Im Jahr 2000 wurde Notker Wolf zum Abtprimas und damit zum obersten Repräsentanten der Benediktiner gewählt.
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Notker Wolf: Alle schiessen gegen Papst Benedikt XVI. als angeblichen Täter

Der deutsche Benediktiner und emeritierte Amtprimas Notker Wolf kritisiert, dass die Medien im Missbrauchsskandal nur die Täter im Blick hätten. Man solle die Missbrauchstaten der 1970er-Jahre nicht vom heutigen moralischen Standpunkt aus beurteilen.

Jacqueline Straub

Wie blicken Sie momentan auf die Kirche?

Notker Wolf*: Voller Hoffnung, weil die Kirche vom Geist Gottes geführt wird und nicht von uns Menschen. Wir bilden uns immer ein, mit Strukturreformen alles hinbringen zu können. Doch der Geist Gottes möchte uns auch immer wieder mal reinigen. Wenn man in die Geschichte schaut, dann hat man keinen Grund zum Verzweifeln. Es hat schon viel schlimmere Zeiten gegeben.

Was stört Sie derzeit?

Wolf: Im Moment dreht sich alles nur um die Missbrauchsfälle. Aber wie sieht es denn sonst in der Gesellschaft aus? Der Missbrauch ist nicht unser Glaube. Wir müssen unseren Glauben wiederfinden, den Menschen nahe sein und sie trösten.

«Der Missbrauch in der Kirche macht nur einen geringen Prozentsatz aus.»

Sollte denn nicht über den Missbrauchsskandal gesprochen werden?

Wolf: Die Missbrauchsfälle sind tragische Sachen. Das müssen wir bereinigen, gar keine Frage. Man muss ja auch in die Gesellschaft schauen, was da alles läuft. Der Missbrauch in der Kirche macht nur einen geringen Prozentsatz aus. Wir müssen den Menschen aber klar machen, dass die Kirche nicht jenseits der Wolken angesiedelt ist, sondern hier auf der Erde ist. Es wird immer eine perfekte Kirche erwartet. Natürlich, das was vorgefallen ist, ist schlimm. Ich hoffe aber, dass es bald vorbei ist und nicht mehr rumgestochert wird. Was schade ist: Keiner redet mehr, was in der Kirche alles Gutes geschieht. Das ist Verblendung.

«Jetzt zeigt wieder die ganze Medienschar auf Benedikt als angeblichen Täter.»

Was oft vergessen wird, ist die Vergebung. Wenn ich von Vergebung spreche, ist das keine Bagatellisierung. Ohne Verzeihen kommt man nicht weiter. Doch die Leute wollen nicht verzeihen. Als die ersten Anklagen hochkamen, als die Kirche beworfen wurde, zuckte die Deutsche Bischofskonferenz zusammen. Ich habe mich damals gefragt, ob die Bischöfe denn nicht die Bibel kennen. Denn dort steht: Selig seid ihr, wenn ihr verleugnet werdet und euch Schlechtes nachgesagt wird.

Was mich wirklich stört: Alle schiessen auf Papst Benedikt XVI. Es heisst immer, man kümmert sich nicht um die Opfer, sondern nur um die Täter. Jetzt zeigt wieder die ganze Medienschar auf Benedikt als angeblichen Täter. Die Opfer spielen wieder keine Rolle. Die Medien sollten weniger die Täter im Blick haben, sondern mehr die Opfer.

Papst Benedikt XVI., 2009 im Petersdom.
Papst Benedikt XVI., 2009 im Petersdom.

Verharmlosen Sie nicht die Missbrauchskrise?

Wolf: Nein. Es ist komisch, dass man das immer als eine Verharmlosung bezeichnet. Natürlich bin ich dafür, dass die Täter verurteilt werden. Aber man sollte auch auf die Opfer Rücksicht nehmen. Denn diese stehen nicht im Blickfeld. Alles konzentriert sich auf die Täter. Doch was ist mit den Opfern?

