Stefan Loppacher an der Präventions-Fachtagung in Wien
Schweiz

Schweiz, Deutschland, Österreich: Zu wenig Ressourcen für Prävention

Trotz dringenden Handlungsbedarfes: Es gibt zu wenig Ressourcen für Prävention von Gewalt in der Kirche. Und der Ländervergleich zeigt: Die Schweiz ist zu spät bei der Aufarbeitung sowohl sexueller als auch spiritueller Gewalt. Fazit einer Fachtagung zum Thema.

Ines Schaberger

Gerne würde er sein Land von der besten Seite präsentieren, doch das wäre Schönfärberei, die sich bei dieser Thematik verbietet. So eröffnete der Schweizer Kirchenrechtsexperte Stefan Loppacher sein Statement bei der zweiten deutschsprachigen «Fachtagung zur Prävention von Missbrauch und Gewalt in der katholischen Kirche Österreich – Deutschland – Schweiz», die am 10. und 11. April im Kardinal König Haus in Wien (AT) stattfand.

«Entgegen dem Klischee der pünktlichen und professionellen Schweizer sind wir im Bereich der Aufarbeitung und Prävention von Gewalt in der Kirche zu spät», so Loppacher, der die Tagung mitorganisiert hatte. Nicht alle Bischöfe haben Präventionsstellen, die meisten davon arbeiten mit kleinen Teilzeitpensen.

Wenig personelle Ressourcen

Im Bistum St.Gallen sind es rund 20 bis 30 Stellenprozent, auch wenn diese nicht explizit als solche ausgewiesen werden, erklärte Fachexpertin Dolores Waser Balmer. «Die Ergebnisse der Pilotstudie waren unerwartet für das Bistum St.Gallen und es brauchte Zeit, bis genügend Ressourcen zur Verfügung gestellt wurden.»

Sieglinde Kliemen
Sieglinde Kliemen

Im grössten Schweizer Bistum Basel stehen der Präventionsbeauftragten Sieglinde Kliemen 10 bis 15 Stellenprozent «als Basisrauschen» zur Verfügung. Dazu kommen Seminare für die Pastoralräume, für die bei Bedarf auch zwei weitere Personen angefragt werden können. Sie habe nicht den Eindruck, dass im Bistum Basel zu wenig Ressourcen für Prävention zur Verfügung stünden. «Die Pastoralräume stehen auch selbst in der Verantwortung, die Prävention umsetzen», so Kliemen. Bei Spezialthemen gebe es die Bereitschaft, weitere Ressourcen zu sprechen.

Fehlende Vernetzung

Einzig die Präventionsstelle des Bistums Chur ist mit 100 Stellenprozent ausgestattet. Im Unterschied zu den Nachbarländern Deutschland und Österreich gibt es keine offizielle Vernetzung der jeweiligen Präventionsbeauftragten, kritisierte Loppacher. «Für die Aufarbeitung gibt es sowieso keine diözesanen Stellenprozente». Ausserdem gäbe es in der Schweiz keinen allgemeinen Konsens darüber, dass es einen Verhaltenskodex wie im Bistum Chur als Präventionsmassnahme überhaupt brauche.

Joseph Maria Bonnemain
Joseph Maria Bonnemain

Auch wenn Präventionskurse mit grossem Engagement und inhaltlich hochwertig geführt werden, setze umfassende Präventionsarbeit einen Standard an professioneller Institution voraus, «den die Kirche teilweise bis gar nicht bietet», so Loppacher: «Wenn es keine HR-Strukturen, Personalführung oder Leitungskompetenz gibt, funktioniert das System nicht.»

Ländervergleich: Theorie und Praxis im Widerspruch

In Deutschland wie Österreich ist die Präventionsarbeit seit 2010 durch je eine Rahmenordnung geregelt, die Ressourcen in den Bistümern sind jedoch sehr unterschiedlich verteilt. Theorie und Praxis stünden dabei stark im Widerspruch, kritisierte Ingrid Lackner, Koordinatorin der österreichweiten Stabsstellen für Prävention von Missbrauch und Gewalt: In Österreich sei beispielsweise eine vierstündige verpflichtende Präventionsschulung für alle hauptamtlich tätigen Mitarbeitenden vorgesehen, jedoch mit unterschiedlichen Konsequenzen in den jeweiligen Diözesen bei Nichterscheinen.

