Die Freiburger Dogmatikprofessorin Barbara Hallensleben
Kommentar

Russland, die Ukraine und der Westen: Was man zur Zeit eigentlich nicht sagen kann und doch sagen muss

Die Freiburger Dogmatikerin Barbara Hallensleben hat enge Verbindungen zum russischen Patriarchat. Metropolit Hilarion ist Titularprofessor der Freiburger Fakultät. Seit Donnerstag herrscht Krieg. Und jetzt? Ein Gastkommentar.

Barbara Hallensleben*

Flüchtlingsströme von Ost nach West – in meinem persönlichen Umfeld kannte ich das bislang nur aus den Erzählungen meiner Mutter, die im Zweiten Weltkrieg mit ihrer Familie aus Breslau nach Norddeutschland flüchten musste. Nun überlegen meine Freunde und Bekannten in verschiedenen Teilen der Ukraine, ob sie sich auf die Flucht begeben.

Sorgen über Sorgen, Gebete über Gebete

Sergiy hat eine wenige Wochen alte Tochter, und die Familie kann und will das eigene Heim nicht verlassen. Wie geht es wohl den Patientinnen und Patienten im Kiewer Leukämie-Hospital, das wir von Freiburg aus seit Jahren unterstützen? Fragen über Fragen, Sorgen über Sorgen, Gebete über Gebete…

Der Verein orthodoxer Studierender an der Universität Freiburg, darunter auch russische und ukrainische Studierende, wird die Göttliche Liturgie zum Semesteranfang als Fürbitte für den Frieden in der Ukraine, für den Frieden zwischen Staaten und Kulturen feiern.

Alle Kirchen in der Ukraine sprechen sich gegen den Krieg aus

Eine «objektive Berichterstattung» oder gar «objektive Analyse» der Geschehnisse ist zur Zeit nicht möglich. «Nach unbestätigten Meldungen …», heisst es nicht selten in den unzähligen Pressemitteilungen. Was lässt sich sagen, wenn die Logik der Zerstörung auch die Worte erfasst hat? Was lässt sich tun, wenn die Nachrichten rollende Panzer und die Detonationen zeigen?

Der Kiewer Metropolit Onufrij Berezovsky
Der Kiewer Metropolit Onufrij Berezovsky

Nicht nur im Westen ist die Verurteilung der kriegerischen Handlungen einhellig – auch in der Ukraine sprechen sich alle Kirchen klar und öffentlich gegen den Krieg aus, auch die grosse Ukrainische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats mit ihrem Oberhaupt, Metropolit Onufrij.

Metropolit Hilarion: «Krieg ist kein Mittel zur Lösung»

Eine kurze Online-Recherche reicht, um auch die Positionierung von Metropolit Hilarion, dem Leiter des Kirchlichen Aussenamtes des Moskauer Patriarchats und Titularprofessor an der Theologischen Fakultät in Freiburg, zu erkennen: «Krieg ist kein Mittel zur Lösung angestauter politischer Probleme».

Papst Franziskus bei einem Treffen mit Hilarion Alfejew 2021, damals noch Leiter des Aussenamtes des Moskauer Patriarchats.
Papst Franziskus bei einem Treffen mit Hilarion Alfejew 2021, damals noch Leiter des Aussenamtes des Moskauer Patriarchats.

Das diesbezügliche Interview ist keine Propagandarede für das Ausland, sondern auf der Website des Patriarchats öffentlich zugänglich. Es greift auch russische Politiker an, die sich ohne Rücksicht auf die Opfer siegesgewiss geben. Der Metropolit weiss, wovon er spricht: Als er als junger Priestermönch in Litauen im dortigen Heilig-Geist-Kloster lebte, stellte er sich den einrollenden sowjetischen Panzern entgegen und verhinderte auf diese Weise ein Blutbad; Litauen verlieh ihm dafür den staatlichen Freiheitsorden.

Metropolit Hilarion gilt bei Hardlinern als viel zu offen

Metropolit Hilarion steht auch heute in einer äussersten Spannung: Bei Hardlinern gilt er seit langem als viel zu offen und freundlich gegenüber dem Westen – bei Russen, die den Austausch mit dem Westen suchen und Gewalt verabscheuen (und das sind mehr als genug), steht er für die Zukunftsfähigkeit seiner Kirche.

Barbara Hallensleben besuchte 2019 mit dem damaligen deutschen Aussenminister Heiko Maas Metropolit Hilarion (links) in Moskau.
Barbara Hallensleben besuchte 2019 mit dem damaligen deutschen Aussenminister Heiko Maas Metropolit Hilarion (links) in Moskau.

