Stefan M. Seydel/sms
Schweiz

Stefan M. Seydel: «#LavinaNera in, dus, treis»

Medienphilosoph, Kritiker und «Rebell in Pension» Stefan M. Seydel bespricht das neue Buch des rätoromanischen Historikers Adolf Collenberg. Seydel findet viele Parallelen zwischen den antimodernistischen Umbrüchen des ausgehenden 19. Jahrhunderts und der Gegenwart. Seydels Konsequenz: Alles schonmal dagewesen. Nichtwissen ist keine Option. Und der wissenschaftliche Fortschrittsglaube ist naiv.

Stefan M. Seydel*

Das Bündner Oberland feiert 600 Jahre Ligia Grischa. Der Kanton Graubünden feiert 500 Jahre Freistaat Drei Bünde. Der globale liberale Paternalismus präsentiert sich seit über 20 Jahren auf Staatskosten in Davos. Der rätoromanische Staatsfunk inszeniert die Letzte Generation im hippen Format einer #LexNetflix-konformen Serie.

Und das Institut für Kulturforschung Graubünden türmt mit einer 286-seitigen Studie von Adolf Collenberg so viel Schnee auf, dass die Erinnerung an die Möglichkeit einer identitätsstiftenden, mächtigen Lawine die politischen Sirenen zum Heulen bringt. Die Erinnerung an «Lavina Nera» überrascht, provoziert und fasziniert: Ein Paradebeispiel dafür, was Wissenschaft kann.

Früher war alles besser

Das Feiern der Grosstaten der Altvorderen löst wehmütiges Gedenken aus: So mutig, hellsichtig, clever waren die damals? Ohne Computer, Google und ChatGPT? Das wirkt. Es geht darum, das ewige Anliegen zu erneuern: Wie zusammen leben, damit es allen und allem etwas besser geht?

Kreuz am Wegrand
Kreuz am Wegrand

Adolf Collenberg verschwendet sein ganzes Leben der minutiösen Dokumentation von Kämpfen um Antworten auf die «Soziale Frage.» Seine aktuelle Studie nutzt die Zeit von 1880 bis 1939. Die Zeit, in welcher Maschinen über alle Lebensbereiche dampften, bis die Opfer der Modernisierung sich gegenseitig maschinell platt machten. Was für ein Desaster.

Konservative und Progressive

Der Krieg zwischen dem alten und dem neuen Glauben, den Konservativen und den Progressiven, wurde rasend überholt. Seit der französischen Revolution tobte der Krieg zwischen Links und Rechts. Zwischen Sozialisten und Liberalen. In einer Sache waren sich die Feinde einig: Sie wollten keinen Paternalismus mehr. Auch keinen Reformierten.

Die Sozialisten forderten Solidarität aus Gründen des eigenen Vorteils. Die Liberalen propagierten Individualismus aus Gründen kollektiver Vorteile. Die Freiheit von Herrschaft durch Pater, Päpste und Könige wirkte Verbindend im gegensätzlich gewählten Weg. Beide kämpften mit offener Gewalt. Als wäre Krieg eine Option.

Liberaler Paternalismus

Die Perversion dieser ideologischen Auseinandersetzung faschierten in Nord und Süd der Nationalsozialismus. Schliesslich kollabierte 1989 die eine Seite der gleichen Münze. Damit auch die Andere. Manche merken es später.

Der Liberale Paternalismus ist explizit: Es gibt globale Probleme. Lösungen sind in der Universität kaufbar. Die heilige Wandlung des Unbestreitbaren wird am regionalen Altar der Urne durch die Gläubigen legitimiert. Sie nennen es direkt Demokratie. Amen. 

Kreiertes Wissen

Die innige Zusammenarbeit zwischen Staat, Universität und Wirtschaft wird «solidarisch» (Marc Walder) mit den bewährten Mitteln Massen leitender Medien distribuiert. Nachhaltigkeit für den grossen Reset garantiert #Agenda2030. Das Argument: «Wir haben allem nichts gewusst», funktioniert nicht. Schon wieder.

