Rita Famos
Story der Woche

Rita Famos: «Religiöse Autorität beinhaltet das Risiko für spirituellen Missbrauch»

Die Studienergebnisse zum Missbrauch in der evangelischen Kirche «muss uns als EKS zu denken geben». Das «positive Selbstbild» habe dazu geführt, dass die reformierte Kirche die eigenen Schwachstellen zu lange ausgeblendet habe. Rita Famos rechnet damit, dass für die Schweiz bald eine eigene Studie kommen wird.

Annalena Müller

Frau Famos, die Ratspräsidentin der Evangelisch Kirche Deutschlands (EKD), Bischöfin Fehrs, hat bei der Vorstellung der «ForuM Studie» gesagt: «Klar ist, wir haben täterschützende Strukturen.» Trifft das auch auf die reformierte Kirche zu?

Rita Famos*: Dieser Befund schmerzt mich. Und ich werde das jetzt nicht bestreiten oder pauschal zustimmen. Es geht um zwei Strukturfragen: Erstens, verhindern föderalistische Strukturen die Identifizierung von Tätern und die Aufarbeitung von Missbrauch? Zweitens, sind unsere Strukturen und Prozesse geeignet, den Anliegen der Opfer zu entsprechen? Im Fall der EKD wurden bei der Präsentation der Studie beide Fragen negativ beantwortet. Das muss uns als Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) zu denken geben.

Die Forschenden übergeben die gut 800-seitige Studie an die EKD-Ratspräsidentin Kirsten Fehrs.
Die Forschenden übergeben die gut 800-seitige Studie an die EKD-Ratspräsidentin Kirsten Fehrs.

Die protestantischen Kirchen verstehen sich – besonders im Vergleich zur katholischen – als partizipativ. Die «ForuM-Studie» hat gezeigt: Die Realität ist eine andere. Auch die Strukturen der evangelischen Kirchen ermöglichen sexualisierte Gewalt. Wie sehen Sie die Situation in der Schweiz?

Famos: Ich glaube, dass wir ganz unterschiedliche kirchliche Kulturen und Zusammenarbeitsformen innerhalb der Evangelisch-reformierten Kirchen in der Schweiz haben.

«Ich habe die Kirche auf kantonaler und nationaler Ebene tatsächlich partizipativ erlebt.»

Von meinem Erfahrungshintergrund her habe ich die Kirchgemeinde, aber auch die Kirche auf kantonaler und nationaler Ebene, tatsächlich partizipativ erlebt. Die EKS ruft beispielsweise seit fünf Jahren alle Beauftragten für Prävention und Schutzkonzepte aus den Mitgliedkirchen regelmässig zusammen, damit die Mitgliedkirchen sich in dieser wichtigen Frage vernetzen und wir in einem partizipativen Verfahren die Schutzkonzepte in allen Mitgliedkirchen auf das gleiche Niveau bringen. Die deutschen Betroffenen fordern nun aber ein, dass ihre schmerzhafte Erfahrung in die Weiterentwicklung der Kirche einbezogen werden und Partizipation auch in diesem Bereich gelebt wird. Wir werden die Studie aufmerksam lesen, um für unsere Situation zu lernen.

Die vor allem lutherische Kirche in Deutschland hat andere Strukturen als die hiesige reformierte Kirche. Glauben Sie, dass es dank der von Ihnen beschrieben partizipativen Struktur in der Schweiz weniger Missbrauch gab und gibt als in Deutschland?

Famos: Was mich an dieser Studie erstaunt, ist, dass die Strukturen nur das eine sind. Das andere sind die «charismatischen» Persönlichkeiten, die oft zu Tätern werden, weil Menschen sich ihnen anvertrauen und andere nicht wagen, sie zu konfrontieren. Wir können uns nicht verstecken hinter der Tatsache, dass wir flache Hierarchien haben, sondern müssen schauen, wie Menschen ihre Position aufgrund ihrer Bildung, ihrer geistlichen Autorität oder sogenannt charismatischen Ausstrahlung ausnutzen können.

Bischöfin Kirsten Fehrs: "Es ist klar, wir haben täterschützende Strukturen."
Bischöfin Kirsten Fehrs: "Es ist klar, wir haben täterschützende Strukturen."

