Der Priester Nazar Zatorskyy in der Krypta der Zürcher Liebfrauenkirche.
Schweiz

Ukrainischer Priester in Zürich: «Putin ist ein armseliger Mensch»

Heute beginnt in den Ostkirchen die Fastenzeit. Der Priester Nazar Zatorskyy (42) koordiniert die ukrainische Seelsorge in der Schweiz. Er hofft darauf, «dass bis Ostern für die Ukraine die Auferstehung kommt». Die Ostpolitik des Vatikans hält er für einen Misserfolg.

Raphael Rauch

Was bedeutet für Sie die Fastenzeit in Zeiten des Krieges?

Nazar Zatorskyy*: Wir erleben nicht nur die Leiden, die Kreuzigung und den Tod Christi. Sondern die Ukraine ist auf dem Weg nach Golgotha. Die Ukraine blutet genauso, wie Christus geblutet hat. Wir hoffen, dass bis zu Ostern auch für die Ukraine die Auferstehung kommt.

«Die wahren Helden sind die ukrainischen Soldaten.»

Ist der ukrainische Präsident Selenskyj für Sie ein Held, gar eine moderne Passionsfigur?

Zatorskyy: Hören Sie mir auf mit Selenskyj! Die wahren Helden sind die ukrainischen Soldaten, die gegen die übersteigenden russischen Streitkräfte an der Front kämpfen. Und Selenskyj macht gerade seinen Job – das würde jeder andere ukrainische Präsident in einer solchen Situation auch tun. Selenskyj ist seit 2019 an der Macht und hätte mehr tun müssen, damit die ukrainische Armee besser ausgestattet ist. Aber es ist sehr gut, dass er in der Hauptstadt bleibt und den Menschen Mut und Hoffnung macht.

Nazar Zatorskyy
Nazar Zatorskyy

Und Vitali Klitschko?

Zatorskyy: Auch Vitali Klitschko macht als Bürgermeister von Kiew den Menschen Mut und Hoffnung. Aber auch hier warne ich vor einer Heiligsprechung. Es gab vor dem Kriegsbeginn Korruptionsvorwürfe gegen ihn.

Friedensglocke in Davos
Friedensglocke in Davos

Am Mittwoch läuten um 10 Uhr schweizweit die Glocken. Wie werten Sie dieses Zeichen der Solidarität?

Zatorskyy: Sehr positiv. Jedes Zeichen der Solidarität ist wichtig: in den sozialen Medien, durch die Teilnahme an Demonstrationen, durch das Tragen der ukrainischen Flagge – oder eben durch das Glockengeläut. Solche Gesten zeigen, dass die Menschen weltweit diesen brutalen und ruchlosen Angriff verurteilen und an der Seite der Opfer stehen.

«Wir machen gerade eine emotionale Achterbahn durch.»

Wie geht es Ihnen persönlich?

Zatorskyy: Schlecht. Wir machen gerade eine emotionale Achterbahn durch: von tiefster Trauer und Betroffenheit bis hin zur Hoffnung, dass sich doch noch eine schnelle Lösung findet. Diese Achterbahn ist sehr kräftezehrend.

«Wir wollten nicht wahrhaben, dass Putin sein russischer Chauvinismus wichtiger ist als das Wohlergehen seines eigenen Volkes.»

Wie haben Sie den Kriegsbeginn erlebt?

Zatorskyy: Wir haben die Katastrophe kommen sehen – und doch nicht damit gerechnet, dass Putin unser Land angreift. Wir wollten nicht wahrhaben, dass Putin sein russischer Chauvinismus wichtiger ist als das Wohlergehen seines eigenen Volkes. Putin schadet mit dem Krieg nicht nur der Ukraine, sondern auch Russland.

Ich war bei Ihnen im Sonntagsgottesdienst. Ich spreche kein Ukrainisch und habe in Ihrer Predigt nur das griechische Wort «Holocaust» aufgeschnappt.

Zatorskyy: Am Sonntag vor der Fastenzeit stehen Vergebung und Versöhnung im Zentrum. Ich habe in meiner Predigt eine Holocaust-Überlebende zitiert. Sie hatte ihre ganze Familie im Konzentrationslager verloren. Jahrzehnte später wurde sie gefragt, wie sie trotz all der Gräuel ein so hohes Alter erreicht hat. Und sie hat geantwortet: weil ihnen verzeihen konnte. Viele seien gestorben, weil der Wut und der Hass sie von innen aufgefressen habe. Ich verstehe, dass die Menschen nicht im Nu verzeihen können, weil die Wunde viel zu sehr schmerzt. Es wird viel Zeit brauchen. Aber ich habe zu den Gläubigen gesagt: Wir müssen verzeihen. Nicht, weil die Angreifer das verdienen, sondern weil wir verdienen, ohne Hass und Wut im Herzen zu leben.

