Generalvikar Pierre-Yves Maillard und Kantonsrätin Sylvie Masserey Anselin diskutieren über das geplante Sterbehilfe-Gesetz.
Schweiz

Sollen Walliser Alters- und Pflegeheime Sterbehilfe zulassen müssen?

Über ein entsprechendes Gesetz entscheidet das Walliser Stimmvolk am 27. November. Die Walliser FDP-Politikerin Sylvie Masserey Anselin* findet: Es braucht dieses Gesetz. Der Priester Pierre-Yves Maillard* sagt: Die Heime dürfen nicht gezwungen werden. Ein Streitgespräch.

Maurice Page, cath.ch /Adaption: Regula Pfeifer

Worum geht es bei der Abstimmung über das neue Gesetz?

Sylvie Masserey Anselin: Dieser Gesetzesentwurf hat lange Debatten ausgelöst und ist nur mit Mühe zustande gekommen. Dies, weil es die Grundfrage der Sterbehilfe berühren. Wie die Walliserinnen und Walliser dies wahrnehmen, werden sie uns mit ihrer Annahme oder Ablehnung signalisieren.

Das Gesetz soll einen Rahmen schaffen, um allen Bewohnern von Alters- und Pflegeheimen ihr Recht auf Selbstbestimmung zu garantieren. Heute sind wir abhängig davon, was die jeweilige Leitung einer Einrichtung festlegt. Wir müssen diesen Rahmen auch schaffen, weil wir aktuell nicht vor Auswüchsen gefeit sind.

«Es ist nicht notwendig, Sterbehilfe gesetzlich zu verankern.»

Pierre-Yvers Maillard

Pierre-Yves Maillard: Wenn es so schwierig war, dieses Gesetz zu verabschieden: Zeigt das nicht, dass es nicht richtig formuliert ist? Das Pro-Liberty-Komitee engagiert sich, weil es daran erinnern will, dass die individuelle Freiheit nicht mit einem Recht verwechselt werden darf. Dass eine Person Sterbehilfe beantragen kann: Diese Freiheit bestreitet niemand. Wir sehen jedoch nicht die Notwendigkeit, daraus ein gesetzlich verankertes Recht zu machen.

Generalvikar Pierre-Yves Maillard
Generalvikar Pierre-Yves Maillard

Es ist denkbar, dass Suizidbeihilfe in einem Hotel stattfindet. Aber niemand käme auf die Idee, ein Gesetz zu erlassen, das Hotels dazu verpflichtet. Dies sollte erst recht für Einrichtungen gelten, die wie Pflegeheime einen pflegerischen Ansatz verfolgen. Wer Recht sagt, sagt Verpflichtung. So würde man die Gewissensfreiheit der Einrichtungen, ihrer Leitenden und des Pflegepersonals einschränken. Es geht nicht darum, die Sterbehilfe zu verbieten.

Es stellt sich jedoch die Frage der Gleichbehandlung.

Masserey: Die Menschen, die sich in einer Einrichtung befinden, sind nicht in einem Hotel. Sie befinden sich an ihrem letzten Lebensort. Das sind ihr Zimmer, ihre Möbel, ihre Familienfotos… Wenn diese Menschen dort keine Sterbehilfe in Anspruch nehmen können, müssen sie die Einrichtung verlassen.

Die persönliche Freiheit oder Selbstbestimmung ist ein von der Bundesverfassung garantiertes Recht. Es ist eine Frage der Gleichbehandlung. Wir müssen heute im Wallis eine gesetzliche Grundlage schaffen, weil wir Einrichtungen haben, die Sterbehilfe nicht akzeptieren.

Maillard: Die Frage der Gleichbehandlung scheint mir gerade eine Schwäche dieses Gesetzes zu sein. Das Gesetz führt nämlich eine Unterscheidung zwischen Personen in Pflegeheimen und in spezialisierten Einrichtungen (etwa Behindertenheimen, die Red.) ein. Artikel 7.3 sieht vor, dass die Sterbehilfe ausserhalb solcher Einrichtung geleistet werden kann, falls dies die anderen Bewohnenden stören könnte. Warum wird dieser Grundsatz nicht auch auf Pflegeheime angewandt? Warum wurde nicht in Betracht gezogen, dass andere Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden könnten?