Aktuell scheint der «russische Bär» nicht mehr zu stoppen zu sein, auch nicht durch mutige Metropoliten. Bleibt man bei dieser Metapher, dann wird ein Bär in der Regel aggressiv durch eine Verwundung, durch das Gefühl der Bedrohung oder zum Schutz seiner Jungen.

Was Russland umtreibt

Hören wir eine Stimme aus der russischen Presse in einer ganz alltäglichen Bemerkung, auf die Erwartungen des russischen Publikums abgestimmt, hier ins Deutsche übersetzt: «Das ist die Statistik, die mich persönlich beunruhigt: 1990 waren 30’000 amerikanische Soldaten in Europa, 2014 – 42’000, heute bereits 75’000. Selbst diejenigen, die sich nicht für diese Zahlen interessieren, spüren immer die Auswirkungen einer Verschlechterung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. Gewöhnliche Bürger, die international fliegen, sagen, dass sie bei den Sicherheitskontrollen einen Alptraum erleben (zum Beispiel bei der Ankunft in London), es wird immer schwieriger, ein Visum zu erhalten; eine Reihe von Warenherstellern weigert sich grundlos, ihre Produkte nach Russland einzuführen und so weiter. Vor diesem Hintergrund spaltet sich die Gesellschaft natürlich: Für die einen ist es wichtiger, ins Ausland zu reisen, wie es vor 2014 der Fall war, für die anderen ist es wichtiger, die Probleme globaler zu betrachten. Ich möchte zitieren: ‹Niemand kümmert sich um die Tatsache, dass russische Truppen auf russischem Territorium stationiert sind, während die amerikanischen Truppen Tausende von Kilometern von zu Hause entfernt sind.›»

Genf im Juni 2021: Hier trafen sich Biden und Putin.
Genf im Juni 2021: Hier trafen sich Biden und Putin.

Wer der russischen Sprache mächtig ist, begegnet in russischen Quellen der verwunderten Besorgnis, dass die USA bereits nachdrücklich von diesem Krieg sprachen, als weder die russische noch die ukrainische Bevölkerung mit seinem Kommen rechnete. Auch in Russland weiss man, dass schwache amerikanische Präsidenten in der Regel ihre Positionen stärken, indem sie – trotz der verheerenden Erfahrungen ihrer Vorgänger – einen Krieg anfangen. Und wer wüsste nicht, dass die weltweite Kriegsindustrie diese Kriege braucht, um ihre Gewinne zu machen? Deutschland hat bereits Waffenlieferungen in die Ukraine angekündigt.

Unerträgliche Sprachbilder Putins

Die kriegerischen Handlungen in der Ukraine sind durch nichts zu rechtfertigen. Die militärische Logik ist immer eine Eskalation ohne Rationalität, identisch in Ost und West. Gerade deshalb geht es nicht darum, Recht zu behalten und einfach die Schuldigen zu brandmarken. Hier sollen Menschen überleben und in Frieden und Freiheit leben dürfen. Einen aggressiven Bären stoppt man nicht, indem man ihm eine Protestnote überreicht.

Tete-à-tete: Der russische Staatspräsident Wladimir Putin und der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I.
Tete-à-tete: Der russische Staatspräsident Wladimir Putin und der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I.

Auch die unerträglichen Sprachbilder, mit denen Putin, an sein Volk gerichtet, die westlichen Feinde stilisiert, zeugen von tief verwurzelten Ängsten und Wunden, an die er offenbar erfolgreich appellieren kann, und sollte es auch nur in machiavellistischer Attitüde sein. Schon einmal wurde die Ukraine überrollt, und damals waren es Hitlers Truppen, deren Begehrlichkeit von der «Kornkammer Europas» und den Bodenschätzen und Industrieanlagen im Donbass geweckt waren. Natürlich sind auch heute im Blick auf die umkämpften Regionen der Ostukraine durch handfeste Wirtschaftsinteressen geleitet, in östlicher wie in westlicher Perspektive.

«Brudermord» in der Ukraine

Liest man die Stellungnahmen der verschiedenen Kirchen in der Ukraine, so fällt ein markanter Unterschied auf: Die westlich und die national-ukrainisch orientierten Kirchen brandmarken den russischen Erzfeind und rufen nach westlicher Freiheit. Ihr Weltbild ist dualistisch. Schwarz und Weiss, Gut und Böse sind leicht auszumachen.

Solidaritätskundgebung für die Ukraine in Berlin am 24. Februar 2022.
Solidaritätskundgebung für die Ukraine in Berlin am 24. Februar 2022.

Die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats beklagt den «Brudermord», leidet also an dem Widerspruch zwischen innigsten Familienbanden und brutalem Blutvergiessen. Die Wiege der «Heiligen Rus›» zu bombardieren, um sie vor welchem Feind auch immer zu schützen, ist im tiefsten Sinne pervers.

