Jesuit Stephan Rothlin
Story der Woche

Stephan Rothlin: «Menschen in Taiwan wollen am Status quo festhalten»

Es werde keine Invasion auf Taiwan geben, trotz Drohgebärden von China, meint der Jesuit Stephan Rothlin. Das Pragmatischste sei es, an der Ein-China-Politik festzuhalten. Auf den synodalen Prozess blicken die Gläubigen in China gespannt. Sie wünschen sich mehr Mitsprache und Beteiligung.

Jacqueline Straub

Sie leben seit 25 Jahren in China. Ist für Sie der Besuch in der Schweiz ein Kulturschock?

Stephan Rothlin*: Nein, überhaupt nicht. Ich habe sechs Jahre in Zürich gelebt und kenne beide Welten recht gut.

Wie hat sich das Leben in China in den 25 Jahren, in denen Sie dort leben, verändert?

Rothlin: Peking, Hongkong und Makao haben sich enorm verändert, nicht nur demographisch. Inzwischen leben dort Millionen mehr Menschen. In Peking etwa über 21 Millionen.

Hongkong
Hongkong

In Zürich leben 400’000 Menschen…

Rothlin: Für mich ist Zürich eine Weltstadt mit Kantönligeist. Aber gleichzeitig hat Zürich auf der kleinen Fläche viel an Kultur und Lebensqualität zu bieten.

In der Schweiz kann jeder und jede mitbestimmen und die eigene Meinung sagen. Wie erleben Sie das in China?

Rothlin: Ich höre hie und da, dass einige Hoffnung haben, dass sie bis in zehn Jahren mehr mitbestimmen können fast im Stil, wie man das in der Schweiz tut. Aber die wenigstens glauben, dass es momentan einen Umbruch in der Partei gibt. Das ist unrealistisch. Trotz allen Rückschlägen hat mich in den vergangenen Jahren das Wachsen der Zivilgesellschaft überrascht.

«In China werden Gesetze viel schneller umgesetzt als in der Schweiz.»

Inwiefern?

Rothlin: Früher hat beispielsweise die Lokalregierung einfach entschieden, wo etwa eine Autobahn gebaut wird. Da wurde keine Rücksicht auf die Bevölkerung genommen. Es wurde sehr autoritär vorgegangen. Inzwischen merkt die Regierung, dass sie sich viel Ärger ersparen kann, wenn sie Betroffene in Prozesse einbezieht. Aber dennoch: In China werden Gesetze viel schneller umgesetzt als in der Schweiz, weil von oben herab bestimmt wird. Wenn allerdings die eigene Meinung ausgedrückt werden kann, wird das auch in China sehr geschätzt. Das geht natürlich nicht immer gleich gut – und normalerweise nur in einem geschützten Rahmen.

Proteste vom 18. August 2019 in Honkong
Proteste vom 18. August 2019 in Honkong

Wie erleben Sie die Ein-China-Politik?

Rothlin: Aus westlicher Sicht wird diese immer mit Argusauge angesehen. China möchte mit dieser Politik ein Auseinanderbrechen einzelner Regionen verhindern. Das kann durchaus die Stabilität einzelner Regionen erhalten. Wir haben ja in Europa das Beispiel des blutigen Auseinanderbrechens von Jugoslawien.

«1992 haben sich beide Parteien auf die Ein-China-Politik geeinigt.»

Wie blicken Sie auf die Situation zwischen China und Taiwan?

Rothlin: Das Verhältnis von China und Taiwan kann man in Bezug auf den sogenannten Konsens aus dem Jahr 1992 verstehen. Dort haben sich beide Parteien auf die Ein-China-Politik geeinigt, wobei selbstverständlich jede Partei inhaltlich etwas anderes versteht. Trotzdem scheint mir dieser Konsens durchaus pragmatisch und vernünftig. Die überwiegende Mehrheit der Leute in Taiwan wollen am Status quo festhalten und wollen weder einen bewaffneten Konflikt noch eine Unabhängigkeit. Ich glaube, dass es eigentlich noch immer am Pragmatischsten ist, an dieser Regelung festzuhalten.

Das Bild zum Weltgebetstag hat eine Frau aus Taiwan gemalt.
Das Bild zum Weltgebetstag hat eine Frau aus Taiwan gemalt.

Es gibt aber Drohgebärden. Glauben Sie, dass es eine Invasion gibt?

Rothlin: Ich beziehe mich auf einen aus meiner Sicht sehr versierten Journalisten, mit dem ich im Austausch darüber bin. 90 Prozent von den tonangebenden Gruppen im Militär in China seien gegen eine Invasion. Diese Militärköpfe wissen, dass ihre Schiffsflotte nicht im Stande ist, diese Operation erfolgreich durchzuführen.

