Sabine Zgraggen
Schweiz

Personalmangel in der Spitalseelsorge: «Wir sollten als Kirche flexibler werden»

«Während des Lockdowns konnten wir zu den Patientinnen und Patienten ins Spital. Das war unsere Bewährungsprobe», sagt Sabine Zgraggen. Sie leitet in Zürich die Spitalseelsorge und hat Nachwuchssorgen. Statt eines Theologiestudiums sollten künftig auch andere Zugänge zur Spitalseelsorge möglich sein.

Stefanie Stahlhofen

Was unterscheidet die Spitalseelsorge von anderen Arten der Seelsorge?

Sabine Zgraggen*: Man muss eine Affinität für kranke Menschen und das Spitalwesen haben und sich mit Krankheitsbildern auskennen. Wir arbeiten eng mit Pflegefachpersonen, Therapeuten und Ärztinnen zusammen und kennen die wissenschaftlich etablierten Konzepte von Spiritual Care und Palliative Care. Wichtig ist auch zu wissen, dass man sich nicht in einem katholisch sozialisierten Umfeld bewegt. Wenn wir im Spital sagen: «Ich bin die Seelsorgerin», kommt oft als Antwort: «Was ist Seelsorge? Sind Sie die Psychologin oder die Sozialarbeiterin?»

«Nur ein kleiner Teil erwartet das klassische katholische Repertoire.»

Was antworten Sie dann?

Zgraggen: «Nein, ich bin Seelsorgerin.» Wir sind von der Kirche gesandt, finanziert und wir stehen dazu. Seelsorge heisst, bei den Menschen zu sein. Nur ein kleiner Teil der Patientinnen und Patienten erwartet das klassische katholische Repertoire.

Joseph Bonnemain als Spitalseelsorger während der Corona-Pandemie.
Joseph Bonnemain als Spitalseelsorger während der Corona-Pandemie.

Wer eignet sich für die Spitalseelsorge?

Zgraggen: Früher kamen die Seelsorgenden mit 40, 50 Jahren zu uns – die Spitalseelsorge galt als Sahnehäubchen auf der Pastoralassistentenkarriere. Nun stehen wir vor einer Pensionierungswelle: Ein Drittel unserer erfahrenen Spitalseelsorgerinnen und Seelsorger geht in den nächsten Monaten und Jahren in Pension. Das ist viel. Wir haben teilweise nur ein oder zwei Bewerbungen.

«Es wäre schön, Theologie mit dem Berufsziel Spitalseelsorge zu studieren.»

Auch Pfarreien buhlen um die besten Köpfe. Wie wollen Sie Menschen für die Spitalseelsorge gewinnen?

Zgraggen: Wir diskutieren, die Spital- und Klinikseelsorge als neuen Kirchenberuf zu verstehen. Es wäre schön, Theologie mit dem Berufsziel Spitalseelsorge zu studieren, um danach direkt bei uns einzusteigen. Doch das ist leider erst ein neuerer Gedanke.

Raum der Stille in der Clienia Privatklinik Schlössli
Raum der Stille in der Clienia Privatklinik Schlössli

Wenn der Personalmangel akut ist: Welche kurzfristigen Möglichkeiten gibt es?

Zgraggen: Es gibt Pflegefachpersonen oder Psychologinnen, die mit 30, 40 Jahren bei uns anklopfen und gerne mit einem überschaubaren Aufwand zu uns wechseln möchten. Da muss ich dann sagen: Jetzt noch fünf Jahre Theologiestudium bitte und dann nochmal zwei Jahre obendrauf. Eine theologische Grundbildung ist wichtig. Aber aufgrund vieler Entwicklungen sollten wir auf eine spezifischere Zusatzausbildung setzen. Nicht jeder ist für die Pfarreipastoral geeignet und umgekehrt auch nicht für die Spitalseelsorge. Da sollten wir als Kirche flexibler werden.

«Uns entgehen aus formalen Gründen gute Seelsorgerinnen und Seelsorger.»

Wollen Sie also die theologischen Standards senken?

