Dieses Plakat (Ausschnitt) ist Teil der Ausstellung "Take Care", die im Kunsthaus Zürich zu sehen ist und war Teil einer "Stop Aids"-Kampagne.
Schweiz

Pierre Stutz: Auch die Liebe zwischen zwei Frauen, zwei Männern ist ein Sakrament

Als Priester des Bistums Basel machte Pierre Stutz die Erfahrung: «Ich ging immer gekrümmter durch meinen Alltag, obwohl ich alle anderen zum aufrechten Gang ermutigen konnte.» Jetzt schreibt er im Buch «#OutInChurch»: «Spät habe ich mir erlaubt, gay zu sein.»

Pierre Stutz*

49 Jahre habe ich gebraucht, um zu mir selbst befreit zu werden. Als Jugendlicher spürte ich schon eine grosse Sehnsucht, einen Mann lieben zu dürfen und von einem Mann geliebt zu werden. Ich vergrub diese Sehnsucht ganz tief in meinem Inneren und flüchtete mich ins Zölibat und in meine Arbeit.

Pierre Stutz erhält den Herbert Haag -Preis 2020.
Pierre Stutz erhält den Herbert Haag -Preis 2020.

Äusserlich war ich erfolgreich unterwegs, nach der Priesterweihe als Dekanats- und Bundesjugendseelsorger, als Dozent für Jugendpastoral an der Theologischen Fakultät in Luzern, als Mitbegründer des offenen Klosters «Abbaye de Fontaine-André« in Neuchâtel im Schweizer Jura, als spiritueller Autor vieler Bücher zu einer geerdeten Spiritualität, als gefragter Kursleiter. Innerlich war ich ein getriebener Steppenwolf, der immer depressiver wurde. 

Stell dich in die Mitte!

Ein Coming-out kam für mich nicht infrage, weil ich meine spirituelle Begabung als Priester nicht aufgeben wollte und weil ich panische Angst vor Liebesentzug hatte. Ich führte Krieg gegen mich selbst und redete mir jeden Tag gut zu, dass ich doch unendlich dankbar sein könne für meinen gelungenen Lebensentwurf. Meine Seele liess sich zum Glück nie von meinem Erfolg blenden, sie schrie immer lauter durch psychosomatische Beschwerden, ich ging immer gekrümmter durch meinen Alltag, obwohl ich alle anderen zum aufrechten Gang ermutigen konnte.

Nicole Büchel wollte das Thema Kirche und Homosexualität nicht "nochmals aufwärmen".
Nicole Büchel wollte das Thema Kirche und Homosexualität nicht "nochmals aufwärmen".

Obwohl ich in diesen verzweifelten Monaten meines Lebens dank der Begleitung durch einen Psychotherapeuten, der zugleich Benediktinermönch war, eine kraftvolle Unterstützung erfuhr, blieb ich unfähig, meinen besten Freundinnen und Freunden von meiner homosexuellen Begabung zu erzählen. Solange etwas nicht ausgesprochen ist, ist es vielleicht doch nicht wahr. 

Exerzitien bei den Jesuiten

Auch nach 30-tägigen Exerzitien in einem Bildungshaus der Jesuiten, die mich erkennen liessen, dass ich es vor mir, den anderen und Gott als Quelle aller Liebe nicht mehr verantworten konnte, zölibatär zu leben, blieb ich nochmals über zwei Jahre gefangen in der Angst, nach meinem Coming-out im «Abfalleimer» zu landen. Albträume schreckten mich mitten in der Nacht auf, in denen ich schmerzvoll mit ansehen musste, wie all meine Bücher öffentlich verbrannt wurden. 

Obwohl mir klar war, dass diese Panik irreal war, hielt sie mich dennoch zu lange davon ab, geradezustehen für mein Leben. Kurz vor Ostern 2002 geschah dann das Wunderbare: Beim Beten des Psalms 139 erlebte ich ganzheitlich, dass du, Schöpferin allen Lebens, mich so wunderbar geschaffen und gestaltet hast. Eine Befreiung, die sich schreibend, ohne zu denken, in ein paar Minuten verdichtete: 

Viele Jahre brauchte ich 
um meine Homosexualität anzunehmen 
zu lange war ich ausser mir 
liess mich beeindrucken 
von lebensverneinenden Glaubensaussagen

Viele Jahre war meine Seele tief zerstört 
weil ich nicht auf meine Herzensstimme horchte 
zu lange war ich auf der Flucht vor mir selbst 
liess mich beirren von der Zusage 
eine Fehlform der Schöpfung zu sein

Seit vielen Jahren bete ich täglich 
mit den Psalmen – 
wie konnte ich deine Lebensworte überhören 
die mich zum aufrechten Gang ermutigen: 

ich danke DIR, dass Du mich so wunderbar 
gestaltet hast – ich weiss: 
staunenswert sind Deine Werke 
Du hast alle schwulen und lesbischen* 
Menschen so wunderbar gestaltet und geschaffen 
Du bestärkst sie zur Selbstannahme 
Du bewegst sie zu zärtlicher Freundschaft 
Du segnest sie kraftvoll jeden Tag neu 

