Stefan Heinichen hat einen Mord von Neonazis an einer Roma-Frau in Ungarn im Bild festgehalten.
Porträt

Stefan Heinichen: Mit Herz und Pinsel für die Schwächeren

Die Pfarrei St. Marien in Winterthur beherbergt ein Kunstatelier. Dort malt Stefan Heinichen seine Werke. Er wirkt auch als Seelsorger. Sein Thema ist die Gerechtigkeit – für die Schwächeren in der Gesellschaft – darunter die Roma.

Regula Pfeifer

Im Turm soll das Atelier sein, steht auf der Webseite der Pfarrei St. Marien in Winterthur. Stefan Heinichen erscheint vor der Kirche. Er sei gerade vom Pfarrhaus um die Ecke gekommen, sagt der Pfarrei-Seelsorger und Künstler und heisst die Besucherin willkommen.

Ehemalige Wohnung von Ordensfrauen

Dann schliesst er das schwere, dekorative Metalltor zum Kirchenturm auf. Nun geht’s auf verwinkelten Korridoren und über Treppen und durch Türen zum Obergeschoss, einem Altbau. «Hier haben früher die Ordensfrauen von Schaan gewohnt», sagt Heinichen und zeigt in ein Zimmer. Eine Plakette vor dem Eingangstor hatte bereits darauf hingewiesen.

Durch die Kirchturm-Tür (Mitte) geht's rauf zum Atelier.
Durch die Kirchturm-Tür (Mitte) geht's rauf zum Atelier.

Stefan Heinichens Atelier liegt zuhinterst, im ehemaligen Heizraum. Nicht im Kirchenturm, sondern im anschliessenden Gebäude. Da ein Rohr, dort eine alte Kommode. Und überall Malutensilien: Unzählige Farbtuben türmen sich auf einem Tisch, mehrere Pinsel, Gläser. Zwei Stühle stehen mittendrin und eine einfache Holz-Staffelei, die das Licht vom Fenster auffängt. An den Wänden sind Bilder angelehnt – von Bildschirm-Grösse bis auf Brusthöhe. Hier darf Stefan Heinichen seit 15 Jahren als Kunstmaler wirken.

Zum Gespräch geht’s ins Zimmer nebenan, das auch etwas abgewetzt wirkt – mit einem alten Sofa, zwei grünen Plastikstühlen, einem kleinen Tisch und einem einfachen Schrank. «So eine einfache Einrichtung ist doch viel besser. Die Menschen fühlen sich wohler als in neuen, sterilen Räumen», ist Stefan Heinichen überzeugt. Hier treffen sich jeweils die Jugendgruppen der Pfarrei.

Alt und einfach - das mögen die Menschen, sagt Stefan Heinichen.
Alt und einfach - das mögen die Menschen, sagt Stefan Heinichen.

«Wie würden Sie die heutige katholische Kirche malen?», lautet der Einstieg ins Gespräch. «Gute Frage», sagt Heinichen und schaut an die Decke. «Das Bild wäre vielfältig wie ein grosser Orientteppich», sagt er dann. «Denn sehr viele Menschen sind in der Kirche unterwegs und wollen Gutes bewirken.»

Er würde die einfachen Menschen darstellen, nicht die hohen Kleriker, von denen einige aktuell in der Kritik stehen, wegen der Studie zum sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche. «In der Kirche sind Menschen aktiv, die einen Gerechtigkeitssinn haben», sagt der Künstler. 

Sinn für Gerechtigkeit bereits als Bub

Stefan Heinichen selbst ist so ein Mensch. Einer, der sich für Gerechtigkeit einsetzt. «Und das seit Kindheit.» Er erinnert sich an einen Waldausflug mit der Schulklasse. Da sollten die Kinder in Gruppen Hütten aus Ästen bauen. Die beste würde ausgezeichnet. Die Gruppen bildeten sich, nur ein Mädchen blieb allein. «Wer hilft dem Mädchen?», fragte die Lehrerin. Stefan Heinichen tat es. Die beiden verloren den Wettbewerb, seine erste Gruppe gewann. «So bin ich», sagt er heute.

Stefan Heinichen mischt die Farben vor dem Malen.
Stefan Heinichen mischt die Farben vor dem Malen.

«Ich setze mich für andere ein, weil auch ich oft Ungerechtigkeit erlebt habe», sagt der Künstler-Seelsorger. Aufgewachsen ist er – wie sein Dialekt verrät – in Bern, in einfachen Verhältnissen. Er habe teilweise zu spüren bekommen, dass er nicht ganz schweizerisch sei. Seine Mutter habe als Kind  Nazi-Deutschland und den Weltkrieg erlebt.

Für Roma und Geflüchtete engagiert

Stefan Heinichen spricht Romanes. Das nützt er, um über diese Volksgruppe aufzuklären. «Die Roma sind so heterogen wie die übrige Gesellschaft», sagt er.

