Stefan Loppacher
Schweiz

Stefan Loppacher: «Der Zölibat ist praktisch abgeschafft»

Kürzlich hat sich der Präventionsbeauftragte des Bistums Chur und Priester Stefan Loppacher den Fragen von Tele Züri gestellt. Kath.ch bringt seine pointiertesten Aussagen – über den Papst als Monarchen und die vielen Priester, die gezwungenermassen ein Doppelleben führen.

Regula Pfeifer

Loyalität als Präventionsbeauftragter

«Als Präventionsfachperson ist klar, dass ich nicht loyal bin mit dem System. Ich bin auch nicht loyal gegenüber meinem Arbeitgeber oder meinem Vorgesetzten. Sondern ich bin loyal in der Sache – und loyal den Betroffenen gegenüber, die Missbrauch erlebt haben und als erste Zeugen ernst genommen werden müssen. Wir müssen lernen und bereit sein, sie anzuhören und alles zu unternehmen, damit nicht das gleiche Leid weiter passiert, das ihnen widerfahren ist. Da müssen Sie Loyalitätsprobleme lösen, sonst können Sie diese Arbeit nicht machen.»

Professionelle Personalführung fehlt

«Es ist ein Riesenskandal an sich schon, dass einer der grössten Arbeitgeber der Schweiz mit Tausenden Mitarbeitern keine professionelle HR-Strukturen hat. Und auch eine Firmen- und Personalpolitik, bei der ganz sicher nicht die Leute mit den besten Skills an die Spitze kommen. Führungsqualitäten, Managementqualitäten sind in der katholischen Kirche nie gefragt worden. Man hat nie Leute daraufhin ausgebildet, jahrhundertelang nicht, aber die letzten dreissig Jahre auch nicht. Das rächt sich in der multiplen Krisensituation, in der sich die Kirche befindet.»

Vormoderne Strukturen

«Die Kirchenkrise hat auch mit vormodernen institutionellen Strukturen zu tun. Eine globale Institution mit über einer Milliarde Mitglieder, wo alles zentral von einem Monarchen mit einem Hofstaat als Verwaltungsbehörde geleitet wird: Die ist längst in einer Sackgasse. Und man kommt schwierig oder kaum da heraus.»

Umgang mit Kritikern

«Noch in der jüngsten Vergangenheit der Kirche haben Leute, die zu unbequeme Fragen zu heiklen Bereichen wie Moraltheologie, Sexualmoral oder Machtverteilung in der Kirche oder Aussagen von Autoritäten in Frage gestellt haben, ihre Lehrerlaubnis entzogen bekommen. Oder keine Stelle mehr bekommen in der nächsten Pfarrei. Auch das müsste aufgearbeitet werden. Es braucht eine klare Änderung der Politik, dass man das nicht mehr will.»

Demokratische Staatskirche

«Der staatskirchliche Teil der Kirche ist durchaus demokratisch legitimiert. Da gibt es gewählte Behörden, ein Controlling und Rechenschaftspflicht. Dieses System muss man stärken. Da kommt jetzt Bewegung rein. Kirchgemeinden und Kantonalkirchen wachen auf und sagen; He, aber nicht zu jeder Bedingung unterstützen wir diese oder jene bischöfliche Politik oder Handlungsweise. Sondern wir stellen Forderungen. Und das geht nur über den Finanzhebel, weil das das einzige Mittel ist, um Forderungen zu stellen.»

Entscheid, Priester zu werden

«Das hat biografische Gründe. Ich war Ministrant, in der Jungwacht, ich hatte eine starke kirchliche Prägung. Mit 18 Jahren kam ein starker Schicksalsschlag. Ich verlor zwei gute Freunde bei einem Raser-Unfall. Es kamen Sinnfragen: Was ist mit meinem Leben, wo will ich hin? Was denkt Gott über mein Leben? Religiöse Fragen wurden sehr wichtig. Das ist der Grund, weshalb ich mich zwei Jahre später auf diesen Weg begeben habe.»

Ausbrüche in der Jugend

«Ich hatte als Sechzehnjähriger Verfolgungsjagden mit der Schwyzer Polizei auf meinem Konto – mit Strafbefehl und so weiter. Und ich ging an die Technoparty, die Streetparade und die Energy… Das war auch meine Welt. Ich habe schon versucht auszubrechen aus dem katholischen Milieu und es auch ab und zu geschafft.»

