Mädchen will nichts hören
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Missbrauch in der evangelischen Kirche: Fromme Pietisten und «freie-Liebe»-Prediger

Auch in den evangelischen Kirchen gab und gibt es Missbrauch – und Vertuschung. Die Täter agierten hier nicht nur im Umfeld einer beengenden Sexualmoral – vergleichbar mit der katholischen -, sondern auch unter dem Vorzeichen der «freien Liebe». Das zeigen Recherchen wenige Tage vor der Publikation der Studie in Deutschland.

Regula Pfeifer

Die deutsche Wochenzeitung «Zeit» hat eine umfangreiche Recherche zum Missbrauch im evangelischen Milieu veröffentlicht. Dafür sprachen die Journalisten mit Betroffenen und konnten zwei Hauptmilieus herausarbeiten, in denen Missbrauch geschehen ist.

Eine der Hauptgeschichten der Recherche trägt sich in einem gesellschaftlich sehr offenen Umfeld in Deutschland zu. Da ist ein evangelischer Pfarrer, Arnulf Zitelmann, ein Vertreter der Reformpädagogik und der sexuellen Befreiung der 1960er-Jahre, wie die «Zeit» anhand von Aussagen von Zeitgenossen herausschält. Zitelmann war einer der Pfarrer, die auf einen Aufbruch in Kirche und Gesellschaft hinarbeiteten.

Täter schrieb über Didaktik der Sexualerziehung

Er habe Richtlinien für den Sexualkundeunterricht entwickelt und das Buch «Didaktik der Sexualerziehung» publiziert. Darin würden «Kinderfreunde» als ungefährlich und harmlos beschrieben. Und die Schüler ermutigt, sich von sexuellen Sprechtabus zu befreien, erklärte ein Experte in der «Zeit».

Verborgene Berührung
Verborgene Berührung

Die Tochter des vermeintlichen Vorzeige -Pfarrers wurde über Jahre hinweg von ihrem Vater missbraucht – von der Vorschulzeit bis in die Pubertät. Auch vom Küster ihrer Kirche, also einem Mitarbeiter ihres Vaters, wurde sie erst belästigt, später vergewaltigt. Auch der Küster war lange für das Mädchen eine Bezugsperson.

Diese Erfahrungen haben es ihr «unmöglich gemacht, liebesfähig zu einem Partner zu sein», sagt die etwa sechzigjährige Tochter im Beitrag der «Zeit».

Vater streitet Übergriffe ab

Arnulf Zitelmann war ein beliebter, charismatischer Religionslehrer und Pfarrer. Und ausserdem ein bekannter Kinderbuchautor. Er galt als modern und aufgeschlossen. Der Vater von vier Kindern starb 2023 mit 93 Jahren. Zur Rede gestellt, stritt Zitelmann in einem Brief an seine Tochter im Jahr 1993 die Übergriffe ab.

Anfänglich vertraute sich die Tochter den Eltern an und erzählte von den Belästigungen durch den Küster. Da die Eltern ungläubig reagierten, sprach sie später nicht über die erlittene Vergewaltigung. Hilfe holen konnte sich die Pfarrerstochter nicht in jenem Dorf, in dem ihr Vater als Pfarrer omnipräsent und eine öffentliche Person war.

Missbrauchstäter beherbergt Knabenchor

Aber auch im konservativen Teil der evangelischen Kirche gab es Missbrauchstäter. Ein Historiker spricht von einem «konservativ-pietistischen Netzwerk», das die Taten eines Pfarrers überhaupt ermöglichte. Dieses Netzwerk habe den Täter, ein Mann namens Alfred Zechnall, ein Vierteljahrhundert lang geschützt, heisst es in der «Zeit».

Ein Bub versteckt sich.
Ein Bub versteckt sich.

Alfred Zechnall war ein bedeutender Mann in der Jugendarbeit der evangelischen Landeskirche im süddeutschen Bundesland Baden-Württemberg. Er hatte enge Kontakte zu führenden Persönlichkeiten der Kirche. In seinem Wohnhaus beherbergte er einen Knabenchor.

Jungen aus konservativen, sozial schwachen Familien

21 Männer berichteten später, wie sie als Kind von ihm beim Baden beobachtet, aufs Gesäss geschlagen, aufs Knie gelegt oder intim berührt wurden. Die damaligen Buben habe Zechnall über Selbstbefriedigung und Sexualität ausgefragt – eine beschämende Angelegenheit für Kinder, die in fromm-pietistischen Kreisen aufwuchsen, in denen ein Keuschheitskult kultiviert wurde. Laut dem Historiker suchte Zechnall seine Opfer gezielt aus. «Alle Jungen kamen aus frommen oder sehr konservativen, aber sozial schwachen und bildungsfernen Elternhäusern.»

Die Reaktion der evangelischen Kirche auf Missbrauchsfälle sei meist «ein Gemisch aus Vertuschung, Unprofessionalität und hilfloser Betroffenheit» gewesen, heisst es in der Wochenzeitung. Sehr ähnlich ist auch die katholische Kirche beurteilt worden – in ihrem Umgang mit Missbrauch in den eigenen Reihen.

Vereinzelte Rücktritte der Kirchenleitung

Vereinzelte Rücktritte gab es in jüngerer Vergangenheit immerhin. Im Sommer 2010 trat die Bischöfin der Nordelbischen Kirche, Maria Jepsen, zurück, nachdem ein Pfarrer in ihrer Region seine Stiefsöhne missbraucht hatte. 2023 trat Annette Kurschus als Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche (EKD) in Deutschland zurück. Ihr war vorgeworfen worden, als junge Pfarrerin von den sexuellen Verfehlungen eines Mitarbeiters gewusst zu haben.

Annette Kurschus
Annette Kurschus

1947 hatte ein anonymer Schreiber die württembergische Kirchenleitung vor Zechnall gewarnt. Nichts geschah. Der Mann starb 1983. Erst 2011 meldete sich ein Opfer bei der Kirchenleitung. Und nach weiteren Hinweisen suchte die Kirche von 2014 bis 2018 nach weiteren Betroffenen.

Kampf um Anerkennung

Auch die Tochter von Arnulf Zitelmann kämpfte 25 Jahre mit der evangelischen Kirche um Anerkennung. Die Eingabe ihres damaligen Freundes an die Kirche 1999 wurde nicht zu den Akten gelegt. Erst 2010 eröffnete die Kirche ein Disziplinarverfahren gegen ihren Vater. 2012 wurde das Verfahren eingestellt, nachdem sich die Tochter geweigert hatte, ein gefordertes Glaubwürdigkeitsgutachten zu liefern.

Erst zehn Jahre später anerkannte die Kirche den Missbrauch durch den Vater. Im März 2023 erhielt sie einen Brief, in dem ihr 130’000 Euro Entschädigung zugesprochen wurde.  

Deutsche Studie am Donnerstag, Schweizer Studie offen

Forscher stellen am kommenden Donnerstag eine mit Spannung erwartete Studie zum Missbrauch im Bereich der evangelischen Kirche Deutschlands vor. Die EKD hatte die Untersuchung 2020 für 3,6 Millionen Euro in Auftrag gegeben.

Die Deutsche Bischofskonferenz hatte bereits vor fünf Jahren eine Studie zu Missbrauch in der katholischen Kirche vorgelegt. Die reformierte Kirche in der Schweiz diskutiert aktuell darüber, ob sie ebenfalls eine Missbrauchsstudie in Auftrag geben soll. Hier ist die Entscheidung noch nicht gefallen.


Mädchen will nichts hören | © pixabay.com
19. Januar 2024 | 16:01
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