Auch in der evangelischen Kirche waren viele Täter Pfarrer – also religiöse Autoritätspersonen. Ist religiöse Autorität auch in vergleichsweise partizipativen Kirchenstrukturen ein Einfallstor für Missbrauch?

Famos: Religiöse Autorität beinhaltet das Risiko für spirituellen Missbrauch. Dieser Missbrauch ist besonders schlimm, weil er die Integrität eines Menschen gleich mehrfach, geistlich, körperlich und psychisch zerstört.

Die ForuM-Studie geht in Hochrechnungen von über 9000 Betroffenen aus– im Verhältnis ist das ähnlich viel wie in der Schweiz für das katholische Kirchenumfeld bekannt ist. Haben Sie eine Erklärung für die überraschend vergleichbaren Zahlen?

«Unser positives Selbstbild hat dazu geführt, dass wir ausgeblendet haben, wo unsere Schwächen und Gefahrenzonen sind.»

Famos: Nein, zumal die Datengrundlage nicht vergleichbar ist. Die einen haben nur die Priester untersucht, die andern nur die Betroffenen, die zur Tatzeit minderjährig waren. Diese Zahlen sind weder vergleichbar, noch sind die EKD-Zahlen auf die Schweiz übertragbar. Aber im Vordergrund für mich stehen nicht die absoluten Zahlen, sondern die Schilderungen der Betroffenen.

Die Auswertung von Akten aus der DDR und BRD haben gezeigt, dass das politische und gesellschaftliche System relativ wenig Einfluss hatte auf die Geschehnisse innerhalb der Kirchenstrukturen. Missbrauch gab es auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze. Was sind Ihrer Meinung die kirchensystem-immanenten Probleme, die Missbrauch begünstigen?

Famos: Wir müssen die Studie zuerst genau lesen, um diese Frage beantworten zu können. Mit dem jetzigen Kenntnisstand kommen mir dazu zwei Elemente in den Sinn: Kirche lebt von Beziehungen, oft zwischen Schutzbedürftigen, die sich geistlichen Autoritäten anvertrauen. Wir sind deshalb besonders anfällig und müssen an einer Kultur arbeiten, die Missbrauch aktiv verhindert! Zweitens hat unser positives Selbstbild dazu geführt, dass wir ausgeblendet haben, wo unsere Schwächen und Gefahrenzonen sind. Besser zu sein genügt nicht. Kirche muss der beste Ort für schutzbedürftige Menschen sein.

EKS-Präsidentin Rita Famos gilt als Befürworterin einer Schweizer Missbrauchsstudie
EKS-Präsidentin Rita Famos gilt als Befürworterin einer Schweizer Missbrauchsstudie

Die Wochenzeitung «Die Zeit» hat letzte Woche über zwei spezifisch protestantische Milieus berichtet, in denen Missbrauch von Minderjährigen ein vergleichsweise grosses Problem war: Das pietistische und das links-liberale der Post-68er. Gibt es ähnliche Milieus auch in der Schweiz?

Famos Ja, diese Milieus gab es auch in der Schweiz, auch in der reformierten Kirche. Wir haben im Unterschied zu Deutschland keine Kindergärten, Heime und Spitäler, die wir als reformierte Kirche betreiben. Aber bei der Aufarbeitung der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts sollten wir auch beim Konfirmandenunterricht und der Jugendarbeit sehr sorgfältig hinschauen.

Die Reformierte Kirche in der Schweiz tut sich noch schwer damit, die eigene Missbrauchsgeschichte aufzuarbeiten. Wird die EKS zeitnah eine eigene Studie in Auftrag geben?

Famos: Wir wissen um unsere föderalistischen Hürden. Die bestehen aber nicht in der Willensbildung. Alle wollen das Problem angehen. Aber die Datenlage ist nicht einfach. Wir suchen im Moment nach einem guten Weg, eine solide Datenlage zu ermöglichen und damit zu Ergebnissen zu kommen, die uns wirklich voranbringen. Ich rechne damit, dass die EKS und ihre Mitgliedkirchen bald eine gute Lösung finden.

Das Interview wurde schriftlich geführt.

*Rita Famos (58) ist seit 2020 Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz.

Korrektur: bei den über 9000 handelt es sich um eine Schätzung. Wir haben dies korrigiert. (26.1.2024, 14:55 am).


Rita Famos | © Christian Merz
26. Januar 2024 | 11:45
Lesezeit: ca. 4 Min.
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