Regina Heyder
Schweiz

Regina Heyder: Alle Schweizer Bistümer brauchen Präventionsbeauftragte

Auch Frauen werden Opfer von sexuellem und spirituellem Missbrauch. Darauf weist die Theologin Regina Heyder in Zürich hin. Sie fordert entschiedene Reformen der katholischen Sexualmoral – und beobachtet, dass Prävention in den Bistümern eine immer wichtigere Rolle spielt.

Jacqueline Straub

Sie haben beim Fachgremium «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» referiert. Was hat Sie besonders beeindruckt?

Regina Heyder*: Am Vormittag haben fünf Betroffene über ihre Erfahrungen des Missbrauchs und über ihr Engagement gesprochen. Sie haben alle von der befreienden Kraft des Erzählens berichtet, mit der sie die Schweigegebote der Täter gebrochen haben. Ich finde es immer wieder bestürzend, dass Menschen in Gemeinschaften, Gemeinden oder Familien durch dieselben Täter geschädigt wurden und dennoch jahrzehntelang nichts voneinander wissen. Beeindruckt haben mich auch die klaren Forderungen an die Kirche, darunter beispielsweise eine zeitnahe Akteneinsicht.

Regina Heyder (rechts) mit Missbrauchsbetroffenen in Zürich.
Regina Heyder (rechts) mit Missbrauchsbetroffenen in Zürich.

Im Bistum Chur wirft eine Frau einem amtierenden Domherrn eine Grenzverletzung vor. Allerdings steht Aussage gegen Aussage. Was kann die Frau tun?

Heyder: Ich kenne den Fall nicht, daher kann ich dazu nichts sagen. Aber generell lässt sich sagen, dass Frauen lange weniger Glaubwürdigkeit als Klerikern zugesprochen wurde. Es besteht eine testimoniale Ungerechtigkeit, wie das die Philosophin Miranda Fricker nennt. Wenn eine Autoritätsperson und eine andere Person Gegensätzliches aussagen, dann wird in der Regel eher der Autoritätsperson geglaubt. In der Kirche haben wir noch immer ein grosses Glaubwürdigkeitsgefälle, das inzwischen auch durch verschiedene Gutachten zu Missbrauch aufgedeckt wurde. Da haben Pfarrer oder Verantwortliche bei Anschuldigungen gesagt: «Bei Frauen weiss man ja nie» oder «Frauen können leicht aus Hass eine falsche Anzeige erstatten».

«Es kommt häufiger vor, dass sexuelle Straftaten nicht nachgewiesen werden können.»

Werden Priester auch zu Unrecht beschuldigt?

Heyder: Es wäre naiv, nicht davon auszugehen. Grundsätzlich müssen die Verfahrenswege so geregelt sein, dass es eine Möglichkeit zur Rehabilitation gibt, wenn jemand, Priester oder Laienangestellte, zu Unrecht beschuldigt wird.

Wie oft kommt das vor?

Heyder: Mir ist in Deutschland ein Fall bekannt. Wesentlich häufiger kommt es in Kirche und Gesellschaft vor, dass sexuelle Straftaten nicht nachgewiesen werden können und es deshalb zu keiner Verurteilung kommt.

Doris Reisinger-Wagner an der Jahrestagung der bischöflichen Fachgremien "sexueller Missbrauch im kirchlichen Umfeld" in Zürich im Jahr 2019.
Doris Reisinger-Wagner an der Jahrestagung der bischöflichen Fachgremien "sexueller Missbrauch im kirchlichen Umfeld" in Zürich im Jahr 2019.

Kann Prävention ohne eine Reform der Sexualmoral funktionieren?

Heyder: Ich glaube nicht. Je nüchterner wir auf Sexualität in ihrer Vielfalt schauen, desto besser kann auch Prävention vonstattengehen. Das Tabuisieren von Sexualität – und dazu trägt die katholische Sexualmoral bei – begünstigt Missbrauch.

Gibt es eine Verknüpfung von spirituellem Missbrauch und der kirchlichen Sexualmoral?

Heyder: Spiritueller Missbrauch kann sexuellen Missbrauch anbahnen. Spiritueller Missbrauch dient aber auch den Tätern zur Bewältigung ihrer Tat, indem sie sich einreden, dass sie ja nur das Beste für die betroffene Person möchten. Wenn die Täter aufgrund ihres Status definieren können, was Sünde ist, gibt das ihnen Macht – und das wiederum ist mit der Sexualmoral der Kirche verknüpft.

«Es ist elementar wichtig, dass Geschlechterstereotypen aufgebrochen werden.»

Was ist entscheidend?