Kampf der Kulturen

Die eigentliche Tragödie gründet in dem Dilemma, das der amerikanische Politologe Samuel P. Huntington schon 1996 benannt hat: Quer durch die Ukraine und Belarus, durch Rumänien und das ehemalige Jugoslawien läuft eine unsichtbare, kulturell konnotierte Grenze, die den Übergang zu der ostkirchlichen Prägung und Erfahrungen muslimischer Herrschaft markiert. Huntington hielt eine kulturelle und politische Einheit über diesen Abgrund hinweg für nicht möglich.

Kyrill I., Russisch-Orthodoxer Patriarch von Moskau und Russland, Dezember 2016.
Kyrill I., Russisch-Orthodoxer Patriarch von Moskau und Russland, Dezember 2016.

Allerdings verband er diese Sicht mit scharfer Kritik an blinder westlicher Selbstzufriedenheit: «Die Nichtwestler betrachten als westlich, was der Westen als universal betrachtet. Was Westler als segensreiche globale Integration anpreisen, zum Beispiel die Ausbreitung weltweiter Medien, brandmarken Nichtwestler als ruchlosen westlichen Imperialismus. Insoweit Nichtwestler die Welt als eine einzige sehen, sehen sie sie als Bedrohung» (Kampf der Kulturen).

«Slawophile» versus «Westler»

Sogar vor der Russischen Revolution gab es in der slawischen Welt grundlegende und oft unversöhnliche Debatten zwischen «Slawophilen» und «Westlern». Ihnen gemeinsam war der Eindruck, man müsse zwischen der Ausrichtung gen Westen oder gen Osten eine exklusive Wahl treffen. Das erinnert mich als Theologin mit kirchengeschichtlichem Interesse markant an die Geschichte der «Unionen» zwischen Teilen der Ostkirche und dem Bischof von Rom seit Ende des 16. Jahrhunderts: Damals wollte man die alte Gemeinschaft der einen Kirche Jesu Christi wiederherstellen – doch der Papst, unter dem frischen Eindruck der Kirchenspaltung durch die Reformation, stellte die östlichen Schwesterkirchen vor die Wahl: gehorsame Unterwerfung gegenüber dem Papst oder bleibende Gemeinschaft mit der östlichen Tradition.

US-Präsident Donald Trump 2018.
US-Präsident Donald Trump 2018.

Die Folge war nicht die Versöhnung, sondern eine neue, tiefere Spaltung mit gegenseitigen Verfeindungen bis hin zu handgreiflichen Auseinandersetzungen und emotional besetzte Gegnerschaften bis heute.  Wie Rom im 16. Jahrhundert nicht die glanzvollste Repräsentation der Kirche Jesu Christi war, so ist auch der Zustand der westlichen Demokratien aus östlicher Perspektive nicht nur eine Verlockung: Noch vor gut einem Jahr hat in der selbsternannten Musterdemokratie der Welt unter Anleitung ihres weltweit respektierten Präsidenten ein Mob das Zentrum der politischen Macht besetzt und verwüstet. Das war mehr als ein «Betriebsunfall».

Die Ukraine als Bewährungsprobe

Die Ukraine ist in Europa wohl dasjenige Land, das – zum Guten oder zum Schlechten – zur Bewährungsprobe wird, ob und wie eine europäische Gemeinschaft möglich ist, die nicht auf dualistischen Ausgrenzungen beruht. In diesem Staat fliessen die Geschichte und die Sensibilitäten polnisch-litauischer, habsburgischer, russischer, deutscher, rumänischer und ungarischer Kulturen und Herrschaftsformen zusammen.

Solidarität mit der Ukraine in Zürich.
Solidarität mit der Ukraine in Zürich.

Werden sie in gegenseitiger Anerkennung und Bereicherung zusammenhalten können und wollen? Werden sie sich als Brückenkopf für den friedlichen Austausch zwischen Ost und West erweisen? Das ähnlich konzipierte «jugoslawische» Experiment ist längst gescheitert, und wir sollten nicht vergessen, dass auch dies mit einem kriegerischen «Brudermord» zwischen gestern noch friedlichen Nachbarn einherging: katholische Kroaten, orthodoxe Serben und überwiegend muslimische Bosnier und Albaner zogen ethnisch-nationale Abgrenzungen der interkulturellen Gemeinschaft vor, und «Europa» hat diese Entwicklung schliesslich anerkennen müssen. Haben wir dazugelernt?

