Mennonit zum Oscar-Gewinner «Women Talking»: «Der Film hat mich erschüttert»

Der Film «Women Talking» wurde mit dem Oscar für das beste adaptierte Drehbuch ausgezeichnet. Er zeigt Frauen einer isolierten Mennonitengemeinde in Bolivien, die von ihren Männern und Brüdern jahrelang heimlich missbraucht werden. Was sagt ein Schweizer Mennonit über den Film?

Sarah Stutte

In «Women Talking» werden die Männer einer Mennonitengemeinschaft verhaftet, weil sie ihre Frauen über Jahre betäubt und sexuell missbraucht haben. Die Frauen beraten daraufhin in einer Scheune, was sie nun tun sollen. Bleiben und kämpfen oder gehen. Was ist Ihr Eindruck vom Film?

Riki Neufeld*: Die Geschichte hat mich sehr berührt und bewegt. Ich habe schon lange keinen so intensiven Film mehr gesehen, der mich derart mitgenommen hat. Auf ganz vielfältige Art und Weise fand ich ihn beeindruckend. Wegen der starken Geschichte, die erzählt wird, und wie sie erzählt wird.

«In dieser Auseinandersetzung wurde nichts beschönigt.»

Ist Ihnen eine Szene oder ein Aspekt des Films besonders in Erinnerung geblieben?

Neufeld: Die Art und Weise, wie authentisch die Frauen mit diesen Fragen gerungen haben. Wie sie mit dem himmelschreienden Unrecht umgehen, das ihnen widerfahren ist. In dieser Auseinandersetzung wurde nichts beschönigt, gleichzeitig war das immer sehr wohlwollend. Sarah Polley, die Regisseurin und Drehbuchschreiberin des Films, sprach von einem radikalen Akt der Demokratie auf der Suche nach Lösungen, die nicht eindeutig sind.

Die Frauen sehen zu, wie die Männer der Gemeinschaft verhaftet werden. Filmbild aus "Women Talking"
Die Frauen sehen zu, wie die Männer der Gemeinschaft verhaftet werden. Filmbild aus "Women Talking"

Spannend fand ich auch den Aspekt, was systemisch erlittenes Leid mit unserem Glauben macht. Um welchen Preis sollen wir Jesus folgen, der aufruft, den Feind zu lieben und ihm zu vergeben? Ich musste da an einige ukrainische Freunde denken, die gerade unter dem Angriffskrieg von Russland leiden und sich dieselben Fragen stellen.

«Die Gewalt wurde nicht gezeigt – aber sie war für mich körperlich spürbar.»

Im Film wird keine direkte Gewalt gezeigt. Sie ist jedoch allgegenwärtig. Genauso wie die Männer als Täter gesichtslos bleiben. Wie haben Sie das empfunden?

Neufeld: Genauso. Die Gewalt wurde nicht bildlich dargestellt. Aber die Realität der Gewalt, die erfahren wurde und die Konsequenzen, die sie mit sich zieht – wie das erzählt und dem Publikum dargebracht wurde, war gewaltig und für mich körperlich sehr spürbar.

Riki Neufeld, Pastor in der Mennonitengemeinde Schänzli in Muttenz.
Riki Neufeld, Pastor in der Mennonitengemeinde Schänzli in Muttenz.

Der Film beruht auf einem Buch und dieses auf einem realen Fall einer Mennonitengemeinschaft in Bolivien. Haben Sie von diesem Fall gehört?

Neufeld: Ich wusste von ähnlichen Fällen. Es ist eine traurige Realität, dass solche Missbrauchsfälle in einzelnen hermetischen Mennonitengemeinschaften stattfinden. Ich selbst bin in Paraguay in einer mennonitischen Gemeinschaft aufgewachsen, die sehr anders ist als diejenige im Film.

«Wir hörten von gewissen Vorfällen.»

Trotzdem hatten wir Kontakt zu anderen Gemeinden in Paraguay und hörten von gewissen Vorfällen. Dieser spezielle Fall von systematischer Betäubung und Vergewaltigung, wie er in Bolivien passierte, war jedoch etwas sehr Einmaliges.

