Diskussions-Lunch "Religion und Gewalt"
Schweiz

Verunsicherte Menschen verwechseln Religion und Ideologie

Zürich, 7.10.16 (kath.ch) Gewalt, die im Namen der Religion verübt wird, zeugt von der Unsicherheit, welche eine sich verändernde Gesellschaft auslöst. Religion und Ideologie werden vermischt. Das ergab eine Podiumsdiskussion des Zürcher Instituts für interreligiösen Dialog, die am Freitag in Zürich stattfand.

Georges Scherrer

Mittagessen und vertiefendes Gespräch: Das vereinigte der Diskussions-Lunch «Religion und Gewalt», den das Zürcher Institut für interreligiösen Dialog (ZIID) aus Anlass der Eröffnungswoche des Zürcher «Kulturpark» organisierte. Diese neue Überbauung in Zürich vereinigt Arbeiten, Wohnen, Bildung und Kultur in seinen Räumen und will die verschiedenen Akteure vernetzen. Auch mehrere kirchliche Einrichtungen sind hier untergebracht, darunter das Katholische Medienzentrum.

Das Gewalt- beziehungsweise Friedenspotential der monotheistischen Religionen standen im Zentrum des Gesprächs, welches vom Direktor des Katholischen Medienzentrums, Charles Martig, geleitet wurde. Beim Wort Gewalt atmete Rifa’at Lenzin, Fachleiterin Islam beim ZIID, tief durch und erklärte, das Verhältnis Gewalt und Islam beschäftige sie seit zwanzig Jahren. Diese weit verbreitete Behauptung habe sich derart in das Bewusstsein der Muslime eingegraben, dass viele von ihnen unterdessen tatsächlich glaubten, Islam und Gewalt gehörten zusammen.

Michel Bollag, Leiter des Fachbereichs Judentum beim ZIID, meinte, die Wurzeln zur religiösen Gewalt würden nicht in der Religion liegen, sondern beim Menschen. Wenn die Theologie heute beim Thema «Relgion und Gewalt» in die Offensive gehen wolle, dann müssten die Theologen an ihrer Theologie arbeiten. Es sei jedenfalls ungenügend, wenn die Religion einerseits als «friedfertig», andererseits als «gewalttätig» bezeichnet werde.

Ein Stückwerk zwischen den Paradiesen

Der dritte Gesprächspartner in der Runde, Samuel Behloul, Fachleiter Christentum beim ZIID, erklärte, alle Religionen würden ein Gewaltpotential in sich bergen. Das Konfliktpotential liege im Umstand, dass die monotheistischen Religionen die Wirklichkeit als «defizitär» ansähen, weil diese sich von den idealen Ursprüngen, dem «Paradies», entfernt habe. Gleichzeitig sei die Menschheit weit entfernt vom paradiesischen Endzustand. Die Menschheit sei in dieser Sichtweise ein «Stückwerk».

Gewalt, die im Namen der Religion verübt werde, sei immer Teil der Gewaltgeschichte der Menschen, meinte Behloul. Er grenzte zudem Ideologie von Religion ab. Das «Reich Gottes» könne nicht durch einen «Umsturz» herbeigeführt werden. Ideologien hingegen setzten den Menschen in den Mittelpunkt, indem sie diesen zum Handeln «selbstermächtigen». Dies treffe für Fundamentalisten wie etwa dem Islamischen Staat zu. Sie würden sich Gott zur Verwirklichung ihrer Absichten «aneignen».

Das Paradox der Gewalt

Ein etwas anderes Bild zeichnete Rifa’at Lenzin für den Islam. In dessen Auffassung ist der Mensch ein Werk Gottes. Der Muslim verstehe seinen Glauben als Hingabe und Unterwerfung. Dieses Weltbild unterscheide sich deutlich von dem der Christen. Gewalt könne positiv wie negativ verstanden werden, warnte die Islamwissenschaftlerin. Dieses Paradox beschreibe die englische Sprache mit den Worten «power» und «violence». «Wann gibt es eine gute Gewalt und wann darf sie zum Tragen kommen?», fragte die Muslimin. In der Schweiz werde die «Staatsgewalt» als positive Gewalt angesehen, ergänzte  Gesprächsleiter Charles Martig illustrierend.

Mit Hinweis auf die Jihadisten sprach Behloul von einer «Schleudersitzislamisierung». Die meisten jungen Menschen, welche in den Nahen Osten reisten, um dort zu kämpfen, seien vor ihrem «religiösen Einsatz» kaum religiös gewesen. Sie bekämen ihr religiöses Wissen in einer Schnellbleiche verabreicht.

Disruptive Gesellschaft als Chance für die Religionen

Die drei Podiumsteilnehmer zeigten sich überzeugt, dass in den Heiligen Schriften der drei monotheistischen Religionen durchaus ein Friedenspotential vorhanden sei. «Es kommt nur darauf an, mit welcher Absicht man diese Schriften liest», meinte Lenzin. Es gehe nicht an, sich bei seiner Handlungsweise auf einzelne herausgegriffene «Zitate» festzulegen. Bei der Lektüre der Schriften dürfe «der Mensch nicht ausgeklammert» werden, forderte Belhoul.

Angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung würden die Religionsgemeinschaften vor grossen Herausforderungen stehen. Das Schlagwort «disruptive Gesellschaft» fiel, das heisst, die Verunsicherung, welche durch gewaltige Veränderungen in den Bereichen Umwelt, Roboterisierung der Arbeitswelt und Globalisierung ausgelöst wird. Die Religionen seien lernfähig, meinten die Podiumsteilnehmer. Sie können Antworten finden auf die gewalttätigen Reaktionen, welche durch die gesellschaftlichen Brüche verursacht würden.

Diskussions-Lunch «Religion und Gewalt» | © 2016 Georges Scherrer
7. Oktober 2016 | 17:45
Lesezeit: ca. 3 Min.
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