Joseph Ratzinger war in vielen Fragen gnadenlos, gerade auch in der Glaubenskongregation. Warum sind Sie nachsichtig mit ihm?

Wolf: Ich glaube, dass es keine Form der Nachsicht ist, wenn ich sage, dass Joseph Ratzinger den pädophilen Priester, der in Therapie sollte, in der Diözese wohnen liess. Irgendwo musste er ja wohnen. Er hat nicht über den Täter hinweggesehen. Damals dachte man noch, dass solche Menschen therapierbar seien. Und man muss es immer aus der Zeit heraus sehen: In den 70er-Jahren wollten in Deutschland die Grünen Pädophilie legalisieren. Ich war damals höchst entsetzt.

«Missbrauch hat damals keiner so ernst genommen.»

Was schlagen Sie vor, wie wir mit dem Missbrauchskomplex in der Kirche umgehen sollten?

Wolf: Wir sollten die Sachen der 1970er-Jahre nicht vom heutigen moralischen Standpunkt aus beurteilen. Denn Missbrauch hat damals keiner so ernst genommen. Etwa die ganze Tragik mit der deutschen Benediktinerabtei Ettal. In dem Internat wurden über Jahrzehnte Schüler körperlich misshandelt und sexuell missbraucht. 2010 kamen die Vorfälle ans Licht. Doch schon in den 90er-Jahren haben der Abt und der Schulleiter ein Institut zur Verhinderung von Missbrauch gegründet. Aber das spielt für die Medien ja keine Rolle.

Impression der ersten Synodalversammlung in Frankfurt im Januar 2020.
Impression der ersten Synodalversammlung in Frankfurt im Januar 2020.

Was sagen Sie zum Synodalen Weg?

Wolf: Ich halte Reformen für durchaus notwendig. Aber Strukturen schaffen kein neues Leben.

Welche Rollen können die Benediktiner im Reformprozess der katholischen Kirche spielen?

Wolf: Wenn wir als geistliche Anlaufstellen Diener der Gesellschaft und der Kirche sind, wenn wir unser Leben authentisch führen, eine gute Liturgie, eine solide Arbeit, von der wir leben, haben, dann geht es uns gut.

«Gott gibt oft den Jüngeren ein, was das Bessere ist in der jeweiligen Situation.»

Was kann man von den Benediktinern im Umgang mit Macht und Autorität lernen?

Wolf: Da kann man viel lernen. Der Synodale Weg müsste eigentlich durch die ganze Kirche und Kirchengeschichte gehen. Der heilige Benedikt sagte: Wenn immer etwas Wichtiges im Kloster ansteht, soll der Abt sämtliche Brüder zusammenrufen und sich mit ihnen beraten. Eine Synode ist an sich gar nichts Besonderes. Unter den Benediktinern ist das völlig normal. Der heilige Benedikt betonte auch, dass man auch den Jungen zuhören soll. Denn Gott gibt oft den Jüngeren ein, was das Bessere ist in der jeweiligen Situation.

Was Reformen anbelangt wird aber oft zu wenig auf die Jungen gehört. Wer bremst?

Wolf: In Rom gibt es einige Kardinäle, die keinen Wandel in der Kirche wollen. Papst Franziskus hat in seinen ersten beiden Weihnachtsansprachen diese kritisiert. Ich dachte mir damals: Heiliger Vater, da machen Sie sich aber keine Freunde. Mehr kann er aber auch nicht tun. Es braucht alles seine Zeit. Denn aus einem Hallodri kann man keinen Musterknaben machen.

* Notker Wolf (81) ist emeritierter Abtprimas der Benediktinischen Konföderation. Er lebt in der Erzabtei Sankt Ottilien in Deutschland.


Im Jahr 2000 wurde Notker Wolf zum Abtprimas und damit zum obersten Repräsentanten der Benediktiner gewählt. | © Jacqueline Straub
22. Februar 2022 | 17:16
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