Generalsekretärin der Landeskirche Aargau: Tatjana Disteli.
Kommentar

Tatjana Disteli: 80 bis 90 Prozent der Delegierten in Prag forderten weitreichende Reformen

Inklusion der Queercommunity, Mitverantwortung und Zugang zur Weihe für Frauen waren Forderungen beim synodalen Prozess in Prag. Tatjana Disteli, Generalsekretärin der Aargauer Landeskirche teilte bei einem Gesprächsabend des Bistums Basel ihre Eindrücke als Prag-Delegierte. Wenn die Kirche «öffentlich Busse» tue, dann werde Heilung und ein Neubeginn gelingen. Ein Gastkommentar.

Tatjana Disteli*

Strukturelle Schuld

Erfahrung in Prag

Die tiefe Betroffenheit über die weltweit unzähligen sexuellen Missbräuche war in Prag spürbar. Die Kirche, die Wunden schlägt, anstatt Zeichen der Liebe Gottes zu sein. Die Anwesenden begriffen die Zerstörung der kirchlichen Glaub­würdigkeit und ihrer moralischen Vorbildfunktion. Mehr noch: Wir erkannten, wie dadurch auch der persönliche Glaube unzähliger Menschen in seinen Grundfesten erschüttert wurde. Und wie stehen wir nun da im öffentlichen Bild Kirchenferner? Immer öfter werden wir reduziert auf: doppelmoralische Heuchler, Kinderschänder und falsche Propheten. Das tut weh!

Erkenntnis

Die Erkenntnis dieser strukturellen Schuld ist wie ein Trauma auf kollek­tiver und individuellen Ebene. Diese zentrale emotionale Erfahrung wischte in Prag alles Ge­wohnte weg: Amt, Rang, Bildung, Herkunft, Einfluss. Im Mittel­punkt stand die Erkenntnis: wir sind alle einfach «nur» Men­schen. Und als solche begegneten wir uns in Prag – gleich­wertig und gleich­würdig, ohne selbstgewählte oder aufgezwun­ge­nen Masken, auf Augenhöhe, von Christenmensch zu Chris­ten­mensch.

Felix Gmür, Tatjana Disteli, Helena Jeppesen-Spuhler
Felix Gmür, Tatjana Disteli, Helena Jeppesen-Spuhler

Einsicht und Umkehr

Erfahrung in Prag

Der Wille zur Veränderung war stark und deutlich zu spüren, von den meisten Laien, Priestern, Ordensleuten, Bischöfen und von Kardinälen. Nach Jahrzehnten von penibler Beachtung der moralisch kor­rekten Lebensführung bis hin zu Diskriminierung und manchmal auch Denunziation in Rom, erlebte ich diese Begegnungen – natürlich mit Ausnahmen – in einer nie da ge­­wesenen Kultur des aktiven geistlichen Zuhörens, des angstfreien Dialogs ohne Tabu und dem bewussten Willen, das Verbindende stärker zu betonen, als das Trennen­de.

Auch Kritik, Zweifel bis zu manch­mal schmerzhafte Polarisierung hatten Platz, ohne zum endgültigen Eklat zu führen. Im Angesicht der ukrainischen und russischen Delegationen verstand jeder: innerkirchlicher Krieg zwischen den dogmatischen Fronten ist keine Option! Das Vertrauen in den verbindenden Geist Gottes war grösser. 

Bei alldem waren wir drei Delegierten, gemeinsam mit den Online-Delegierten, mit denen wir uns jeden Tag austauschten, ein gutes Team.

Erkenntnis

Diese Begegnungen berührten uns im Kern unserer Glaubens­er­fahrung – sie waren geradezu heilsam. Vertrauensvorschuss ist auf dem synodalen Weg immer stärker zu ge­wich­ten, als das Misstrauen, um Gottes und der Menschen Willen. Das Vertrauen muss aber auch eingefordert, und es darf nicht missbraucht werden. So kommen wir vorwärts. Es geht hier nicht alleine um die An­schlussfähigkeit zur heutigen Gesellschaft, es geht dabei um die Existenzberechtigung der Kirche. Wir sollten Anwältinnen und Anwälte der Hoffnung sein: nicht niederreissen, sondern aufbauen!

Auf dem Bildschirm: die Teilnehmerinnen der Schweizer Delegation Tatjana Disteli (links) und Helena Jeppesen-Spuhler.
Auf dem Bildschirm: die Teilnehmerinnen der Schweizer Delegation Tatjana Disteli (links) und Helena Jeppesen-Spuhler.

Bussweg

Erfahrung in Prag

Die persönliche Schilderung der Delegierten aus Irland, Deutschland, Frankreich, Belgien und anderen Ländern, die schon länger im Sturm der Missbrauchsskandale stehen, haben uns den Atem verschlagen.

Erkenntnis

Die Kirche im wahren Bussgewand erkennt man an ihrer ra­di­kalen Transparenz, an ihrer Bedürftigkeit der Gnade, an ihrer Demut, am Eingeständnis der Schuld, an ihrer öffentlichen Entschuldigung und an der Wiedergutmachung – soweit diese überhaupt möglich ist.

