Sex and Gender – Wer definiert Geschlechtlichkeit?

Zürich, 16.3.15 (kath.ch) Wie bestimmt man das Geschlecht eines Menschen? Ist dies eine rein biologische Kategorie? Welche Rolle spielen Gesellschaft und Erziehung dabei? Solche Fragen stellt die Genderforschung. Sie kratzt an den bestehenden Normen, weil sie bisher Eindeutiges wie die Aufteilung der Geschlechter in männlich und weiblich in Frage stellt. Dies wiederum ruft nicht zuletzt christliche Kritiker auf den Plan, die um die Auflösung der Begriffe «Ehe und Familie» bangen. Sie werfen der Genderforschung vor, unwissenschaftlich zu sein und letztlich politische Motive zu haben. kath.ch versucht eine Begriffsklärung.

Sylvia Stam

Mit 1200 Unterschriften verlangten vier genderkritische Organisationen im Februar, der Genderforscherin Judith Butler solle die Ehrendoktorwürde der Universität Freiburg i.Ü. wieder aberkannt werden. Ihr Hauptargument, Butler behaupte «die Geschlechtsidentität habe mit der Natur nichts zu tun, sondern sei eine beliebig veränderbare soziale Konstruktion», argumentieren sie in ihrem Protestschreiben.

Sie halten die Theorie Butlers für unwissenschaftlich, da «alle seriösen Erkenntnisse der modernen Hirnforschung, der Psychologie der Geschlechter, der Hormonforschung, jede empirische Erhebung über die Lebensgewohnheiten vom Menschen und ganz einfach all das, wovon jeder Mensch im Umgang mit anderen und sich selbstselbstverständlich ausgeht» die Theorie widerlege, dass Mann und Frau beliebige gesellschaftliche Konstruktionen seien. Bei den vier Organisationen handelt es sich um «Bürger für Bürger», «Human Life International Schweiz», «Jugend und Familie» sowie «Zukunft CH». Die beiden letztgenannten Organisationen nehmen auf ihrer Homepage Bezug auf christliche Werte.

Ähnlich wie diese Organisationen argumentierte schon Bischof Vitus Huonder in seinem «Wort zum Tag der Menschenrechte” vom 10. Dezember 2013. Der Begriff «Gender» bezeichne das soziale Geschlecht, welches vom biologischen unabhängig sei und bedeute, «dass jeder Mensch sein Geschlecht und seine sexuelle Orientierung frei wählen könne, ob er Mann oder Frau sein wolle, ob er hetero-, homo-, bi- oder transsexuell leben wolle.»

Uneindeutigkeit beim Geschlecht verwirrt zutiefst

Tatsächlich sei die Kategorie «Geschlecht» eine der wichtigsten Kategorien, nach denen wir Menschen uns orientieren, sagt Fabienne Amlinger, Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Medienbeauftragte am Interdisziplinären Zentrum für Geschlechterforschung der Universität Bern (IZFG). «Wenn wir einem Menschen begegnen und dessen Geschlechtszugehörigkeit nicht eindeutig erkennen, so sind wir extrem verunsichert». So hätten etwa Kinder in Studien äusserst irritiert reagiert auf Bilder von Menschen, die nicht eindeutig als Mann oder als Frau zu erkennen waren. Auch der Medienhype um Conchita Wurst, die sich als bärtige Frau zeigt, verdeutliche, wie heftig wir auf solche Uneindeutigkeit reagierten.

Dabei sei aber gerade das Geschlecht gar nicht so eindeutig bestimmbar – so zumindest sieht es die Genderforschung, die sich unter diesem Begriff seit den Sechzigerjahren mit der Frage befasst, was die geschlechtliche Identität von Menschen ausmacht.

In einem ersten Schritt wurde in der Genderforschung eine Unterscheidung getroffen zwischen dem biologischen Geschlecht (englisch «sex») und dem sozialen Geschlecht (englisch «gender»). Der Begriff «Gender» bezeichnet somit das, was in einer Kultur als typisch für ein bestimmtes Geschlecht angesehen wird: Kleidung, Frisur, Beruf, bestimmte Verhaltensweisen und so weiter. Im Unterschied zum biologischen Geschlecht sind diese Kategorien nicht angeboren, sondern erlernt.

«Nehmen wir das Beispiel eines Babys, bei dem wir nicht eindeutig sehen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Wenn das Kind rosa Kleider trägt, wird es in unserer Kultur als Mädchen angesehen. Die Verknüpfung der Farbe rosa mit «weiblich» haben wir gelernt, das ist keine natürliche Verbindung», erklärt Amlinger.

Genau dies zeige jedoch, dass das Geschlecht keineswegs frei wählbar sei, sondern stark durch die Sozialisation festgelegt werde, sagt Amlinger. Sie verweist ausserdem auf die Lebensgeschichten transgender Menschen, die beispielweise mit männlichen Geschlechtsorganen geboren wurden, sich aber als Frau identifizieren oder umgekehrt. Deren Erfahrungen seien oft von grossem Leiden geprägt.

Mann- oder Frau-Sein als «kulturelle Performanz»

In einem zweiten Schritt stellte die Genderforschung in den neunziger Jahren auch den biologischen Begriff von Geschlecht in Frage. Menschen mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen etwa seien innerhalb der Kategorien von Mann und Frau nirgends einzuordnen. Man habe somit realisiert, dass auch die Wissenschaft der Biologie ein menschliches Konstrukt und das biologische Geschlecht alles andere als eindeutig sei, erklärt Amlinger weiter.