Masserey: Dabei handelt sich um eine Bestimmung für ganz besondere Situationen in sozialen Einrichtungen. Darin leben Personen, die möglicherweise schwere psychische Störungen erleiden könnten. Es ist klar, dass assistierte Suizide so organisiert werden müssen, dass diese Personen geschützt werden.

Sylvie Masserey Anselin, FDP-Kantonsrätin im Wallis
Sylvie Masserey Anselin, FDP-Kantonsrätin im Wallis

Wie notwendig oder nützlich ist das Gesetz für etwas, das eine Ausnahme bleiben sollte?

Maillard: Man kann sich tatsächlich fragen, ob ein Gesetz für eine so geringe Anzahl von Fällen sinnvoll ist. Übrigens hat eine grosse Mehrheit der angehörten Institutionen gefunden, das Gesetz sei nicht notwendig. Es gibt andere Möglichkeiten, den Sterbehilfe-Wunsch aufzunehmen und zu begleiten.

Masserey: A propos betroffene Personen: Man müsste nicht nur die Heimleitungen, sondern auch die Bewohnenden der Pflegeheime befragen. Wir kennen ihre Meinung nicht. Deshalb wird die Walliser Bevölkerung entscheiden, darunter zweifelsohne viele künftige Bewohnende von Alters- und Pflegeheimen.

«Sterbehilfe ist eine Realität, die man nicht leugnen kann.»

Sylvie Masserey Anselin

Wir haben keine offiziellen Zahlen zur Sterbehilfe im Wallis. Für die Westschweizer Kantone haben wir die Zahlen von Exit, der wichtigsten Vereinigung, die Sterbehilfe leistet. Für 2021 gibt sie 349 Fälle von Sterbehilfe zu Hause an und 68 in Pflegeheimen oder medizinisch-gesundheitlichen Einrichtungen. Das entspricht 20 Prozent. Das ist eine Realität, die man nicht leugnen kann. Wenn man kein Gesetz erlässt, verliert man meiner Meinung nach Zeit und geht das Risiko ein, irgendwann überholt zu sein.

Gibt es grundsätzlich ein Recht auf Suizid und Sterbehilfe?

Maillard: Die Befürworter berufen sich auf ein Urteil des Bundesgerichts, das den Kanton Neuenburg verpflichtet, Sterbehilfe in Pflegeheimen zuzulassen. Allerdings äussert sich das Urteil des Bundesgerichts nicht zum Inhalt. Es verpflichtet nur den Kanton, sein eigenes Gesetz anzuwenden. Man kann dieses Argument nicht verwenden, um zu sagen, dass man es im Wallis tun muss.

Dieses Bundesgerichtsurteil erinnert im Übrigen passenderweise daran, dass es kein Recht auf staatlich garantierte Sterbehilfe gibt. Auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wird ein solches Recht nicht erwähnt.

Streitgespräch zwischen Generalvikar Pierre-Yves Maillard und Sylvie Masserey Anselin –  moderiert von Maurice Page, Redaktor cath.ch
Streitgespräch zwischen Generalvikar Pierre-Yves Maillard und Sylvie Masserey Anselin – moderiert von Maurice Page, Redaktor cath.ch

Masserey: Es handelt sich um ein Freiheitsrecht. Man kann vom Staat nicht verlangen, dass er Sterbehilfe leistet. Diese Ansicht teile ich. Es bleibt eine individuelle Entscheidung, die jedoch gehört und respektiert werden muss. Man kann zu Recht davon ausgehen, dass das Urteil des Bundesgerichts die in Neuenburg geschaffene Rechtsgrundlage anerkennt. Diese ist jener recht ähnlich, die wir für das Wallis vorschlagen.

«Ein Sterbehilfe-Entscheid ist das Ergebnis eines langen Reflexionsprozesses.»

Sylvie Masserey Anselin

Besteht die Gefahr einer Bagatellisierung oder Förderung der Sterbehilfe?

Masserey: Das ist eine berechtigte Frage. Aber ich glaube, damit wird zu wenig berücksichtigt, dass ein Sterbehilfe-Entscheid das Ergebnis eines langen Reflexionsprozesses ist. Wer diesen Entscheid trifft und bis zur Ausführung der Handlung verfolgt, tut dies nicht, weil er oder sie auf einem Tisch eine Broschüre einer Vereinigung gefunden hat.