«Dass Prävention auch Sache der Leitungspersonen ist, ist noch nicht überall angekommen.» Als Leiterin der Stabsstelle der Diözese Graz-Seckau erlebe sie, dass Betroffene nach wie vor nicht wagen, ihren Fall zu melden, «vor allem, wenn es sich bei den Tätern um Priester handelt und der Fall nicht eindeutig strafrechtlich relevant, sondern im Graubereich ist».

Österreich: keine historische Aufarbeitung

Im Unterschied zu Deutschland und der Schweiz fehlt in Österreich eine historische Aufarbeitung der Missbrauchsfälle. «Die österreichischen Bischöfe haben sich dagegen entschieden, mit dem Argument, dass nicht viel anders herauskommen werde als bei der MHG-Studie in Deutschland», sagte Lackner am Rande der Fachtagung zu kath.ch. Mit einer 2010 gegründeten Opferschutzkommission, die nach ihrer Vorsitzenden Klasnic-Kommission genannt wird, sei man der Meinung, genug Daten gesammelt zu haben.

Laut Lackner gibt es keine Mehrheit in der österreichischen Bischofskonferenz, die sich für eine wissenschaftliche Aufarbeitung wie in der Schweiz aussprechen würde. «Mich würde diese nur dann interessieren, wenn man auch die daraus gezogenen Schlüsse ernst nimmt», so Lackner. Eine Studie zur Effektivität der Präventionsarbeit sei aktuell ebenfalls nicht geplant.

Geistlicher Missbrauch wird langsam Thema

Spirituelle Gewalt wurde auf der Tagung länderübergreifend als aktuelle Herausforderung definiert. «Nachdem vor allem Frauen, namentlich Doris Reisinger, den Bedarf dazu öffentlich formuliert hatten, gibt es seit 2023 eine Handreichung der Deutschen Bischofskonferenz dazu», erklärte Sabine Hesse.

Die Sprecherin der Bundeskonferenz der Präventionsbeauftragten der deutschen Bistümer sprach angesichts der vielschichtigen Präventionsaufgaben von einer enormen Arbeitsbelastung: «Letztlich wissen wir nicht, wie wir das schaffen können und sollen.»

Präventionstagung in Wien
Präventionstagung in Wien

In Österreich wurde die Prävention von spiritueller Gewalt in die Rahmenordnung aufgenommen, für grössere Veranstaltungen müssen Schutzkonzepte erarbeitet werden, «sonst darf die Veranstaltung nicht durchgeführt werden», so Benno Elbs, Bischof von Feldkirch. Finanzielle Genugtuungsleistungen für Betroffene sind aber keine vorgesehen.

«Beim Thema spirituelle Gewalt sind wir erst am Anfang.»

Bischof Joseph Bonnemain

Und in der Schweiz? «Beim Thema spirituelle Gewalt sind wir erst am Anfang, es beschäftigt uns noch nicht in dem Masse, wie es sollte», sagte Bischof Joseph Bonnemain. Er verwies auf den Churer Verhaltenskodex, der den Missbrauch spiritueller Macht behandle. Die Richtlinien der Schweizer Bischofskonferenz sollen dahingehend überarbeitet und ergänzt werden – auf die Frage der Journalistin, bis wann dies geschehen soll, zuckte er entschuldigend mit den Schultern.

Seelsorgebeziehungen sind asymmetrisch

Die St. Galler Bistumsleitung hat in einer Pilotphase 2023/2024 zwei Ansprechpersonen ernannt, die Fälle von Missbrauch geistlicher Macht beziehungsweise geistlicher Abhängigkeit entgegennehmen und bearbeiten sollen. Das Bistum Basel konzeptioniert gerade Vertiefungsseminare, die die Prävention spiritueller Gewalt mitberücksichtigen, so Kliemen.