Zgraggen: Mir geht es um einen anderen Fokus. Was ist für die Patientinnen und Patienten am besten? Muss es wirklich das volle Theologie-Studium sein – oder gibt es für Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger, die schon viel aus anderen Bereichen mitbringen, nicht auch andere Möglichkeiten? Uns entgehen aus formalen Gründen gute Seelsorgerinnen und Seelsorger. Mit Qualitätsstandards hat das nichts zu tun. Schon jetzt haben wir eine spezifische Spitalseelsorgeausbildung mit einem CPT-Kurs, dem Clinical Pastoral Training. Dazu gehören intensive Wochen mit Fallbesprechungen, aber auch Analysen: wie man wirkt, wie man redet.

Ökumenische Spital-Kapelle, Spital Limmattal
Ökumenische Spital-Kapelle, Spital Limmattal

Was genau ist das Ziel der Spitalseelsorge?

Zgraggen: Der Auftrag lautet, die Kranken zu besuchen: alle Kranken, gleich welcher Konfession oder Weltanschauung. Wir missionieren nicht, arbeiten ökumenisch und besuchen alle, die dies wünschen.

«Es sind manchmal auch richtige Extremsituationen: In einer Kinderklinik sterben Babys.»

Wie belastend ist die Arbeit?

Zgraggen: Es kann belastend werden, weil wir viel mit Krisen und menschlichem Leid zu tun haben. Es sind manchmal auch richtige Extremsituationen: In einer Kinderklinik sterben Babys. Oder in der forensischen Psychiatrie haben wir es mit Straftätern zu tun. Vieles ist aber Spital-Alltag.

Kinderzeichnung zum Thema Mut und Angst
Kinderzeichnung zum Thema Mut und Angst

Wie sieht der aus?

Zgraggen: Notfälle haben Vorrang, Sterbende auch. Auf Platz 1 stehen die vulnerabelsten Patientinnen und Patientinnen, die einen Seelsorgebedarf haben. Je nach Standort können die Seelsorgerinnen und Seelsorger Prioritäten setzen. Vom «kurz Grüezi sagen» bis zu intensiven Gesprächen ist alles dabei. Acht bis zehn längere Gespräche sind das Maximum pro Tag. Ein Gespräch dauert in der Regel 15 bis 30 Minuten. Es kommen auch ambulante Nachgespräche dazu. Wir haben eine besondere Schweigepflicht, aber wir sind oft auch willkommene Fürsprecher. Wir fragen dann: Wären Sie froh, wenn wir den Gesprächsinhalt ihrem behandelnden Arzt oder ihrer Bezugsperson melden? Und die meisten sagen: Ja. Wir verstehen uns als ergänzenden Teil des Ganzen.

«Die Teams im Spital wissen, wann wir besonders gefragt sind.»

Wie wird das Angebot angenommen?

Zgraggen: Sehr gut. Meistens empfehlen uns Pflegefachpersonen an Patientinnen und Patienten weiter, das macht einen grossen Prozentsatz aus. Die Teams im Spital wissen, wann wir besonders gefragt sind: wenn jemand Redebedarf hat, wenn es um Sinn- und Identitätsfragen geht, bei Konflikten, Ängsten, Trauer, Fragen nach Vergebung. Wir haben einen niederschwelligen Ansatz.

Sie sprechen von einem massiven Nachwuchsproblem. Hat die Spitalseelsorge trotzdem Zukunft?

Zgraggen: Garantiert! Während des Lockdowns konnten wir zu den Patientinnen und Patienten ins Spital. Das war unsere Bewährungsprobe und die Kirche kann da stolz drauf sein. Die medizinische Forschung zeigt: Wenn die Seelsorge beteiligt ist, geht es den Menschen besser. Von daher brauchen wir die besten Seelsorgerinnen und Seelsorger und suchen nach neuen Formen, wie wir diese gewinnen können. Von mir aus kann in vielen Bereichen gespart werden. Wenn aber die am Standort institutionalisierte Spitalseelsorge wegfällt und wir uns aufs engste katholische Milieu zurückziehen, würden wir zur Sekte.

* Sabine Zgraggen (52) leitet die Spital- und Klinikseelsorge der katholischen Kirche im Kanton Zürich. Rund 40 Spital- und Klinik-Seelsorgende sind im Kanton Zürich an 33 Standorten präsent.


Sabine Zgraggen | © zVg
11. Februar 2022 | 16:02
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