Maillard: Ich wünschte wirklich, Sie hätten Recht. Aber ich habe vertrauliche Informationen von Personen, die mir sagen, dass dies nicht unbedingt der Fall ist. Bei manchen vergingen nur wenige Tage zwischen der Anmeldung und der Tat.

Masserey: Tatsächlich kann der Prozess zwischen dem Entscheid der Person, ihrer Bestätigung und ihrer Ausführung recht schnell verlaufen. Aber das bedeutet nicht, dass die Frage nicht im Innersten der Person gereift ist – und zwar vom Moment an, an dem sie den Weg einschlägt, zum Moment, wo sie sich traut, dies zu auszusprechen.

Arzt
Arzt

Das Gesetz sieht vor, dass der Arzt die Urteilsfähigkeit einer Person bestätigt, die um Sterbehilfe bittet. Ist das seine Aufgabe?

Masserey: Das Gesundheitsgesetz und das aktuelle Gesetz legen den Grundsatz der Gewissensverweigerung für den Arzt fest. Er kann nie gezwungen werden, sich an Sterbehilfe zu beteiligen. Will er nicht, soll ein anderer Arzt hinzugezogen werden. Zu unterstreichen ist: Es ist nie der Arzt, der die Handlung durchführt.

«Ethikkommissionen sind besser in der Lage, individuelle Situationen zu begleiten.»

Pierre-Yves Maillard

Könnte man die Prüfung des Antrags auf Sterbehilfe einer anderen Instanz anvertrauen als dem Arzt?

Masserey: Im Kanton wurden Vorbehalte geäussert gegenüber der Schaffung von Ethikkommissionen. Man befürchtete, sie könnten zu willkürlichen Moralkommissionen werden.

Maillard: Im Gegenteil, wir bevorzugen den Fall und die Umstände berücksichtigende Zugänge anstelle von Gesetzen. Die Ethikkommissionen funktionieren und sind besser in der Lage, individuelle Situationen zu begleiten, die immer speziell sind.

Auch das Pflegepersonal ist betroffen.

Masserey: Das Gesetz legt fest, dass eine Pflegeperson nicht beruflich an der Sterbehilfe teilnehmen darf. Sie könnte dies in besonderen Fällen aus persönlicher und freiwilliger Initiative tun – etwa wenn sie eine enge Beziehung zu einem Bewohner aufgebaut hat.

Maillard: Auch wenn er nicht teilnimmt, ist er dennoch betroffen. 

Masserey: Die Pflegende wird genauso betroffen sein wie beim Tod eines anderen Bewohners. Diese Menschen sind täglich mit dem Tod konfrontiert.

«Während der Tod normal ist, ist ein Selbstmord nicht normal.»

Pierre-Yves Maillard

Maillard: Ja, aber in einem ganz anderen Kontext als bei einem natürlichen Tod. Während der Tod normal ist, ist ein Selbstmord nicht normal. Dieser kann den Sinn des beruflichen Engagements mancher Pflegender in Frage stellen: «Ich habe mich jahrelang um diese Person gekümmert, und jetzt bittet sie um Sterbehilfe. Habe ich meine Arbeit schlecht gemacht?»

Zuwendung ist zentral bei der Pflege von alten und kranken Menschen.
Zuwendung ist zentral bei der Pflege von alten und kranken Menschen.

Worin unterscheidet sich der sogenannt «gewöhnliche Suizid» und vom assistierten Suizid?

Masserey: Ich mag den Begriff «gewöhnlicher Selbstmord» nicht, aber ich habe keinen besseren. Im Unterschied zu einem gewöhnlichen Selbstmord geschieht ein assistierter Suizid, wenn eine unheilbare Krankheit oder unerträgliches Leiden vorliegt. Da trifft nicht jemand eine Entscheidung zwischen Leben und Tod. Sondern da entscheidet jemand, der zu einem bestimmten Zeitpunkt des Prozesses, der ihn in den sicheren Tod führt, diesen vorwegzunehmen.

Und wenn diese Person die Entscheidung treffen würde, auf Pflege zu verzichten oder sich nicht mehr zu ernähren: Sollten wir dies als eine Form von Selbstmord betrachten? Die Medizin ist nicht in der Lage, alle Leiden zu unterdrücken. Familien, die mit einem gewöhnlichen Suizid und einem assistierten Suizid konfrontiert sind, haben nicht dieselbe Wahrnehmung.