Heyder: Wichtig ist, dass Menschen spirituell und sexuell selbstbestimmt leben. Es muss über die eigene Sexualität nachgedacht werden dürfen. Jede Person sollte um ihre eigenen Bedürfnisse wissen und die Verantwortung nicht an andere abgeben. Das ist allerdings leichter gesagt als getan.

Was begünstigt spirituellen und sexuellen Missbrauch in der Kirche?

Heyder: Einerseits Klerikalismus, der das Handeln eines Priesters vor Kritik schützt und sowohl von Priestern selbst eingefordert wie auch von Gläubigen gefördert werden kann. Andererseits sicher auch die Rolle von Frauen in der Kirche. Überall da, wo Mädchen und Frauen die Prädikate «gehorsam» oder «brav» zugeschrieben werden, wird Missbrauch begünstigt. Wenn Frauen mit Verweis auf die Bibel gesagt wird, dass sie ihrem Mann gehorsam sein sollen, ist Gehorsam das Paradigma – und nicht die Selbstbestimmung. Es ist elementar wichtig, dass Geschlechterstereotypen aufgebrochen werden.

Karin Iten und Stefan Loppacher
Karin Iten und Stefan Loppacher

Sollten alle Schweizer Bistümer einen Präventionsbeauftragten oder eine Präventionsbeauftragte haben?

Heyder: Ich finde es sehr wichtig, dass es überall solche Stellen gibt. Es braucht eine Anwaltschaft für die Betroffenen – und Solidarität, die auch institutionell verankert ist. Die Betroffenen auf der Fachtagung haben auch von guten Erfahrungen mit diesen Stellen berichtet. Sie haben beispielsweise schnelle Reaktionen erhalten und wissen, dass sie sich in Krisen an eine Ansprechperson wenden können.

In Chur sind die Präventionsbeauftragten unabhängig. Im Bistum St. Gallen ist der Präventionsbeauftragte zugleich Pastoralamtsleiter. Welches Risiko sehen Sie in einer Personalunion?

Heyder: Ich kenne die Schweizer Situation zu wenig, um hierzu etwas zu sagen. In Deutschland sind alle Präventionsbeauftragten reguläre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bistümer, während die Ansprechpersonen unabhängig sind. Wichtig ist in jedem Fall die spezifische Expertise einer Person, die mit Prävention beauftragt ist. Und ich beobachte, dass Prävention in allen Bistümern eine immer wichtigere Rolle spielt und der Stellenumfang eher wächst.

«Es ist nicht mehr möglich, das Problem auszublenden.»

In Ihrem Buch «Erzählen als Widerstand» berichten viele Frauen anonym über spirituellen und sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche. Warum tun sie das anonym?

Heyder: Das Buch ist vor zwei Jahren erschienen. Damals war die Zeit weniger reif dafür, dass Betroffene in ihrem eigenen Namen sprechen, inzwischen haben sich zwei Autorinnen des Buches zu erkennen gegeben. Unser Buch dient nicht dazu, einzelne Täter oder Täterinnen an den Pranger zu stellen, sondern die Strukturen, die Missbrauch begünstigen, aufzudecken. Es dient dazu, Betroffene zum Sprechen zu ermutigen. Dass die Erzählungen anonymisiert wurden, ist auch eine Stärke des Buches. Denn so wird deutlich, dass die Betroffene, die hier erzählt, jede Frau sein könnte. Es ist nicht mehr möglich, das Problem auszublenden.

«Sexueller Missbrauch in der Kirche betrifft nicht ausschliesslich Minderjährige.»

Wann ist Erzählen politisch und schafft neue Narrative?

Heyder: Sobald etwas öffentlich sichtbar wird, ist es politisch. Das Erzählen fordert eine Reaktion der Gesellschaft und der Kirche – und wenn diese Reaktion ausbleibt, dann ist das eine Machtdemonstration. Frauen erzählen, weil sie Veränderungen fordern und weil sie den Tätern nicht das letzte Wort überlassen wollen. Eine Erzählgemeinschaft, wie sie das Buch darstellt, räumt mit dem Narrativ von den «Einzelfällen» auf.

Was konnte schon erreicht werden?

Heyder: Der Blick hat sich geweitet und viele sehen nun, dass sexueller Missbrauch in der Kirche nicht ausschliesslich Minderjährige betrifft und dass gehandelt werden muss.

Im Fokus der Medien: Der Synodale Weg in Deutschland - und in Rom unter Beschuss.
Im Fokus der Medien: Der Synodale Weg in Deutschland - und in Rom unter Beschuss.

Wie haben die Bischöfe auf Ihr Buch reagiert?

