Reto Müller ist Spital- und Aushilfspfarrer in Schwyz
Schweiz

Reto Müller: «Nicolas Sarkozy bewirkte die Absetzung von Bischof Jacques Gaillot»

Der verstorbene französische Bischof Jacques Gaillot wurde von Papst Johannes Paul II. abgesetzt – weil er sich für Flüchtlinge einsetzte. In der Schweiz versuchten reaktionäre Kräfte eine Firmung mit ihm zu verhindern. Doch: «Weihbischof Peter Henrici stärkte mir den Rücken», sagt Gaillots Freund, der pensionierte Pfarrer Reto Müller.

Jacqueline Straub

Am Dienstag verstarb Bischof Jacques Gaillot im Alter von 87 Jahren. Er war bis 1995 Bischof von Evreux. Dann wurde er von der Leitung der Diözese Evreux entbunden. Wie lange kannten Sie sich?

Reto Müller: Das weiss ich gar nicht mehr. Das sind aber einige Jahre. Nachdem Papst Johannes Paul II. ihm die Leitung entzog, erhielt er den Bischofstitel einer nicht mehr existierenden Diözese in Nordafrika, Partenia. Als er schaute, wo diese lag, merkte er, dass diese mitten in der Wüste ist.

Bischof Jacques Jean Edmond Georges Gaillot am 24. Mai 2012 in Köln.
Bischof Jacques Jean Edmond Georges Gaillot am 24. Mai 2012 in Köln.

Er wurde also wortwörtlich in die Wüste geschickt.

Müller: Das ist so. Er fand das originell und amüsierend. Er meinte: Wenn ich schon Bischof einer virtuellen Diözese bin, dann gründe ich auch eine – daraus entstand die Website www.partenia.org, auf die er Meditationen und Bibelauslegungen stellte. Aber er war auch seelsorgerlich für die Menschen da, die ihm schrieben. Mit seiner Website wurde er über die französischen Landesgrenzen hinaus bekannt – und wurde nach Deutschland, Italien, Österreich und in die Schweiz zu Vorträgen eingeladen.

Wie oft war der bei Ihnen in der Schweiz?

Müller: Ich habe ihn einige Mal für Vorträge in meine Pfarrei nach Zürich geholt. Aber auch privat war er oft bei mir – und ich bei ihm in Paris. Einmal habe ich ihn als Firmspender in die Liebfrauenkirche eingeladen. Die reaktionäre Gruppierung «Pro Ecclesia» protestierte und versuchte das zu verhindern.

«Er hielt an der Firmung eine kurze, spirituelle Predigt.»

Haben sie es geschafft?

Müller: Nein, denn Weihbischof Peter Henrici stärkte mir den Rücken. Schliesslich war Jacques weder exkommuniziert noch laisiert. Er war noch immer Bischof.

Wie kam er bei den Firmandinnen und Firmanden an?

Müller: Sehr gut. Er hielt an der Firmung eine kurze, spirituelle Predigt – zu Verwunderung von konservativen Gläubigen. Sie dachten, er würde eine kirchenpolitische Brandrede halten. Es gab auch noch ein Treffen mit den Firmlingen. Er konnte sich alle 20 Namen merken und stellte den Jugendlichen Fragen. Er hat sich sehr für die jungen Menschen interessiert und sie wahrgenommen.

Johannes Paul II. 1984 in Genf.
Johannes Paul II. 1984 in Genf.

Wie war er als Mensch?

Müller: Er war still und sehr bescheiden.

Papst Johannes Paul II. entzog ihm die Leitung als Bischof. Hegte er Groll gegen ihn?

Müller: Er hat sich nie negativ über den Papst geäussert. Er hat sich aber über Nicolas Sarkozy aufgeregt. Er war damals Haushaltminister unter dem französischen Premierminister Édouard Balladur.

Warum?

Müller: Dieser bewirkte seine Absetzung. Aber ja, Rom hat dem zugestimmt.

Der Bischof der Sans-Papiers, Jacques Gaillot aus Paris, unterhält sich 2001 in Bern vor der Pauluskirche mit Papierlosen.
Der Bischof der Sans-Papiers, Jacques Gaillot aus Paris, unterhält sich 2001 in Bern vor der Pauluskirche mit Papierlosen.

Welche Gründe hatte Nicolas Sarkozy sich dermassen in kirchliche Angelegenheiten einzumischen?

Müller: Jacques war politisch sehr aktiv. Er hat sich für Sans-Papiers und Gefangene eingesetzt. Er lief bei Demonstrationen in der ersten Reihe mit. Das war Sarkozy ein Dorn im Auge.

Bischof Jacques Gaillot betrieb seine Website nicht allein. Er hatte einige freiwillige Helferinnen und Helfer. Wie sah die «Zentrale» aus?

Müller: Sie lag in einem grossen, leerstehenden Gebäude. 150 Schwarzafrikaner lebten dort. Im Innenhof machten sie ein Feuer – denn es gab keine Heizungen und kein Licht. Ich wurde durch die Gänge geführt. Links und rechts lagen Sans-Papiers und Obdachlose. Es roch nach Urin. Um in den dritten Stock zu kommen, musste ich mich im Dunkeln die Treppe hochhangeln. Doch dann war da wirklich ein Raum, indem Jacques mit zehn Menschen an PCs sass. Von dort aus hat er seine Inhalte in alle Welt gestreut.