Bei den Dienerinnen und Diener des Leidens

«Ich habe im Studium diese extremistische katholische Gemeinschaft, die ich heute als Sekte bezeichne, kennen gelernt. Und ich bin in ein noch radikaleres System hineingekommen mit einer sehr repressiven Sexualmoral, mit viel Sozialkontrolle, mit enormen Abhängigkeitsverhältnissen, mit finanzieller Ausbeutung und mit potenziell gesundheitlichen Konsequenzen. Der radikale Ansatz hat mich fasziniert, die bedingungslose Treue zum Papst, zum Lehramt, aufs Wort genau alles befolgen. Das zog mich an. Aber vor allem auch: In der Gruppe, die ich im Auslandsjahr in Rom kennen gelernt habe, waren ganz viel junge Leute dabei, Studentinnen und Studenten, die katholisch sind. Die ersten ein, zwei Jahre war das ein Erfolg. Ich fand sofort super Anschluss, hatte einen grossen Kollegenkreis. Wir haben Fussballspiele geschaut, sind Pizza essen gegangen, haben Ausflüge miteinander gemacht. Als der Kontakt zur Gemeinschaft enger wurde, war ich ideologisch bereits gefangen.»

Ausbeutung

«Die Verbindung zu dieser Sektengemeinschaft hat sich als verheerend herausgestellt. In einem der Beichtgespräche mit dem Leiter der Gemeinschaft, ganz früh, als ich noch gar nicht offiziell Mitglied war, wurde ich extrem bedrängt mit Fragen rund um Sexualität. Es war ein hoch bedrückendes, peinliches Gespräch für mich. Es endete so, dass ich verpflichtet wurde, mein ganzes Konto zu leeren und alles ihnen zu überweisen. In meiner damaligen Situation war es gar keine Option, das nicht zu machen. Denn für mich war klar: Ein Priester, der Pater Pio und ganz viele Kardinäle kennt, der redet im Namen Gottes. Ich war vor der Wahl, entweder zu gehorchen, oder meine Beziehung mit Gott, meine Berufung, die Gemeinschaft zu verlieren.»

Spiritueller Missbrauch

«Wenn Ihnen ständig Schuldgefühle eingeredet werden. Nur schon, wenn man sexuelle Gedanken hat. Ich bin als Judas, als Verräter, als Verbrecher bezeichnet worden. Das hat Auswirkungen, diese Schuldgefühle haben mich innerlich aufgefressen. Ich bin mir selbst zum Feind geworden.»

Therapie als Rettung

«Ich habe Glück gehabt, einen guten Therapeuten zu finden, der das Milieu kennt und der aber auch Klartext geredet hat und wo diese Reise hingehen könnte. Im Sinne von: Man muss einen anderen Weg anfangen, sonst kommst du nicht da raus. Das habe ich zum Glück geschafft.»

Liebe versus Zölibat

«Es ist schon krass, es ist die Realität von Milliarden von Menschen, dass sie sich verlieben, ihre Beziehung leben. Aber in der Kirche ist das eine Riesenstory wert, eine Headline und eine Sendung. Das zeigt, wie weit sich diese Institution von der Realität der Menschen entfernt hat. Die Idee, dass man mit 20 vor Gott etwas versprechen kann und ein wenig beten und fasten, und dann geht das einfach 60 Jahre gut: Das ist einfach zu naiv. Und das ist auch ein Unrecht gegenüber allen, die diesen Weg gehen: Dass sie nicht über die Folgen aufgeklärt werden. Liebe darf es nicht geben. Dann treibt man die Leute in ein Doppelleben, ins Verborgene. Du darfst schon, aber es darf es niemand wissen. Und was das mit einer Partnerin, einem Partner macht: nicht existieren zu dürfen. Der Zölibat ist praktisch schon abgeschafft. Weil in der Realität praktisch alle Priester den Zölibat nicht leben wollen oder können – und es nicht zugeben. Der erste Schritt in eine menschenwürdigere Kirche wäre: einfach zuzugeben, was ist.»

Berufliche Exit-Strategie

«Die ersten paar Monate meiner Beziehung waren eine Zerreissprobe. Ich war schon nicht mehr voll in der Seelsorge tätig und hatte die Aussicht auf eine neue Stelle, die dank der katholischen Körperschaft im Kanton Zürich 2019 geschaffen worden ist (gemeint: Präventionsbeauftragter des Bistums Chur, die Red.). Das war für mich eine berufliche Exit-Strategie. Diesen Luxus haben viele Priester nicht, die in eine Beziehung kommen oder eine führen. Das ist für sie sofort existenzbedrohend, weil sie den Job verlieren.»

Die Sendung «Talktäglich» wird auf Tele Zürich am Samstag, 18. November, um 14.30 Uhr wiederholt.


Stefan Loppacher | © tv.telezueri.ch
18. November 2023 | 10:37
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