Heyder: Der Katholische Deutsche Frauenbund, zu dem wir Herausgeberinnen gehören, hat das Buch allen Bischöfen in Deutschland sowie den Mitgliedern des Synodalen Wegs zugesandt. Einige Bischöfe haben reagiert und gesagt, dass diese Realität in der Kirche noch mehr aufgearbeitet und berücksichtigt werden muss.

Gab es auch negative Rückmeldungen?

Heyder: Es gab die Aufforderung, sich als Frauenverband doch lieber um andere, drängendere Probleme in der Gesellschaft zu kümmern. Von einzelnen Gläubigen hat uns der Vorwurf erreicht, dass wir die «reinen» Priester in den Schmutz ziehen würden.

«Solange es ein Ungleichgewicht der Geschlechter gibt, wird Missbrauch begünstigt.»

Wo müssen die Bischöfe ins Handeln kommen?

Heyder: Der Missbrauch an Erwachsenen muss thematisiert, aufgearbeitet und verhindert werden, und das ist eine Leitungsaufgabe. Der Synodale Weg in Deutschland hat viel dazu beigetragen, dass das geschieht. Das Frauenforum etwa hat einen Handlungstext zu Massnahmen gegen Missbrauch an Frauen in der Kirche verfasst. Wichtig ist, dass die Bischöfe und die ganze Kirche über die Geschlechterverhältnisse nachdenken. Solange es eine Asymmetrie der Geschlechter gibt, wird Missbrauch begünstigt. Solange Macht so eindeutig verteilt ist, gibt es ein spezifisches Gefährdungsmoment, weil Missbrauch immer auch Machtmissbrauch ist.

Nehmen Sie in Deutschland unter den Klerikern ein echtes selbstkritisches Denken und ein Eingestehen des Scheiterns wahr?

Heyder: Ich nehme wahr, dass in den letzten Jahren viel dazugelernt wurde. Dennoch gibt es noch immer Menschen, die diese Tatsachen nicht wahrhaben wollen und in eine Selbstimmunisierung gehen. Wenn Verantwortliche keine Empathie zeigen und die spezifische kirchliche Dimension von sexuellem und spirituellem Missbrauch nicht erkennen, dann führt dies zu einer erneuten Verletzung der Betroffenen.

Papst Franziskus.
Papst Franziskus.

Jüngst hat Papst Franziskus den Leitungen von Priesterseminaren geraten, nicht wie «geschwätzige alte Frauen» zu sein.

Heyder: Ich habe mich insgesamt über die scharfen Töne dieser Ansprache gewundert. Die Rhetorik von Papst Franziskus speziell mit Blick auf Frauen bewegt sich leider zwischen Überhöhen und Diffamieren. Er greift hier auf einen alten Topos zurück, der sicher dazu gedient hat, die Stimmen von Frauen zu marginalisieren. Was mich besonders bestürzt ist, dass er, aber auch andere Verantwortliche oder Meinungsmacher in der Kirche immer wieder ältere und alte Frauen diffamieren, die nach meiner Wahrnehmung das Leben in unseren Gemeinden tragen. Sie werden diskreditiert, damit man ihnen nicht zuhören muss und ihre Erfahrungen als irrelevant abtun kann.

«Die Anschuldigungen von Frauen wird als ‹Klatsch› oder ‹üble Nachrede› abgetan.»

Begünstigen solche Aussagen Hierarchiegefälle und damit auch Missbrauch?

Heyder: Davon ist tatsächlich auszugehen, weil Täter oder Täterinnen strategisch damit kalkulieren, dass Frauen nicht geglaubt wird und ihre Anschuldigungen oder ihr Verdacht als «Klatsch» oder «üble Nachrede» abgetan werden. Das hat in der Vergangenheit in einigen Fällen nachweislich eine Intervention verhindert, wenn beispielsweise Mütter die Täter ihrer Kinder beschuldigt haben.

Auf was hoffen Sie?

Heyder: Mein Traum ist eine inklusive Kirche, in der Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrem Alter, ihrer Herkunft, ihrem sozialen Status oder anderen Differenzkriterien beheimatet sind, die gleichen Rechte haben und gehört werden.

* Regina Heyder (56) ist Theologin und Kirchenhistorikerin und Dozentin am Theologisch-Pastoralen Institut für berufsbegleitende Bildung der Diözesen Fulda, Limburg, Mainz und Trier. Für das Werk «Erzählen als Widerstand. Berichte über spirituellen und sexuellen Missbrauch an erwachsenen Frauen in der katholischen Kirche» erhielt die Theologin zusammen mit Barbara Haslbeck, Ute Leimgruber und Dorothee Sandherr-Klemp den Marga Bührig Preis 2021.


Regina Heyder | © Ruth Lehnen
17. November 2022 | 16:51
Lesezeit: ca. 6 Min.
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