Pro Alexej Nawalny, contra Putin: eine Protestaktion im Juni 2021 in Genf.
Pro Alexej Nawalny, contra Putin: eine Protestaktion im Juni 2021 in Genf.

Können Sie Putin verzeihen?

Zatorskyy: Das Einzige, was ich für Putin empfinde, ist tiefstes Mitleid. Putin ist ein armseliger Mensch. Er hat keine Freunde und niemanden, dem er trauen kann. Er setzt sich mit seinen Gästen an einen riesigen Tisch und hält sie auf Distanz. Putin ist von tiefster Angst ergriffen. Um sein Selbstwertgefühl zu stärken, muss er andere umbringen oder ein anderes Land angreifen. Putin ist ein höchst defizitärer Mensch.

Das Christentum predigt Feindesliebe. Ist das zurzeit zu viel verlangt?

Zatorskyy: Den Feind zu lieben bedeutet vor allem, dem Feind das Heil zu wünschen: das ewige Heil. Putin kann aber Heil nur erlangen, wenn er den Krieg beendet.

Papst Franziskus und Patriarch Kyrill I. Hier bei einem Treffen in Havanna, 2016.
Papst Franziskus und Patriarch Kyrill I. Hier bei einem Treffen in Havanna, 2016.

Würden Sie sich von Papst Franziskus deutlichere Worte wünschen – etwa mit Blick auf die Rolle des Moskauer Patriarchen Kyrill?

Zatorskyy: Die vatikanische Ostpolitik halte ich für einen Misserfolg. Das war auch schon beim Treffen von Franziskus und Kyrill in Havanna im Jahr 2016 zu sehen: Die Täter wurden nicht beim Namen genannt. Damals hat die russische Armee syrische Städte dem Erdboden gleichgemacht. Nur wegen Russland ist Assad noch an der Macht. Er hat das Leben der Syrerinnen und Syrer zur Hölle gemacht. Aber der Papst schweigt zur Rolle der orthodoxen Kirche in diesen politischen Spielchen. Ab und an muss man aber deutliche Worte sprechen.

Was hören Sie von Vertretern der russisch-orthodoxen Kirche in der Schweiz?

Zatorskyy: Ich habe keine deutliche Verurteilung der russischen Aggression gehört, nur Aufrufe zum Frieden. Ich habe einen Geistlichen getroffen, der sagte: Was in der Ukraine passiert, ist die Hölle. Aber wer für die Hölle verantwortlich ist – das hat er nicht gesagt.

Krypta in der Kirche Liebfrauen in Zürich
Krypta in der Kirche Liebfrauen in Zürich

Was macht Ihnen Hoffnung?

Zatorskyy: Die grosse Solidarität auf der ganzen Welt mit dem ukrainischen Volk. Aber vor allem die Entschlossenheit der Ukrainer für ihre Freiheit und Demokratie, für ihr Land, für ihre Familien zu kämpfen.

Haben Sie Familie in der Ukraine?

Zatorskyy: Meine Mutter lebt in Lwiw (Lemberg). Sie arbeitet als Ärztin bei der Blutbank-Stelle. Sie hat ausdrücklich darauf verzichtet, zu mir in die Schweiz zu kommen. Sie wird vor Ort gebraucht.

Demo für den Frieden auf dem Kreuzackerplatz in Solothurn, 4. März
Demo für den Frieden auf dem Kreuzackerplatz in Solothurn, 4. März

Organisieren Sie Hilfsgüter?

Zatorskyy: Die Gläubigen organisieren die Verteilung der Hilfsgüter selbst – dafür brauchen sie keinen Priester. Sie sind bestens organisiert und vernetzt. Ich versuche, den Leuten Mut zuzusprechen und sie seelsorglich zu unterstützen. Gerade, wenn sie verzweifeln, wenn sie wütend sind und wenn sie von der emotionalen Achterbahn hin- und hergeschleudert werden. Wir haben jeden Abend auf Zoom ein Gebet. Wir beten gemeinsam für die Ukraine, tauschen uns aus und werden unseren Schmerz los.

Nazar Zatorskyy (42) ist Priester der ukrainisch griechisch-katholischen Kirche, die ein Teil der katholischen Kirche ist. Zatorskyy ist Nationalkoordinator der ukrainischen Seelsorge in der Schweiz und unter anderem in Zürich und Basel tätig. Ausserdem ist er Doktorand an der Universität Freiburg i.Ü.


Der Priester Nazar Zatorskyy in der Krypta der Zürcher Liebfrauenkirche. | © Raphael Rauch
7. März 2022 | 12:16
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