«Ein Suizid, ob assistiert oder nicht, ist immer ein gewaltsamer Tod.»

Pierre-Yves Maillard

Maillard: Ich kann mich dieser Sichtweise natürlich nicht anschliessen. Ein Suizid, ob assistiert oder nicht, ist immer ein gewaltsamer Tod. Es ist immer eine Entscheidung zwischen Leben und Tod, unabhängig von den Umständen und dem Zeitpunkt. Im Übrigen erfordert ein Tod durch Sterbehilfe eine polizeiliche Feststellung. Diese muss sicherstellen, dass das Verfahren korrekt durchgeführt wurde.

Wenn von Palliativmedizin und tiefer Sedierung die Rede ist, muss aus philosophischer Sicht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Zweck und der Folge aufrechterhalten werden. Wenn Behandlungen abgebrochen oder Morphin verabreicht werden, kann das den Tod herbeiführen. Der Zweck ist und bleibt, das Leiden zu lindern. Wird aber im Rahmen der Sterbehilfe eine tödliche Lösung abgegeben, ist die Absicht dahinter, den Tod herbeizuführen.

Masserey: Die Frage ist: «Für wen entscheiden wir? Habe ich das Recht, für mich und für andere zu entscheiden? Was zählt, ist das Mitleid. Und wir dürfen die Frage nicht mit Scham behaften.

«Ich bin keine Verfechterin der Sterbehilfe.»

Sylvie Masserey Anselin

Ich bin keine Verfechterin der Sterbehilfe. Aber ich glaube, wir müssen die Fähigkeit entwickeln, die Bitten zu hören und die Antwort zu umrahmen, die wir darauf geben können. Es ist auch zu befürchten, dass lebensmüde Menschen um Sterbehilfe bitten. Das Gesetz kann dies verhindern.

Welche Schlussfolgerungen ziehen Sie?

Maillard: Ich antworte mit einer Illustration, die vielleicht etwas hart klingt. Aber ich glaube, sie ist ziemlich aussagekräftig. Ein Heimbewohner bittet den Heimleiter, ihn auf die Terrasse zu begleiten. – «Sehr gerne.» – «Können Sie mir helfen, über das Geländer zu klettern, weil ich mich hinunterstürzen will» – «Aber nein, wie schrecklich!» Es geht immerhin ein wenig darum. Unserer Meinung nach muss eine Einrichtung die Freiheit haben, einer Person zu sagen: «Wir hören Ihre Notlage, wir werden Sie begleiten, aber Sie müssen wissen, dass Ihnen hier niemand über das Geländer helfen wird». 

Masserey: In meinem eigenen Pflegeheim möchte ich keinen Heimleiter, der dem Bewohner hilft, seinen Koffer zu packen und ihn zur Tür des Pflegeheims begleitet, damit er seinen letzten Willen anderswo ausüben kann.

Der assistierte Suizid in der Schweiz

Die Entwicklung der Suizidhilfe in der Schweiz beruht eigentlich auf Artikel 115 des Strafgesetzbuches aus dem Jahr 1937. Dieser besagt Folgendes: «Wer aus selbstsüchtigen Beweggründen jemanden zum Selbstmord verleitet oder ihm dazu Hilfe leistet, wird, wenn der Selbstmord ausgeführt oder versucht wurde, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe bestraft.»

Daraus leitete die Rechtsprechung ab, dass die Beihilfe zum Selbstmord nicht strafbar sei, wenn keine «selbstsüchtigen Beweggründe» vorliegen.

«Aber man war 1937 meilenweit davon entfernt, an die Beihilfe zum Selbstmord zu denken, die wir heute kennen», betont Pierre-Yves Maillard. (mp/rp)

*Sylvie Masserey Anselin, FDP-Kantonsrätin im Wallis und Mitglied der Kommission für Gesundheit, Soziales und Integration (SAI). Der Priester Pierre-Yves Maillard ist Generalvikar der Diözese Sitten und Mitglied des Pro-Liberty-Komitees, das sich gegen das Gesetz ausspricht.


Generalvikar Pierre-Yves Maillard und Kantonsrätin Sylvie Masserey Anselin diskutieren über das geplante Sterbehilfe-Gesetz. | © Bernard Hallet
15. November 2022 | 13:52
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