Denken wir daran, wir als Schweizer Kirche stehen hier noch am Beginn der Aufarbeitung. Es ist zu hoffen, dass wir die ernsthafte Bemühung um Prävention und die Fortschritte des synodalen Prozesses in Zusam­menhang bringen mit der Auf­arbeitung dieser Verbrechen – damit die Öffentlichkeit auch das wahrhaftige Gesicht dieser Kirche kennen lernt. Die geläuterte Kirche der Zukunft wird man daran erkennen, dass sie die Gesetzesgerechtigkeit nach dem Liebesgebot priorisiert und das kanonische Recht dahingehend anpasst.

Teilnehmende unterhalten sich im Sitzungssaal in Prag, ganz links Tatjana Disteli aus der Schweiz.
Teilnehmende unterhalten sich im Sitzungssaal in Prag, ganz links Tatjana Disteli aus der Schweiz.

Heilung entlang der Pain Points

Erfahrung in Prag

Obwohl wir uns noch in der ersten Phase des Zuhörens be­finden, wurde in Prag schon deutlich: es sind konkrete Schritte gefragt, mutige Zeichen, welche die Umkehr und Neuausrichtung bezeugen. Und das, so rasch, wie möglich! 

Beispiele, die von 80-90% der Länder genannt werden, sind: Nulltoleranz gegegnüber Diskriminierung und Machtmissbrauch, die Prüfung und der Zugang zum Amt in Dienst und Verantwortung auch für die berufenen Personen aus der «anderen Hälfte» der Menschheit. Die Partizipation und Mitverantwortung der Jugend. Der Zugang zu den Sakramenten, als den Zeichen der Liebe Gottes, für die geschiedenen Wiederverheirateten und die Queercommunity. Die radikale Inklusion von Menschen mit Handicap, von Armen, Einsamen, Kranken, Suchenden und Zweifelnden. Ich möchte auch noch die Instiutio/Missio für Theologinnen und Theologen hinzufügen, die sich in verbindli­chen homosexuellen Partnerschaften verpflichten. 

Erkenntnis

Der Dezentralisierung und dem Subsidiaritätsprinzip sind dabei besondere Aufmerksamkeit zu schenken. Es ist klug zu unter­schei­den, welche Entscheidungskompetenz von Bischöfen regional oder lokal wahrgenommen werden kann und was tat­sächlich auf der Weltebene in Rom zu entscheiden ist.

Online-Gespräch zwischen Prag und Wislikofen.
Online-Gespräch zwischen Prag und Wislikofen.

Inspiration für die Welt

Erfahrung in Prag

Ich glaube wieder neu daran, dass es noch möglich ist, das Steuer herumzureissen. Wir haben Sternstunden erlebt. Dazu müssen wir uns aber radikal auf den Weg machen, alle gemeinsam und jede einzelne Person muss sich selbstkritisch hinterfragen. Bei mir anfangen, hier und heute, da, wo ich wirke.

Das Spezifikum «Duales Schweizer System» stiess auf reges Interesse. Es bildet – so unvollkommen es beidseitig noch ist, weil wir unvollkommen sind – eine gute Basis, um die syno­dale Met­hode, Haltung und Er­fahrung in nachhaltige Struktu­ren und Prozesse zu giessen. Daran arbeiten wir.

Erkenntnis

Dieser «synodale» (jesuanische) Umgang macht den Unterschied in einer Welt, die durch existenzielle Krisen gefordert ist und nach Sinn und Lösun­gen sucht: radikal miteinander und nicht gegeneinander, weg von der Kultur der Stärkeren und Gewinner, hin zu einem Vertrauens­vor­schuss und Kooperation, Gemeinschaft und dem Hochhalten des Guten. Stellen wir uns die Arena unter solchen Prämissen vor.

Und: Die Kirche leistet so viel Gutes im Dienst an der ganzen Gesell­schaft. Und viel zu viele Men­schen haben keine Ahnung davon. Das bedeutet, Kommunikation verstärken und Imagekampagnen lancieren.

Gelingt der synodale Prozess, dann wird die moralisch gescheiterte Kirche auferstehen. Sie wird dann zu einer Kirche der glaubwürdigen Gemein­schaft – zu der Kirche, die die Frohe Botschaft in Wort und Tat verkündigt, als erfahrbares Zei­chen der Liebe Gottes. Dazu ist sie bestimmt. Das ist ihr Auftrag.

«Sie wird aus der Kraft und Hoffnung der Spiritualität leben.»

Mein Traum ist es, dass diese erneuerte Kirche in der Nachfolge Christi zur Inspi­ration für die Welt wird. Diese Gemeinschaft wird in einem glaub­würdi­gen Dialog mit der Ge­sellschaft stehen. Sie wird aus der Kraft und Hoffnung der Spiritualität leben, als Vor­bild den Reich­­­­tum von Multikulturalität und Ökumene aufzeigen, sich auf allen Seiten in Fairness und Respekt üben und sich für die Bewahrung der Schöpfung einsetzen. Und sie wird in tätiger Nächstenliebe vorausgehen. 

Ich teile den Traum, den ein Gast, der Geschäftsführer von Justitia et Pax, in Prag vorschlug. Im Jahr 2025 – 60 Jahre nach «Gaudium et spes» – sollen wir alle einen weltweiten Anlass feiern: Aufarbeitung unserer gesamten Geschichte, öffentliche Busse und Neubeginn mit starken Zei­chen der Glaubwürdigkeit ge­gen innen und aussen.

*Tatjana Disteli ist Theologin und Generalsekretärin der römisch-katholischen Kirche im Aargau.


Generalsekretärin der Landeskirche Aargau: Tatjana Disteli. | © zVg
20. April 2023 | 13:00
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