Kann die Kirche in diesem Konflikt schlichten?

Rothlin: Der Papst hat sicherlich viel gemacht, um den Dialog aufrecht zu erhalten. Kirche kann als neutrale Person vermitteln, weil der Papst auch eine sehr anerkannte Persönlichkeit in China ist.

Gläubige schwenken die chinesische Flagge bei einer Generalaudienz von Papst Franziskus im Jahr 2016.
Gläubige schwenken die chinesische Flagge bei einer Generalaudienz von Papst Franziskus im Jahr 2016.

Was treibt die Menschen in Taiwan um?

Rothlin: Es ist schwierig, sich darüber ein Bild zu machen von ausserhalb. Trotz der enormen Spannungen habe ich gehört, dass es die Menschen vor Ort einigermassen gelassen nehmen. Das Leben muss weiter gehen.

Im Angesicht einer möglichen Invasion?

Rothlin: Ich bewunderte schon immer, wie resilient und krisenerprobt Chinesen sind. Die Widerstandskraft ist enorm gross.

«Die Gläubigen wünschen sich mehr Mitsprache und Beteiligung.»

Wie blicken die Katholikinnen und Katholiken in China auf den synodalen Prozess?

Rothlin: Der synodale Prozess ist enorm wichtig. Das autoritäre, priesterbezogene Modell ist immer noch stark in China ausgeprägt. Die Gläubigen wünschen sich mehr Mitsprache und Beteiligung. Auch gibt es den Wunsch, dass Frauen mehr Spielräume bekommen.

In China gibt es die Untergrundskirche und die Staatskirche. Wie erleben Sie diese zwei Formen von Kirche?

Rothlin: Die Intention des Papstes ist es, diese Spaltung der Katholikinnen und Katholiken zu überwinden mit einem Dialog, welcher der Tatsache Rechnung trägt, dass der Staat ohnehin eine grosse Kontrolle in verschiedenen Bereichen ausübt und unter anderem auch in religiösen Angelegenheiten mitmischt. Es gibt ja auch in der Schweiz Beispiele von Partnerschaft zwischen Staat und Kirche.

Kardinal Joseph Zen Ze-kiun, emeritierter Bischof von Hong Kong (China), 2020
Kardinal Joseph Zen Ze-kiun, emeritierter Bischof von Hong Kong (China), 2020

Können Sie mir ein Beispiel nennen?

Rothlin: In der Diözese Basel bestimmen die politischen Behörden bei der Bischofswahl mit. Das finde ich auch durchaus sinnvoll. Wer die politische Rahmenbedingung berücksichtigt, erreicht eher eine gute Partnerschaft.

Vermitteln Sie zwischen den beiden Kirchen?

Rothlin: Diese Spaltung in der Kirche ist ein Skandal. Daher versuche auch ich immer wieder Brücken zum genuinen Dialog anzubieten – etwa in meinem Ladanyi-Verein. Es geht im Blick auf die Geschichte von China immer wieder darauf, möglichst unvoreingenommen zuzuhören und zu verstehen. Die grossen Verletzungen dürfen einerseits nicht vergessen werden. Andererseits steht die Versöhnung im Vordergrund.

«Im Unterschied zu Europa gibt es ein grosses Interesse am Glauben.»

Ist eine Fusion der beiden Kirche möglich?

Rothlin: Ich glaube aus einer Perspektive des Glaubens ist die Annäherung und Vereinigung gespaltener Gemeinschaften möglich. Wer China und seine Traditionen berücksichtigt, versteht auch, dass sich solche Partnerschaften zwischen Kirche und Staat nahe legen.

Wie sind die Christinnen und Christen in China?

Rothlin: Im Unterschied zu Europa gibt es ein grosses Interesse am Glauben. Immer wieder beeindruckt mich auch, wie ernst genommen wird, zu einer Glaubensgemeinschaft zu gehören.

«Der ‘anti-römische Affekt’ ist kaum vorhanden.»

Inwiefern?

Rothlin: Wer zur Kommunion geht, wird von Kirchgängern gefragt, ob man schon getauft ist. Auch wird in China vielmehr gebeichtet. Der Einsatz für soziale Projekte ist sehr stark ausgeprägt. Der «anti-römische Affekt» ist kaum vorhanden. In China will jeder Katholik, jede Katholikinnen nach Rom reisen. Den Papst einmal live zu sehen, ist der Höhepunkt im Leben eines katholischen Chinesen.

*Der Schweizer Jesuit Stephan Rothlin (64) lebt seit 25 Jahren in China. Der Wirtschaftsethiker doziert in Peking und Macau.


Jesuit Stephan Rothlin | © Jacqueline Straub
16. Juni 2023 | 06:00
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