Der Westen bleibt auf den russischen Bären angewiesen

Nach den Anschlägen des 11. September 2001 formulierte der Heidelberger Philosoph Rüdiger Bubner ein ernstes und prophetisches Wort, das er – auf der Suche nach einer neuen politischen Philosophie – auf den Dialog des Westens mit dem Islam bezog, das aber ebenso gut auf die West-Ost-Beziehungen in Europa übertragen werden kann: «Die westliche Vorstellung eines Dialogs der Kulturen, die auf eine humanitäre Grundverständigung unter den Glaubensdogmen der Gegenwart gründet (Küng), ist widerlegt, weil gewisse Glaubensdogmen sich noch in einem Zustand befinden, der den eingeübten Toleranzimperativen der Aufklärung nicht gehorcht. Dagegen verfängt der Aufruf zu mehr Aufklärung evidentermassen gar nicht. Denn es ist gerade jener Aufruf, dem die blutigen Attacken Hass entgegensetzen. Dies nicht sehen zu wollen, also eine durch äusserste Aggressivität deklarierte Feindschaft nicht zu akzeptieren, heisst überhaupt nichts zu verstehen und handlungsunfähig zu werden» (Polis und Staat, 16).

Demonstration gegen Putin in Genf im Juni 2021.
Demonstration gegen Putin in Genf im Juni 2021.

Die westlichen Demokratien, die sich jetzt «vorgeführt» und blamiert erleben, finden sich in dieser Situation der Handlungsunfähigkeit vor. Selbst ihre lautstark proklamierten und sehr zögerlich umgesetzten «Sanktionen» verdecken nur mühsam, dass sie nach eigener Interessenlage auf den russischen Bären angewiesen bleiben, etwa für 40 Prozent der deutschen Gasversorgung.

Geht es uns wirklich um die Ukraine?

Eine ukrainische Stimme soll nochmals das Wort erhalten. Anlässlich einer Tagung über die kirchlichen Entwicklungen in der Ukraine im Jahr 2019 legte ein Kiewer Professor seine Sicht für eine Ukraine zwischen Ost und West dar. Seine These bleibt klar und einleuchtend: «Wir Ukrainer wollen in Loyalität mit unseren russischen Geschwistern leben. Wir wollen nicht, dass man aus nationalistischen Gründen die russische Sprache an den Schulen unterdrückt. Wir wollen uns nicht von den kirchlichen und kulturellen Werten lossagen müssen, die uns mit der russischen Welt verbinden – aber nicht um den Preis einer imperialen Unterdrückung. Andererseits gilt auch: Wir Ukrainer wollen auch mit dem Westen Austausch pflegen, wir suchen eine gute Ausbildung für unsere Jugend, wir wollen unseren Lebensstandard verbessern, wir wollen von der Freizügigkeit des Arbeitsmarkts und des Güterverkehrs profitieren – doch wir warten darauf, dass der Westen seine Versprechungen an uns auch wirklich einlöst.»

Ein Herz und eine Seele:  Wladimir Putin bei einem Treffen mit Patriarch Kirill von Moskau. und ganz Russland.
Ein Herz und eine Seele: Wladimir Putin bei einem Treffen mit Patriarch Kirill von Moskau. und ganz Russland.

Eine billige Empörungssolidarität und Waffenlieferungen werden nicht reichen. Sie können nur die Eskalation der Gewalt fördern. Wenn wir gemeinsam aus dem Scheitern der Humanität hinausfinden wollen, dann dürfen wir die Ukraine und mit ihr den wenig bekannten und wenig geliebten osteuropäischen Raum nicht allein lassen. Noch frisch und doch schon wieder aus der Tagesaktualität verdrängt ist das Leid für die Bevölkerung nach der gescheiterten westlichen «Friedensmission» in Afghanistan. Ein Kenner der Lage kommentierte: «Der Afghanistan-Einsatz scheiterte, weil es nie um das Land ging.» Geht es hüben und drüben wirklich um das Land, um die Ukraine, um Russland, um das gemeinsame Haus Europas und die Menschen, die es in Frieden bewohnen wollen?

Wenn wir den Krieg rasch beenden und einen nachhaltigen Frieden vorbereiten wollen, sollte jetzt ein sehr grundlegendes Umdenken beginnen, Metanoia, die für Christen mit dem Gebet und der Liebe zu allen Schwestern und Brüdern beginnt.

* Barbara Hallensleben (65) ist Professorin für Dogmatik und Theologie der Ökumene in Freiburg i.Ü. Sie ist Konsultorin des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, Mitglied der Internationalen orthodox-katholischen Dialogkommission und Mitglied einer Studienkommission zum Frauendiakonat.


Die Freiburger Dogmatikprofessorin Barbara Hallensleben | © zVg
28. Februar 2022 | 12:33
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