Judith Butler, eine Pionierin der Genderforschung, die von einem philosophischen Standpunkt aus argumentiere, habe die These aufgestellt, dass Mann- oder Frau-Sein eine «kulturelle Performanz» sei. Damit meine sie, dass wir unsere Geschlechterrolle immer wieder durch Sprechakte neu aufführten. Ein ähnliches Konzept, nach dem Menschen ihr Geschlecht immer wieder «herstellen», nennt sich laut Amlinger «Doing Gender»: «Wie wir beispielsweise als Mann oder als Frau dasitzen, haben wir gelernt und führen das immer wieder auf», erläutert Amlinger.

Damit sind wir beim zweiten zentralen Vorwurf der Gender-Kritiker: Laut Dominik Lusser, Mediensprecher der Organisation Zukunft Schweiz, Mitinitiantin des Protestbriefs, weist die Hirnforschung «schon bei Neugeborenen und somit vor jeder Möglichkeit sozialer Prägung Unterschiede in den Gehirnstrukturen und im Verhalten von Mädchen und Jungen nach», wie er in einem veröffentlichten Briefwechsel mit François Gauthier, Professor für Religionswissenschaften an der Universität Freiburg, schreibt. Er hält die Genderforschung deshalb für unwissenschaftlich.

Amlinger verweist auf jüngere Studien der Hirnforschung, welche das Gegenteil aussagten, indem sie nachwiesen, dass das Hirn je nach äusseren Einflüssen formbar sei.

Gesellschaft ist zweigeschlechtlich aufgebaut

Auch wenn die Genderforschung den Eindruck erweckt, dass sie die Geschlechtergrenzen verwischt, ist es laut Amlinger eine dominante Realität, dass unsere Gesellschaft zweigeschlechtlich aufgebaut ist und sich an den beiden Geschlechtern Mann und Frau orientiert. «Geschlecht ist eine Kategorie, die unsere Gesellschaft strukturiert», sagt Amlinger, «so machen Männer beispielsweise Militärdienst und Frauen verdienen oftmals weniger. Genderforschung ist eine Wissenschaft, die solche Prozesse sichtbar macht. Das wiederum kann Auswirkungen auf politische oder juristische Entscheidungen haben».

Tatsächlich gesteht auch Bischof Huonder der Genderforschung zu, dass sie sich um eine Gleichstellung der Geschlechter bemüht. Ungerechtigkeit im Verhältnis der Geschlechter könne jedoch durch die Leugnung der Geschlechterpolarität nicht behoben werden. Deshalb lehne die Kirche den «Genderismus» ab.

Ideologie des «Genderismus»

Der Begriff Genderismus, der in der Genderforschung selber nicht vorkommt, impliziert einen Ideologie-Vorwurf: Der Genderforschung wird vorgeworfen, dass sie handelnd statt bloss beschreibend sei, dass dahinter ein politischer Wille stehe: «Was der Mensch ist und was Familie ist, wird zur ausschliesslichen Frage der Politik und Macht umgedeutet», so Dominik Lusser von Zukunft Schweiz.

Amlinger kennt diesen Vorwurf und nimmt ihn gelassen: Gender sei eine Wissenschaft, welche die Kategorie «Geschlecht» anschaut sowie Macht- und Dominanz-Ungleichheiten aufdeckt. Selbstverständlich könne dies politische Implikationen haben, was im Übrigen auch für andere Wissenschaften gelte.

Angriff oder Erweiterung von «Ehe und Familie»?

Durch die Infragestellung der Eindeutigkeit des biologischen Geschlechts stellt die Genderforschung letztlich den christlichen Schöpfungsplan in Frage, demzufolge Gott die Menschen als Mann und Frau geschaffen hat. Entsprechend wirft Bischof Huonder der Genderforschung einen «Angriff auf Ehe und Familie als die tragenden Strukturen unserer Gesellschaft» vor. Befürchtet wird, dass «jede ‘sexuelle Identität’ als gleichwertig akzeptiert wird», wie Huonder es in seinem Schreiben formulierte.
Aus Sicht der Genderforschung empfindet man dies nicht als Angriff, sondern vielmehr als eine Erweiterung der Begriffe «Ehe und Familie», wie Amlinger meint.

Spätestens hier zeigt sich, wie schwierig es ist, miteinander ins Gespräch zu kommen, was Genderforscher wie Genderkritiker bestätigen: Wenn die eine Seite, in diesem Fall die Kirche, für sich die Deutungshoheit dieser Begriffe beansprucht, und die andere Seite die dadurch entstehenden Machtverhältnisse hinterfragt, wird ein Dialog schwierig.

Die Theologin Regina Ammicht Quinn fasst das Problem wie folgt in Worte: «Gender-Forschung in der Theologie ist keine Ideologie, sondern ein kritisches Instrument zur Aufdeckung von Ideologien.» Aber der Aufdeckung von Ideologien müsse sich die Kirche widmen, forderte die aktuelle Herbert-Haag-Preisträgerin letzte Woche am 33. Katholischen Dialog im Romero-Haus in Luzern.
Ammicht Quinn spricht sich unter anderem dafür aus, dass die Zweiteilung der Geschlechter zu kurz greift. Ein Lehrstuhl an einer theologischen Fakultät wurde ihr bis heute verweigert. (sys)

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16. März 2015 | 12:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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