Kloster Disentis
Kloster Disentis

Was aber tut der in der Klosterschule Disentis eingemachte Adolf Collenberg? Lesen. Schreiben. Lesen. Kein Satz ohne Quellenangabe. Keine Aussage ohne Beleg. Collenberg führt exemplarisch vor, wie die Wissenschaft der Moderne Wissen schafft.

Dritte Lavina Nera

Früher ist Wissen vom Himmel gefallen. Der Pater, ganz Gott zugewandt – mit dem Rücken zum Volk stehend – empfängt am Altar die Offenbarungen und massiert diese als guter Hirte seinen Schäfchen ein. Erzählerisch. Gütig. Eben: Paternalistisch. In Predigten, im Beichtstuhl, in Artikeln in der «Gasetta Romonscha» aus Mustér donnert unaufhaltsam der Wille Gottes das Tal hinab.

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Cordula Seger und Thomas Barfuss vom Institut für Kulturforschung notieren in ihrem Geleitwort, dass bei dieser klassisch akademischen Arbeitsweise «die Sichtweise von Frauen, ihr Erleben und ihre Wahrnehmung gesellschaftsrelevanter Konsequenzen eines patriarchal auftretenden politischen Handelns, keinen Platz findet.» Professionellen zu unterstellen, sie wüssten nicht was sie tun, wäre unprofessionell.

Kompendium der Soziallehre der Kirche
Kompendium der Soziallehre der Kirche

Collenberg spielt die moderne Erzählung einer Fortschrittsgeschichte unirritiert tuend mit. Erzählt nicht, wie um 1712 eine erste Lavina Nera dokumentiert ist. Erinnert energisch an den Säulenheiligen Caspar Decurtins und seine Mitarbeit an der päpstlichen «Rerum novarum» von 1891, welcher später viele weitere Sozialenzykliken folgten: Das offene Ringen um «die Soziale Frage» innerhalb der katholischen Machtkirche. Widerspruch ist Zuspruch. Die dritte Lavina Nera rollt.

Adolf Collenberg, Die Bündner Parteien auf der Suche nach Identität und Macht (1880-1939) Exkurs: Die Schwarze Lawine, Herausgegeben vom Institut für Kulturforschung Graubünden, Somedia Buchverlag, 2023.

*Stefan M. Seydel ist Unternehmer, Sozialarbeiter und Künstler in Disentis/Mustér.

#LavinaNera — Was ist das?

Schon im Mai 1877 gab es eine ›Letzte Generation’. Die alten, weissen Männer jener Tage bespuckten den Exponenten dieser Szene, einen in München und Heidelberg frisch promovierten Einheimischen, vergebens mit ›ausnehmend peinlich’: Dr. Caspar Decurtins wurde an der Landsgemeinde in Disentis/Mustér als 22-jähriger zum Mistral gewählt.

Aus der höchsten Position der Exekutive der Cadi/Surselva konnte damit eine Talsperre gegen den Modernismus, der fürchterliche soziale Missstände durch die Streitereien zwischen Liberalismus und Sozialismus hervorbrachte, gebaut werden. 100 Jahre lang bedrohte das Kantonsparlament in Chur die Möglichkeit einer vernichtenden «Schwarzen Lawine».

Schwarz wie die Mönche im abgelegenen Alpenkloster Disentis, schwarz wie die Pfaffen auf der Kanzel und im Beichtstuhl, schwarz wie die Worte der Heiligen Schrift und der ›Stampa Romontscha’ aus Mustér, die in alle Haushalte des Bündner Oberlandes flatterte und weit über die Kantons- und Staatsgrenzen hinaus in politisch interessierten Familien gelesen werden musste. Wie die Liberalen die Schneemassen zum Schmelzen gebracht haben, erzählt Adolf Collenberg in seiner akribischen Studie: Mit Subventionen und der Förderung von Angeboten von Tourismus.


Stefan M. Seydel/sms | © www.catonbed.de
29. Januar 2024 | 12:00
Lesezeit: ca. 3 Min.
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