Odilo Noti
Zitat

Odilo Noti: «Es ist höchste Zeit, dass wir unsere Illusionen zum Kirchesein aufgeben»

«Die Preisträgerinnen und Preisträger konfrontieren uns mit ihrer Leidensgeschichte. Sie sprechen über ihre Erfahrungen mit einer zutiefst diabolischen, antichristlichen Kirche. Es sind Erfahrungen mit Tätern, Vertuschern, Mitwissern – und auch mit Gläubigen, die über Verbrechen hinweggesehen, ja diese schön geredet oder verdrängt haben. Die Preisträgerinnen und Preisträger wollen von uns keine Mitleidlyrik hören, davon haben sie im Übermass abbekommen. Sie wollen, dass wir die Wirklichkeit so sehen, wie sie ist – nicht so, wie wir sie gerne hätten. 

Wir müssen einsehen, dass die Kirche – gerade weil wir indoktriniert wurden, sie sei eine ‘societas perfecta’, eine vollkommene Gemeinschaft – für ein menschliches, moralisches und religiöses Desaster ohnegleichen steht. Es ist höchste Zeit, dass wir unsere Illusionen zum Kirchesein aufgeben und uns mit dem auseinandersetzen, was die Mitte des Evangeliums ist: die Befreiung des Menschen. 

Diese Befreiung kommt gewiss nicht von oben. Wenn schon, nur durch Druck von unten – oder durch Druck von aussen. Das ist in allen Institutionen und Gesellschaften so. Das lehrt uns ein Blick in die Geschichte und in die Gegenwart. Freiheit muss immer und überall erkämpft werden. Sie wird einem nicht geschenkt. Nur wir Katholikinnen und Katholiken glauben immer noch, dass das Heil von oben nach unten diffundiert.»

Der Theologe Odilo Noti ist Präsident der Herbert-Haag-Stiftung. Diese verleiht am Sonntagnachmittag in Luzern den Herbert-Haag-Preis an «Menschen, die Opfer sexuellen und geistlichen Missbrauchs geworden sind, die ihre traumatischen Erfahrungen öffentlich gemacht haben und die sich persönlich für die Aufarbeitung dieses Jahrtausend-Skandals einsetzen», wie die Stiftung mitteilte. (rr)


Odilo Noti | © Regula Pfeifer
13. März 2022 | 15:53
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