Diskussion in der Scheune. Filmbild aus "Women Talking"
Diskussion in der Scheune. Filmbild aus "Women Talking"

Einzig die Scheunendiskussion und Entscheidungsfindung der Frauen in Buch und Film ist Fiktion. Steckt trotzdem ein Fünkchen Wahrheit darin?  

Neufeld: Die prinzipielle Entscheidung zwischen Gehen oder Bleiben gibt es durchaus. Diese treffen mennonitische Gemeinschaften seit über 500 Jahren, wenn sie sich von der Aussenwelt bedroht fühlen. Meistens entscheiden aber die Männer in letzter Instanz darüber, was gemacht wird.

«Die weltweite mennonitische Familie ist sehr vielfältig.»

Welchen Stellenwert haben Frauen in Mennonitengemeinschaften?

Neufeld: Die weltweite mennonitische Familie ist nicht homogen. Sie ist sehr vielfältig. Es gibt viele Gemeinden, in denen Frauen den gleichen Stellenwert haben und dieselben Rollen einnehmen können. Die Mennoniten, die in «Women Talking» porträtiert wurden, sind plattdeutsche Mennoniten. Also solche, die aus Mitteleuropa stammen, den Weg über Russland gingen und sich irgendwann in Nord- oder Südamerika niedergelassen haben.

Die Mennoniten-Gemeinde in Paraguay, in der Riki Neufeld aufwuchs.
Die Mennoniten-Gemeinde in Paraguay, in der Riki Neufeld aufwuchs.

Das sind nur ungefähr 400’000 von über zwei Millionen Mennoniten weltweit. Unter diesen 400’000 gibt es hermetische Gemeinschaften, in denen die Macht ganz klar bei den Männern liegt. Die überwiegende Mehrheit der mennonitischen Gemeinden vertritt jedoch keine dogmatische Auffassung, die Frauen geringschätzen würde.

Im Film gibt es einen queeren Charakter, beziehungsweise eine Frau, die fortan als Mann leben will. Gibt es so etwas tatsächlich in Mennonitengemeinschaften? Dürfen sie sich outen?

Neufeld: Das ist ebenfalls unterschiedlich. Bei mennonitischen Gemeinden aus dem globalen Süden ist – ähnlich wie bei der katholischen Kirche – nicht prinzipiell eine Willkommenskultur gegenüber LGBTQ-Personen da. In fast allen mennonitischen Gemeinden in Holland beispielsweise ist es umgekehrt.

Liebe gewinnt: Aufschrift an einer Mauer.
Liebe gewinnt: Aufschrift an einer Mauer.

Dort werden queere Personen integriert und übernehmen auch pastorale Aufgaben. In den USA hat diese Debatte in Teilen des Landes zu grossen Spannungen geführt. Auch dort gibt es zahlreiche Gemeinden, die inklusiv sind und andere eher konservativ.

«Women Talking» zeigt spezielle mennonitische Riten, beispielsweise das Waschen der Füsse. Was hat es damit auf sich?

Neufeld: Die Fusswaschung wird in einigen mennonitischen Traditionen sehr intensiv praktiziert. Die Mennoniten orientieren sich stark nach den Worten und der Lehre von Jesus. Die Fusswaschung wird im Johannesevangelium erwähnt und transportiert auch eine Art Demut und Dienstbereitschaft zueinander.

Die Fusswaschung ist bei den Mennoniten stark verbreitet.
Die Fusswaschung ist bei den Mennoniten stark verbreitet.

Im Film fand ich diese Szene schön und stimmig in Bezug auf die Diskussion danach. Obwohl diese sehr vielfältig war, haben die Frauen stets versucht aufeinander einzugehen und die Argumente der anderen zu verstehen.

«Die Frauen waren vielleicht einen Tick zu eloquent.»

Ist die Gemeinschaft im Film Ihrer Meinung nach realistisch wiedergegeben?

Neufeld: Die Ausstattung, also Kleider und Setting, fand ich sehr realistisch dargestellt. Die Frauen waren vielleicht einen Tick zu eloquent in der Artikulation ihrer teilweise recht komplexen Gedankengänge. Jedenfalls dafür, dass sie wenig Bildung hatten und nicht lesen und schreiben konnten. Ich zweifle daran, ob Frauen in solchen Mennonitengemeinschaften sich wirklich so gut ausdrücken könnten.