«Er feierte Ostern und Weihnachten nicht in der Kathedrale, sondern im Gefängnis.»

Was war Bischof Jacques Gaillot besonders wichtig?

Müller: Die Menschen, vor allem die abgeschobenen Asylanten, Gefangene und Obdachlose. Er feierte Ostern und Weihnachten nicht in der Kathedrale, sondern im Gefängnis. Denn er wollte an diesen Tagen bei den Vergessenen der Gesellschaft sein. Die Bürgerschaft war empört darüber.

Kirchenpoltische Themen standen für ihn also nicht im Fokus?

Müller: Für ihn stand weniger die Kirche und ihre Probleme im Fokus, sondern vielmehr die Welt mit ihren Ungerechtigkeiten. Er sagte immer: Wenn es den Menschen nicht gut geht, müssen wir ihnen helfen. Das Evangelium stand bei ihm im Mittelpunkt. Dennoch denke ich, dass er für Reformen in der Kirche war, also für das Frauenpriestertum, die Abschaffung des Pflichtzölibats, Segnung vom Homosexuellen und so weiter. Aber darüber haben wir nie gesprochen.

Lachender Papst Franziskus
Lachender Papst Franziskus

Im Jahr 2015 traf er Papst Franziskus. Hat er Ihnen davon persönlich erzählt?

Müller: Nicht nur das. Auch, dass der Papst auf seine Combox gesprochen hat.

Und was sagte der Papst?

Müller: Papst Franziskus sprach französisch mit Akzent. Er meinte, hier sei der Papst und er wollte Jacques anrufen, habe ihn aber nicht erreicht. Er werde es zu einem späteren Zeitpunkt wieder versuchen.

Wie reagierte Jacques Gaillot auf diesen verpassten Anruf aus dem Vatikan?

Müller: Er dachte, dass ihm jemand einen Scherz spielen würde. Drei Monate später klingelte wieder sein Handy – er sass gerade in der U-Bahn. Er konnte es kaum glauben, dass es tatsächlich der Papst war. Er sagte, dass er in den Vatikan kommen solle und jemanden mitbringen könne, der ihm Rom zeige. Franziskus nahm sich fast vier Stunden Zeit für das gemeinsame Mittagessen. Jacques fühlte sich danach rehabilitiert.

Ein homosexuelles Paar wird im Gottesdienst gesegnet.
Ein homosexuelles Paar wird im Gottesdienst gesegnet.

Über was sprachen sie?

Müller: Papst Franziskus wollte wissen, was Jacques heutzutage mache. Er erzählte ihm von seiner Arbeit mit Geflüchteten und erwähnte, dass er kürzlich ein homosexuelles Paar gesegnet hatte. Daraufhin hat ihm der Papst den Arm auf die Schulter gelegt und gesagt: «Gut so, mache nur weiter so.» Papst Franziskus wollte dann noch ein gemeinsames Bild machen, doch der Hoffotograf ging nicht ans Telefon. Der Priester, den Jacques zum Treffen mitnahm, schlug vor, ein Selfie zu machen. Das war das erste Selfie, dass Papst Franziskus machte. Jacques hat sich sehr über dieses Bild gefreut.

«Eigentlich wollte ich Jacques diese Woche besuchen.»

War dieses Treffen mit einem abgesetzten Bischof Jacques Gaillot eine Ausnahme?

Müller: Papst Franziskus hat sich wohl mit einigen Theologen getroffen, die von den Vorgängerpäpsten abgesetzt oder gemassregelt wurden. Etwa auch mit dem brasilianischen Befreiungstheologen Leonardo Boff.

Werden Sie zur Beerdigung von Jacques Gaillot gehen?

Müller: Eigentlich wollte ich Jacques diese Woche besuchen – vor einem Monat haben wir einander noch geschrieben und einen Termin ausgemacht. Ich bin also so oder so in Paris und werde selbstverständlich zu seiner Gedenkfeier gehen. Eine eigentliche Beerdigung wird es aber nicht geben. Denn sein Körper wird dem anatomischen Institut übergeben. Die Reste werden dann im anonymen Armenfriedhof beigesetzt.

*Reto Müller (72) ist Pfarrer im Ruhestand. Zuvor war er Pfarrer in Zürich und Schwyz. Heute ist er im Raum Schwyz als priesterlicher Mitarbeiter tätig. (korr., 17.04.23, Angaben zu Reto Müller, bal)

Hinweis: Katharina Haller, enge Begleiterin von Bischof Jacques Gaillot, widerspricht Reto Müller in ein paar Punkten: «Es war nicht Sarkozy, der die Absetzung von Jacques Gaillot als Bischof von Evreux bewirkte. Es war der damalige Papst Paul II. und seine Entourage. Die Kirche hat Bischof Gaillot vor die Tür gesetzt.» Der politische Einfluss habe wohl zur Absetzung mit beigetragen. Zudem: Die Internetseite von Gaillot wurde «von Zürich aus in sieben Sprachen geführt». Auch sei der Besuch bei Papst Franziskus anders – als Reto Müller sagt – abgelaufen. (korr., 26.04.23)


Reto Müller ist Spital- und Aushilfspfarrer in Schwyz | © kath.ch
14. April 2023 | 15:12
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