Harald Rein
Schweiz

Von Macht, Missbrauch und Wahrheit in den Religionen

Bern, 18.11.217 (kath.ch) Die brisante Frage nach dem Wahrheitsanspruch der Religionen wurde am Freitag im Haus der Religionen in Bern diskutiert. Auf dem Schlusspodium ging es ausserdem um das Verhältnis von Religion und Macht.

Vera Rüttimann

Die religiöse Vielfalt und das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften stellen Staat und Gesellschaft in diesen Zeiten vor grosse Herausforderungen: Wie weit darf der Wahrheitsanspruch der Religionsgemeinschaften gehen? Wo sind die Grenzen der Toleranz und was macht die Macht mit der Spiritualität? Solche Fragen wurden an der Tagung mit dem Titel «Wenn meine Wahrheit nicht deine ist» diskutiert.

Dazu eingeladen hatten der «Schweizerische Rat der Religionen» (SCR) und das Institut für Christkatholische Theologie  der Universität Bern in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Theologischen Gesellschaft und dem Verein Haus der Religionen.

Macht versus Spiritualität

Auf dem Schlusspodium mit Fachleuten aus vier Religionen nahm die Frage, was die Macht mit einer Religionsgemeinschaft beziehungsweise einer Kirche macht, einen grossen Stellenwert ein. Die Geschichte zeige, so Rifa’at Lenzin, Islamwissenschaftlerin und Präsidentin von «Iras Cotis», dass Religion und Macht oft eine unheilige Allianz eingegangen seien. «Religionen können sich nur halten, wenn sie eine Machtposition haben und sich in Strukturen einbringen können, die auch politische oder gar militärische Macht haben.» Oder wenn Religion vom Staat in einer tödlichen Umklammerung gehalten werde, wie das Beispiel des Modells «Kirche im Sozialismus» in der DDR gezeigt habe.

Religionen können sich nur in Machtpositionen halten.

Eine Religion, die sich mit weltlicher Macht durchsetze, entgegnete Alfred Bodenheimer, Professor am Zentrum für Jüdische Studien in Basel, gewinne zwar an Gewicht in der Gesellschaft, drohe aber ihren spirituellen Wert zu verlieren. Der Germanist führte aus: «Sie verlieren oftmals dann genau das, was Menschen eigentlich religiös sein lässt, weil sie überzeugt sind von Werten, nicht aber, weil sie überwältigt werden von der Macht einer Religionsgemeinschaft.»

Harald Rein und Murali Thiruselvam | © Vera Rüttimann

Harald Rein, Bischof der Christkatholischen Kirche der Schweiz, und Mitglied im Schweizerischen Rat der Religionen, hält den Faktor Macht nicht per se für etwas Negatives. Nur, wenn Macht als gewaltsame Bekehrung verstanden wird, erhält sie für den Christkatholiken eine negative Komponente. Macht heisst für Rein auch, Einfluss auf ethische Werte zu nehmen. «Es ist für mich klar, dass Kirche und Religionen ihre Werte vorleben müssen und sie auch nach aussen vertreten sollen», betonte er. In diesem Punkt sieht der Bischof der Christkatholischen Kirche der Schweiz denn auch die aktuelle Schwäche des Christentums in Europa. Harald Hein: «Es geht um die moralische Stärke, den eigenen Glauben zu leben, nicht um Macht.»

Missbrauchte Macht

Alle Referenten auf dem Podium waren sich einig, dass Macht und Missbrauch in der Religion nahe beieinanderliegen. Das konnte auch Murali Thiruselvam, Priester der Hindugemeinschaft im Haus der Religionen, bestätigen, der über die Erfahrungen der Hindus während der Kolonialzeit sprach. Rifa’at Lenzin betonte: «Religion kann immer missbraucht werden. Sie ist nicht per se gut. Sie ist etwas sehr Menschliches, auch wenn wir Religion göttlich verorten. Dennoch lässt sie sich leicht missbrauchen. Das liegt im Wesen der Religion selber.»