Elisabeth Fink Schneider und Martin Werlen sind zuständig für die Anlaufstelle "Missbrauch geistliche Macht" im Bistum St. Gallen
Elisabeth Fink Schneider und Martin Werlen sind zuständig für die Anlaufstelle "Missbrauch geistliche Macht" im Bistum St. Gallen

Loppacher betonte im Gespräch mit kath.ch, dass geistlicher Missbrauch zwar sehr komplex und schwer zu fassen, im Fachgremium der Schweizer Bischofskonferenz sehr wohl ein Thema sei: «Es geht um eine Bewusstseinswerdung, dass Seelsorgebeziehungen per se asymmetrisch sind und daher sorgfältig gestaltet werden müssen.»

Positiver Druck von aussen

Der Churer Bischof, der neben dem Wiener Weihbischof Franz Scharl der einzige vor Ort anwesende Bischof bei der Fachtagung war, dankte allen in der Prävention Engagierten sowie den Medienschaffenden, ohne deren Druck in der Aufarbeitung und Prävention von Gewalt in der Kirche zu wenig passieren würde. Er habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, «dass wir durch diesen Prozess eine demütigere, transparenter und lernende Kirche werden», so der entsprechende Ressortverantwortlicher der Schweizer Bischofskonferenz.

Neue Standards setzen

Auch Meilensteine in der Präventionsarbeit wurden im Rahmen der Fachtagung gewürdigt. Sabine Hesse etwa sprach davon, dass staatliche Regelungen in Deutschland beim Schutz von schutz- oder hilfebedürftigen Erwachsenen zu kurz greifen und kirchliche Präventionsstellen in diesem Bereich Pionierarbeit leisteten.

Und Stefan Loppacher betonte, dass das gesamte Aktenmaterial, das bereits jetzt Zehntausende Seiten umfasse, nach Abschluss der Forschungen im Schweizer Bundesarchiv archiviert werde: «Damit haben wir einen neuen Standard vorgelegt, wie Forschung zum Thema sexuelle Gewalt in der Kirche aussehen kann.»

Zur Aufarbeitung von Missbrauch gehört die Untersuchung von Akten.
Zur Aufarbeitung von Missbrauch gehört die Untersuchung von Akten.

Nun gehe es darum, Prävention in der Breite wie in der Höhe auszubauen. «Noch mehr Zeit verstreichen zu lassen, können wir uns nicht mehr leisten. Denn dann ist die Zukunft der Kirche ihre Vergangenheit. Und das dürfen wir nicht zulassen», so Loppacher.

Schwierigkeiten auf weltkirchlicher Ebene

Peter Beer von der päpstlichen Universität Gregoriana, der online aus Rom zugeschaltet war, betonte die immensen kulturellen Unterschiede innerhalb der verschiedenen Länder der römisch-katholischen Kirche. «Es ist nicht geklärt, wie man sich auf weltkirchlicher Ebene auf gemeinsame Präventionsmassnahmen einigen kann», bedauerte er. Im Austausch mit Rektoren von Priesterseminaren des globalen Südens habe er erfahren, dass es für manch einen schon eine gelungene Präventionsmassnahme sei, wenn seine Priesterseminaristen keine Waffen aufs Gelände mitnehmen würden.

Peter Beer, Professor am Institut für Anthropologie (IADC) der Päpstlichen Universität Gregoriana
Peter Beer, Professor am Institut für Anthropologie (IADC) der Päpstlichen Universität Gregoriana

Insofern bezeichnete Beer es als einen Fortschritt, dass im «Instrumentum Laboris» zur Weltsynode im vergangenen Herbst das Thema Gewalt als «schwere Krise der Kirche aufgrund des Missbrauchs durch Kleriker» angesprochen und versucht wurde, die Perspektive der Betroffenen einzunehmen. «Man glaubt es kaum, aber die Rede war sogar davon, dass es einen Eingriff in die Strukturen braucht», so Beer.

Die Durchführung der Weltsynode sei jedoch «wie eine kalte Dusche» gewesen, sagte Beer mit Blick auf das päpstliche Schweigegebot für Synodenteilnehmende sowie der fehlenden Einladung von Betroffenen zur Weltsynode. Der Synthesebericht der Synode sei aber immerhin nicht hinter das Vorbereitungsdokument zurückgegangen, sondern zeige, dass Aufklärung, Aufarbeitung und Prävention zum Selbstverständnis der Gesamtkirche gehörten.

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Stefan Loppacher an der Präventions-Fachtagung in Wien | © Ines Schaberger
12. April 2024 | 09:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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