Maria-Sybille Bienentreu hat als Religionslehrerin und als Schulseelsorgerin am Gymnasium in Friedberg in Gossau SG gearbeitet.
Schweiz

Theologin beim Friedensgebet: Bilder aus der Ukraine erinnern an Zweiten Weltkrieg

Am Aschermittwoch beteten rund 400 Menschen zusammen mit Bischof Markus Büchel in der Kathedrale St. Gallen für Frieden. Der Ukrainekrieg erweckt bei der Theologin Maria-Sybille Bienentreu Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg. Ihre Cousine starb in den Trümmern.

Vera Rüttimann

Als um 12 Uhr die Glocken der Kathedrale in St. Gallen zu läuten beginnen, wird es in ihrem Innern still. Über 400 Leute haben sich zum Friedensgebet versammelt. Sie haben ihre Arbeit unterbrochen oder das Mittagessen ausgelassen, um hier dabei zu sein. In den Bänken sieht man viele bekannte Gesichter aus der kirchlichen Szene St. Gallens.

Über 400 Leute haben sich am Aschermittwoch in St. Gallen zum Friedensgebet  versammelt.
Über 400 Leute haben sich am Aschermittwoch in St. Gallen zum Friedensgebet versammelt.

Um gesehen zu werden, geht es den meisten heute jedoch nicht. Die Blicke der Versammelten sind ernst. Viele haben vor ihren Augen Bilder von blutigen Kämpfen, zerschossenen Panzern und fliehenden Menschen. Wird Kiew bald fallen? Wie geht es weiter mit diesem Krieg? Und: Was können wir tun?

Erst einmal schweigen. Es gibt viele Arten um zu schweigen. Etwa bestürzt, wütend oder resigniert zu schweigen. Bei diesem Friedensgebet wirkt es «verdichtet». Kein Handy klingelt, kein Hüsteln ist zu hören. Nirgendwo wird unruhig auf der Bank umhergerutscht. Jeder ist ganz bei sich. Eine hohe Energie liegt im Kirchenraum. Ganz weit weg scheinen der Lärm von draussen und der Lärm von innen. Die eigenen Sorgen, die einen jagen und unruhig machen.

Gebet ist eine Kraft, das tief vereint

Bischof Markus Büchel begrüsst die Versammelten in der Kathedrale mit den Worten: «Menschen in St. Gallen, am Bodensee und weit darüber hinaus, versammeln sich um zu beten. Wir versammeln uns hier als Menschen, um für Frieden, Versöhnung und Respekt einzustehen.» Das Gebet sei eine Kraft, das alle hier tief vereine.

Beat Grögli zitiert in seinem Wortbeitrag aus dem Buch «An den Rändern Europas» von Beat Leuthardt. Er schildert die Geschichte eines 90-jährigen Mannes, der heute in der Ukraine wohnt. «Urgrossvater Josip ist ein erfahrener Mann. Er hat in acht Nationen gelebt, hat acht Herrschaften erlebt, all ihre Sprachen gesprochen und in all ihren Währungen bezahlt.» In der ganzen Zeit habe er seine Ortschaft Dubrinic an der Grenze zur Slowakei nie verlassen und habe stets versucht, seine Familie durchzubringen.

Beim Friedensgebet wurden melancholische Liedstücke aus der Ostkirche vorgetragen.
Beim Friedensgebet wurden melancholische Liedstücke aus der Ostkirche vorgetragen.

Dieser Geschichte lauschen auch die Studierenden der diözesanen Kirchenmusikschule St. Gallen. Sie sind in schwarz gewandet und tragen melancholische Liedstücke aus der Ostkirche vor. Dirigiert werden sie von Chorleiter Michael Wersin. Ihre Melodien gehen unter die Haut.

Vorne neben dem Altar steht eine Ikone. Sie wurde vom ukrainischen Künstler Oleg Pona geschaffen. Beat Grögli hat ihn und seine Familie 1996 bei einer Ukraine-Reise kennengelernt. Mit diesem Künstler ist der Dompfarrer während dieses Friedensgebetes wohl stark verbunden.

Die Ikone wurde vom ukrainischen Künstler Oleg Pona geschaffen.
Die Ikone wurde vom ukrainischen Künstler Oleg Pona geschaffen.

Beat Grögli stimmt die Friedenslitanei aus der ostkirchlichen Tradition an. Der Dompfarrer trägt sie in emotionalen Tönen vor. Er singt Sätze wie: «Für die Völker dieser Erde und alle, die sie regieren, beschützen und ihnen dienen, lasst uns beten zum Herrn. Kyrie eleison.» Oder: «Für alle, die auf der Flucht sind, für die Kranken, die Notleidenden, für alle, die heute sterben, lasst uns beten. Kyrie eleison.» Begleitet wird Grögli vom melancholischen Gesang der Studierende der diözesanen Kirchenmusik.

Bischof Markus Büchel
Bischof Markus Büchel

Bischof Markus Büchel sagt in seinen Segensworten: «Gott segne alle, die wirksam für den Frieden und für die Verständigung unter den Völkern eintreten.» Und weiter: «Sende dein Licht und deine Wahrheit, dass wir erkennen, was der Welt zum Heil dient.» Noch lange nach den Worten des Bischofs zünden Menschen vorne in der Kirche Kerzen an.

Krieg steckt noch in den Knochen

Nach dem Friedensgebet steht auch Maria-Sybille Bienentreu noch vor dem Domplatz und tauscht sich mit anderen aus. Die gebürtige Deutsche, die als Religionslehrerin und als Schulseelsorgerin am Gymnasium in Friedberg in Gossau SG gearbeitet hat, ist sichtlich bewegt. Bei den Bildern von brennenden Häusern, Toten und Geflüchteten kommen in ihr Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg in Deutschland hoch. Die Theologin erzählt: «Ich wurde nach meiner Cousine Sybille genannt, die im Krieg als vierjähriges Mädchen in den Trümmern starb. Mein Vater hat sie mit seinen eigenen Händen geborgen.» Auch wenn sie vierzehn Jahre nach dem Ende des Krieges geboren ist, stecke ihr der Krieg «noch immer in den Knochen».

Gutes wollen und Schreckliches verurteilen

Das Gebet in der Kathedrale sei schön gewesen, sagt Maria-Sybille Bienentreu. Im Moment überwiege bei ihr jedoch noch immer der Pessimismus. «Ich weiss, welche Wunden jetzt durch diesen Krieg geschlagen werden», sagt die Theologin. Sie werde weiter für die Menschen in der Ukraine beten. «Ich hoffe, dass sie irgendwie spüren, dass andere im Hintergrund nur Gutes wollen und das Schreckliche verurteilen.»


Maria-Sybille Bienentreu hat als Religionslehrerin und als Schulseelsorgerin am Gymnasium in Friedberg in Gossau SG gearbeitet. | © Vera Rüttimann
3. März 2022 | 12:00
Lesezeit: ca. 3 Min.
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