Was verbindet Sie persönlich mit der Geschichte?

Neufeld: Meine Grosseltern sind in der ehemaligen Sowjetunion geboren und zusammen mit ihren Familien geflüchtet, als die restriktiven Bedingungen ihnen ihren Glauben verboten haben. Meine Grossmutter erzählte mir, dass sie nachts mitten im Winter den Schlitten gepackt und – verfolgt vom russischen Militär – über den gefrorenen Amur-Fluss bis nach China geflüchtet sei.

Gehen oder Bleiben fragen sich die Frauen. Filmbild aus "Women Talking"
Gehen oder Bleiben fragen sich die Frauen. Filmbild aus "Women Talking"

Der Gedanke, wen sie beim Verlassen ihrer Heimat zurücklässt, so wie er auch im Film thematisiert wird, war auch bei ihr allgegenwärtig. Tatsächlich blieben ihre Geschwister zurück und später verschollen.

«Die Mennoniten haben sich aus der Täuferbewegung in Zürich heraus entwickelt.»

Wo haben die Mennoniten ihren Ursprung?

Neufeld: In der Schweiz. Während der Reformation in Zürich haben sich die Mennoniten aus der Täuferbewegung heraus entwickelt. Sie distanzierten sich von Zwingli, weil sie ganz bewusst von einer Trennung von Staat und Kirche ausgingen. Die Taufe empfanden sie als einen freiwilligen Schritt, der ganz bewusst auch den Schritt in die Glaubensgemeinschaft verkörpert.

Huldrych Zwingli – Denkmal des Reformators vor der Wasserkirche Zürich
Huldrych Zwingli – Denkmal des Reformators vor der Wasserkirche Zürich

Fast zeitgleich entstanden ähnliche Bewegungen in Holland und Deutschland. Ihren Namen gab der evangelischen Freikirchenbewegung der holländische Theologe Menno Simons. Die meisten mennonitischen Gemeinden entschieden sich bald dafür, Feinden gegenüber nicht konfliktvoll zu begegnen, um zu überleben. Was nicht unbedingt bedeutet, dass alle nach innen gewaltfrei gewirkt hätten.

Wie sieht es mit der Mennonitenfamilie in der Schweiz aus? Vertritt diese eine modernere Einstellung?

Neufeld: Die mennonitische Gemeinschaft in der Schweiz hat ungefähr 2500 getaufte Mitglieder. Der Grossteil der Gemeinden setzt vollkommen auf Gleichstellung von Frauen und Männern, auch in Leitungspositionen. Es gibt nur einzelne Gemeinden, in denen Frauen nicht predigen dürfen.

Mennoniten-Gemeinde Schänzli in Muttenz
Mennoniten-Gemeinde Schänzli in Muttenz

Bei der Integration von LGBTQ-Menschen laufen seit ungefähr zwei Jahren Gesprächsprozesse, in denen sich Verband und Gemeinden intensiver damit beschäftigen. Sie versuchen einen Weg zu finden, die traditionelle Verankerung aufzubrechen. Dafür nimmt man sich Zeit, diskutiert die verschiedenen Anliegen und versucht einander zuzuhören. Es gibt keine leitende Instanz, die für alle anderen entscheidet.

«Bei kontroversen Themen gibt es eine starke Debattenkultur.»

Das ist typisch für Mennoniten. Bei kontroversen Themen gibt es eine starke Debattenkultur, dadurch dauern die Prozesse vielleicht länger, aber dafür stehen die Menschen stärker hinter diesen Entscheidungen.

*Riki Neufeld ist Pastor in der Mennonitengemeinde Schänzli in Muttenz (BL). Nebenberuflich macht er den Master in Transformationsstudien an der CVJM Hochschule in Kassel (D). Er wurde in Paraguay geboren, sein Weg führte über Südamerika, Kanada und Deutschland in die Schweiz.

Der Film «Women Talking» läuft derzeit im Kino Uto in Zürich und im Kino Kult Atelier in Basel.


Die schuldigen Männer der Mennonitengemeinschaft. Filmbild aus «Women Talking» | © YouTube/Universal Pictures Switzerland
17. März 2023 | 05:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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