die Toten, die sich zu Lebzeiten etwas zu Schulde haben kommen lassen, vom Gletscher herunter in die Dörfer. Die armen Seelen legen dabei eine bestimmte Route zurück. Auf diesen Strecken darf kein Zaun geschlossen sein und nichts im Weg stehen. Die Zeit der Geister dauert von Mitternacht bis am frühen Morgen um 5 Uhr.

Der Aletschgletscher im Wallis
Der Aletschgletscher im Wallis

Im Lötschental verkleiden sich traditionsgemäss in der Fasnachtszeit Männer mit Masken aus Arvenholz, Ziegen- oder Schaffellen und ziehen mit Kuhglocken durch die Gassen der fünf Gemeinden. Soll dieser Brauch der «Tschäggättä» wirklich Geister vertreiben?

Weissen: Bis heute weiss niemand ganz genau, wie dieses Brauchtum entstanden ist und was die «Tschäggättä» bedeuten. Einige glauben, damit würde der Winter vertrieben. Doch der Brauch ist Jahrhunderte alt und damals dauerten die Winter noch länger als nur bis zum Februar. Der Volkskundler Werner Bellwald widerlegte in seiner Doktorarbeit über die «Tschäggättä» alle sieben Thesen zu deren Ursprung. Das ist ein stark ritualisierter Fastnachtsbrauch, aber Geister werden damit nicht in die Flucht geschlagen.

Wie ist das Sagenerzählen entstanden?

Weissen: Als Abendunterhaltung. Alle kamen in der Stube zusammen und unterhielten sich bei Kerzenschein, auch über kürzlich Verstorbene. Oftmals hiess es dann, ihr Tod wurde angekündigt. In der Nacht, in der eine Frau im Spital verstarb, hörte man Schritte in dem Haus, in dem sie lebte oder eine Tür, die mehrmals zuschlug.

Bergkette im Wallis.
Bergkette im Wallis.

Ein anderes Mal blieb eine Uhr stehen, genau in der Todesstunde eines Angehörigen. Diese Geschichten wurden dann von Generation zu Generation weiter erzählt.

«Viele Sagen haben wohl einen wahren Kern.»

Der Forscher Josef Guntern wanderte in den 60er-Jahren in alle Oberwalliser Gemeinden und fragte nach Erzählerinnen und Erzählern. Er hat allen interviewten Personen dabei auch die Frage gestellt, ob sie daran glaubten. Die häufigste Antwort war: Ich weiss es nicht so genau. Aber der Vater und die Grossmutter, die Tante und der Onkel, die diese Sagen erzählt haben, waren keine Lügner. Es muss also einen wahren Kern geben.

Haben Sie eine Lieblingssage?

Weissen: Ja. 1872 brachten die beiden Pfarrer Moritz Tscheinen und Peter Joseph Ruppen – der auch Domherr im Bistum Sitten war – zwei Bände mit Walliser Sagen heraus.

Walliser Szenerie
Walliser Szenerie

Darin gibt es eine Geschichte, in welcher der Pfarrherr von Blatten im Lötschental einen Mann zu sich kommen lässt, der sonntags nie die Messe besucht. Als dieser in der Sakristei eintrifft, zieht er seinen Hut ab. In diesem Moment bricht ein Sonnenstrahl durchs Fenster herein, und der Mann hängt seinen Hut an diesen Sonnenstrahl. Daraufhin sagt der Pfarrer zu ihm: Ich sehe, du brauchst keine Messe.

«Sonntags kam der Pfarrer mit auf den Berg, damit niemand die Messe verpasste.»

Warum gefällt Ihnen diese Geschichte?

Weissen: Vermutlich, weil ich selbst noch in einer sehr katholischen Welt aufgewachsen bin und es als schwere Sünde galt, sonntags die Messe zu schwänzen. Als meine Mutter mit dem Frauen-Alpen-Club auf das Bietschhorn gestiegen ist, hatten sie einen Geistlichen mit dabei, um die Messe zu lesen. Sonst wäre es nicht in Frage gekommen, den Berg an einem «heiligen» Sonntag zu besteigen.

*Andreas Weissen (66) ist in Brig geboren und aufgewachsen. Seit über 30 Jahren steht er als Sagenerzähler mit diversen Soloprogrammen auf der Bühne. Als solcher trat er 2014 auch in Fabienne Mathiers Dokumentarfilm «Winna – Weg der Seelen» auf. Darin geht es um Sagen und Mythen zum Thema Seelenwanderungen und um Menschen, die Verstorbenen begegnet sind.

Der Gratzug in einem Werk der Oberwalliser Künstlerin Katrin Riesterer-Imboden. | © zVg, miis-atelier.ch
4. Februar 2023 | 05:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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