Darüber hält Stefan Heinichen Vorträge. Er wirkt als kultureller Vermittler und ist in der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus aktiv. Dass die Roma-Thematik aktuell ist, erklärt er an einem Beispiel. So gebe es unter den ukrainischen Flüchtlingen einen Graben. Die ukrainischen Flüchtlinge wollten von den Roma in den eigenen Reihen nichts wissen. Das führe zu Konflikten.

Heinichens Bildbotschaft: Vor dem Anti-Asyl-Plakat der SVP sitzen zwei Geflüchtete...
Heinichens Bildbotschaft: Vor dem Anti-Asyl-Plakat der SVP sitzen zwei Geflüchtete...

 «Ich sage den Betreuenden in den Asylzentren jeweils: ‹Behält alle beieinander.›» Denn eine Trennung würde eine Ghettoisierung der Roma bewirken, ist Heinichen überzeugt. Genauso, wie das in einigen osteuropäischen Ländern der Fall sei. Auch sonst gehe es darum, Ghettoisierung zu verhindern. «Jugendliche in Problemquartieren sind eine Gefahr für die Gesellschaft», sagt Heinichen und verweist dabei auf Frankreich.

Fragen der Gerechtigkeit ins Bild gesetzt

Auch künstlerisch setzt sich Heinichen für Gerechtigkeit ein. Für ein Porträt-Foto sucht er sich ein Bild aus, das dies besonders gut darstellt. Es zeigt eine Frau am Boden liegend, Blut rinnt ihr aus dem Mund. «Das war 2006. Neonazis brachten in Ungarn eine Roma-Frau um», sagt Heinichen.

In seinen Bildern habe Negatives Platz. «Ich versuche Bilder mit Tiefe zu machen.» Rein dekorative Malerei – etwa als Verschönerung der Wohnung, das ist nicht seins.

Stefan Heinichen malt am Porträt des Tessiner Künstlers Marco Zappa
Stefan Heinichen malt am Porträt des Tessiner Künstlers Marco Zappa

Stefan Heinichens Kunst ist immer mal wieder in einer Ausstellung zu sehen. Auch vereinzelte Malaufträge erhält er – wie kürzlich das Porträt des Tessiner Künstlers Marco Zappa. «Schön wärs, wenn ich davon leben könnte», sagt der Künstler. Doch das sei ohne klassische Ausbildung fast unmöglich. Stefan Heinichen hat den Vorkurs zur Kunstgewerbeschule in Bern besucht. «Doch fürs weitere Studium fehlte das Geld.»

In der Kirche: Einsatz für Schwächere

So blieb die Kunst eine Nebenbeschäftigung – im Unterschied zu seinen Vorfahren väterlicherseits, die von ihrer Musik lebten. Beruflich stieg Stefan Heinichen bei den SBB ein und bildete sich nebenbei zum Religionspädagogen aus. Den Wechsel zur Kirche begründet er mit seinem Einsatz für schwächere Menschen. «Eine Chance für jeden», sagt er dazu. «Zudem geniesse ich eine gewisse Freiheit bei meiner Tätigkeit.»

Der Malstil ist dem bekannten Renaissance-Künstler Caravaggio entlehnt.
Der Malstil ist dem bekannten Renaissance-Künstler Caravaggio entlehnt.

Am Herzen liegt ihm die «Tankstelle» am Donnerstagabend im Eulachpark Winterthur – ein Begegnungsangebot der katholischen Kirche. «Das ist ganz niederschwellige Seelsorge, ohne Programm – und ohne Erfolgskontrolle», sagt er voller Elan. Da sitze er an einem Tisch und rede mit den Menschen, die dazustossen, «über Gott und die Welt».

«Bis jetzt hat sich jedes Gespräch gelohnt», ist er überzeugt. «Da passiert etwas, was für die ganze Gesellschaft relevant ist.» Es komme zu Gesprächen über sonst übliche Grenzen hinweg – die etwa das Alter, das Bildungsniveau oder eventuelle Einschränkungen verursachten. Das aktiviere die Beteiligten. Und führe zu unverhofften Problemlösungen. «So fühlen sich die Menschen daheim», ist er überzeugt.

Gesellschaftskritik: «Alles wird veramerikanisiert»

Heinichen übt Gesellschaftskritik. Alles müsse sich finanziell lohnen, auch bei den staatlichen sozialen Diensten oder im Gesundheitswesen. «Alles wird veramerikanisiert», merkt er an. Zudem werde vieles überorganisiert – auch bei den Kirchen mit ihren vielen Sitzungen. «Die Leute brauchen aber keinen Perfektionismus. Sie wollen einfach sein dürfen.»

Stefan Heinichen lebt im Quartier der Pfarrei St. Marien. «Ich brauche Menschen, auf die ich zählen kann, aber auch eine gewisse Distanz», sagt er. Teilweise ist er in der Franziskanischen Gemeinschaft engagiert, will aber nicht volles Mitglied werden. Sein Wunsch in die Zukunft? «Mehr Gelassenheit», sagt er.


Stefan Heinichen hat einen Mord von Neonazis an einer Roma-Frau in Ungarn im Bild festgehalten. | © Regula Pfeifer
3. Oktober 2023 | 09:00
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