*LGBTIQ+ 

Als ich dann in der Teamsitzung den anderen mitteilen wollte, dass ich schwul bin und dass ich die offene Klostergemeinschaft verlassen werde, um mich für eine Partnerschaft öffnen zu können, umzingelte mich nochmals eine gewaltige Angst. Ich fiel zu Boden, schrie laut und hoffte leise, durch einen Herzschlag von diesem hoffnungsvollen Zu-Grunde-Gehen verschont zu werden. Unglaubliche Geburtswehen! Schmerzvoll-befreiendes Weinen! 

Gottes farbenfrohe Liebe

Die Teammitglieder bildeten einen Vertrauenskreis um mich, was mich zu meiner Mitte führte. Eine heilende Kraft, wie sie in den Heilungsgeschichten meines Lebensfreundes aus Nazaret beschrieben wird, richtete mich auf zu meiner neuen Lebensaufgabe: von Gottes farbenfroher Liebe zu erzählen, die sich auch in der Liebe zwischen zwei Frauen, zwei Männern als Sakrament ereignet. Dank dieser Geborgenheitserfahrung wuchs in mir ein Vertrauen in mein öffentliches Coming-out, das dann auch in der Schweizer Tagesschau zu sehen war. 

Doppelter Regenbogen in Zürich.
Doppelter Regenbogen in Zürich.

Über 800 Briefe habe ich danach erhalten, kaum eine Spur von Ablehnung, sondern ein vielfältiges Ausdrücken eines grossen Respektes vor meinem Befreiungsweg: Unsere Kirche braucht dringend authentische Menschen, die das Angstsystem aufbrechen und eine unerträgliche Verlogenheit entlarven. In wenigen Briefen wurde ich wie Judas als Verräter beschimpft, und jemand war überzeugt, dass ich direkt in der Hölle landen werde, was mich nicht mehr verletzen konnte, weil ich es endlich geschafft hatte, aus der Hölle auszuziehen!

«Zeigt euch! Geht den aufrechten Gang»

Die Schreckensszenarien meiner Albträume wurden keine Wirklichkeit und ich konnte weiterhin in den kirchlichen Bildungshäusern meine Seminare und Vorträge halten – ausser im ganzen Bistum Köln, in dem Kardinal Meisner verbot, mich zu engagieren. Inoffiziell liess mir ein Vertreter der Österreichischen Bischofskonferenz mitteilen, dass ich als spiritueller Autor weiterhin tätig sein dürfe, wenn ich das Wort «Homosexualität» öffentlich nicht aussprechen würde. 

Pierre Stutz (zweiter von rechts) 2021 in Luzern.
Pierre Stutz (zweiter von rechts) 2021 in Luzern.

Treffender kann die jahrhundert lange Kultur der Tabuisierung und der Diskriminierung dieser existenziellen Thematik nicht auf den Punkt gebracht werden. Sie wirkt immer noch lähmend nach, weshalb ich in kämpferischer Gelassenheit in meinem Dankesstatement zur Verleihung des Herbert-Haag-Preises 2021 alle im kirchlichen Dienst zu einem Coming-out bestärkte: «Schwule Priester ermutige ich gerne: Zeigt euch! Geht den aufrechten Gang, ohne euch würde die Seel sorge zusammenbrechen!»

«Gottes Geist weht, wo sie will»

Sehr berührend waren für mich die Echos von engagierten katholischen Eltern, die sich bei mir bedankten, dass sie wegen meines Zeugnisses, Homosexualität und Spiritualität zu versöhnen, ihre lesbische Tochter oder ihren schwulen Sohn liebender annehmen könnten. 

2003 habe ich meinen Lebenspartner Harald Wess kennengelernt, ein Geschenk des Himmels. 2013 haben wir im Standesamt in Lausanne unsere Partnerschaft eintragen lassen und 2018 im Standesamt in Osnabrück geheiratet. Gottes Geist weht, wo sie will! Ich bin versöhnt mit meinem Lebensweg und werde weiter hin gradlinig auf verschlungenen Pfaden gehen.

* Dieser Beitrag ist dem Buch «#Out in Church: Für eine Kirche ohne Angst» entnommen. Das Buch ist am Montag im Herder-Verlag erschienen – herausgegeben von Michael Brinkschröder, Gunda Werner, Bernd Mönkebüscher, Jens Ehebrecht-Zumsande und Veronika Gräwe.


Dieses Plakat (Ausschnitt) ist Teil der Ausstellung «Take Care», die im Kunsthaus Zürich zu sehen ist und war Teil einer «Stop Aids»-Kampagne. | © Raphael Rauch
26. April 2022 | 14:49
Lesezeit: ca. 4 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!