Religion kann immer missbraucht werden.

Harald Rein fügte in diesem Kontext an, dass Macht in jeder Kirchenstruktur missbraucht werde könne, egal ob sie demokratisch oder hierarchisch daherkomme. «Das hängt auch von Persönlichkeiten und Situationen ab», wie er aus Erfahrung wisse.

Alfred Bodenheimer | © Vera Rüttimann

Wo in diesen Tagen über Wahrheit diskutiert wird, ist das Thema Fake-News nicht weit. Fake-News sorgen, so Alfred Bodenheimer, auch unter Anhängern von Religionsgemeinschafen aktuell für grosse Orientierungslosigkeit. Gerade deshalb sei es für den Einzelnen zwingend notwendig, für sich eine eigene Position zu finden, damit man in der Lage sei, klare Antworten zu geben, wenn es darauf ankäme. Wahrheit ist für Alfred Bodenheimer deshalb nicht nur das, was sich empirisch beweisen lässt, sondern auch eine Verpflichtung zur ethischen Authentizität.

Wahrheiten versus Präferenzen

Moderatorin Sara Kviat Bloch, Mitglied des SCR, warf auf dem Podium die Frage auf: «Sind Kompromisse eher möglich, wenn Religionsgemeinschaften statt absolute Wahrheiten nur ethische Präferenzen einfordern?» Dieser Vorschlag stiess auf klare Ablehnung. Für Alfred Bodenheimer klingt das Wort «Präferenz» zu beliebig. Für den Basler Universitätsprofessor sind religiöse Menschen in den meisten Fällen Überzeugungstäter. Er betonte: «Es geht auch darum, was Gläubige der nachfolgenden Generation weitervermitteln können. Da finde ich es wichtig, sagen zu können: Wir leben für etwas, für das wir einstehen können.» Und das heisse für ihn, «wir betrachten es als wahr.»

Die Schweiz ist nicht bereit, andere Werte zuzulassen.

Lenzin wandte an dieser Stelle jedoch ein, dass in einer säkularisierten Gesellschaft wie dieser der Wert der Wahrheit nicht mehr derselbe sei wie früher, weil heute viele nach ihren eigenen Bedürfnissen leben würden und sich ihre Patchwork-Religion zusammenstellten.

Friedlich, aber nicht gleichberechtigt

«Ist eine durchmischte Gesellschaft automatisch auch eine friedlichere Gesellschaft?», wollte Kviat Bloch weiter wissen. Lenzin verneinte mit dem Argument, dass mehr Pluralität das Leben vieler Menschen auch komplexer mache.

Schlusspodium zum Thema «Wahrheit in den Religionen» | © Vera Rüttimann

Die Islamwissenschaftlerin wähnt sich zwar in der Schweiz in einer friedlichen Gesellschaft, nicht aber in einer gleichberechtigten. «Die Schweiz ist noch immer eine sehr homogene Gesellschaft, die eigentlich nicht bereit ist, andere Werte zuzulassen», beobachtet sie. Sie sei oft erstaunt bei interreligiösen Debatten, wieso manche Schweizer nicht stärker den Prozess der Annäherung zwischen Reformierten und Katholiken im Fokus hätten. Auch dort sei der Weg der Annäherung lang und steinig gewesen. Lenzin hofft, das mit den Muslimen nicht derselbe Fehler gemacht werde wie bei den Reformierten.

Harald Rein betonte in diesem Zusammenhang, warum der interreligiöse Dialog heute wichtiger denn je sei. Oft sei jede Kirche derart mit sich selber beschäftigt, dass sie nicht ausreichend genug mitkriege, wie schnell sich die Welt um sie herum verändere. Deshalb sei es elementar wichtig, von anderen Kirchen und Religionen zu lernen und mit ihnen zum gemeinsamen Handeln zu kommen. Harald Hein hofft: «Angesichts der globalen ethischen Herausforderungen muss heute im interkonfessionellen Dialog mehr möglich werden.»

Harald Rein | © Vera Rüttimann
18. November 2017 | 11:13
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