Nicolas Betticher.
Schweiz

Nicolas Betticher: «Erst wenn die Medien berichten, geschieht etwas. Das geht doch nicht»

Die katholische Kirche ahndet sexuelle Übergriffe in ihrem Umfeld unprofessionell. Darüber sind sich kirchliche Expertinnen und Experten auf dem Podium der Universität Zürich einig. «Wir wussten früher nicht, wie mit Missbrauchsmeldungen umgehen. Und wir sind heute nicht viel weiter», sagte Nicolas Betticher, Offizial am Interdiözesanen schweizerischen kirchlichen Gericht.

Regula Pfeifer

Nicolas Betticher war 2001 erstmals mit einem Missbrauchsfall konfrontiert. Es ging um einen Kapuziner, der sich an Minderjährigen verging. Betticher war damals Kanzler des Bistums Lausanne-Genf-Freiburg. «Ich habe den Fall dem Bischof unterbreitet, doch wir wussten beide nicht, wie damit umgehen», gibt er zu. Sie seien nicht darauf vorbereitet gewesen.

«Ich plädiere für ein Partikularrecht für unser Land.»

Nicolas Betticher, Pfarrer und Offizial

«Wir sind heute noch nicht viel weiter», findet Nicolas Betticher, der heute als Pfarrer in Bern wirkt. Und als Offizial, also Richter, am Interdiözesanen schweizerischen kirchlichen Gericht in Freiburg. Zwar sei die Prävention inzwischen gut, aber an der Rechtssprechung hapere es. «Ich plädiere für ein Partikularrecht für unser Land», so Betticher. Es brauche ein kirchliches Gericht pro Sprachregion, das sich um Missbrauchsfälle kümmere.

Marietta Meier und Nicolas Betticher im Gespräch
Marietta Meier und Nicolas Betticher im Gespräch

Die Aussagen fallen am Podium «Recht und Rechtssprechung zu sexuellem Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche», das am letzten Donnerstag an der Universität Zürich – im Rahmen einer Ringvorlesung zur Missbrauchsthematik – stattgefunden hat. Moderiert wird es von Marietta Meier, Titularprofessorin für Geschichte der Neuzeit in Zürich. Meier leitet das Forschungsprojekt zur Geschichte des Missbrauchs im Umfeld der katholischen Kirche der Schweiz, gemeinsam mit Monika Dommann, Professorin für Geschichte der Neuzeit. Rund 80 Personen hören zu.

Podiums-Teilnehmende: Nicolas Betticher, Astrid Kaptijn, Stefan Loppacher und Elmar Tremp
Podiums-Teilnehmende: Nicolas Betticher, Astrid Kaptijn, Stefan Loppacher und Elmar Tremp

Der «Elefant im Raum»

«Sexueller Missbrauch stand lange als Elefant im Raum, den niemand benannte», sagt Stefan Loppacher mit Blick in die vergangenen Jahrzehnte. Der Priester leitet als Geschäftsführer das Fachgremium sexuelle Übergriffe der Schweizer Bischofskonferenz – und verantwortet seitens der Kirche das Forschungsprojekt zur Geschichte des sexuellen Missbrauchs im Umfeld der katholischen Kirche der Schweiz.

Loppacher hat Theologie und Kirchenrecht studiert und zu sexuellen Übergriffen von Priestern an Minderjährigen promoviert. Sogar im Kirchenrechtsstudium habe er fast nichts von Missbrauch gehört, sagt er. Dabei sei das Kirchenrecht ohne diesen Aspekt kaum zu verstehen.

Stefan Loppacher steht intern in der Kritik, erfährt aber auch sehr viel Unterstütuung.
Stefan Loppacher steht intern in der Kritik, erfährt aber auch sehr viel Unterstütuung.

«Der Kirche ging es lange darum, den heiligen Schein zu wahren – teilweise bis heute.»

Stefan Loppacher

«Der Kirche ging es lange darum, den heiligen Schein zu wahren und ihren Ruf zu schützen – teilweise bis heute», kritisiert er. Das sei den Verantwortlichen wichtiger gewesen als die psychische und physische Unversehrtheit der Menschen. Dementsprechend habe die katholische Kirche «über Jahrzehnte» kein Strafverfahren wegen sexueller Übergriffe geführt.

Problem: «Theologen spielen Strafbehörde»

Auch heute sei die Situation keineswegs zufriedenstellend. «Es fehlt am Willen, aktiv zu werden und am Knowhow. Und es gibt viele Systemprobleme», sagt Loppacher. Etwa die Tatsache, dass «Theologen Strafbehörde spielen».

«Erst wenn die Medien berichten, geschieht etwas in der Kirche. Das haben wir in den letzten Monaten gesehen», sagt Nicola Betticher. «Das geht doch nicht.» Es gehe darum, aus den Fehlern zu lernen und aktiv zu werden.

Podium zu Missbrauch und Recht in der katholischen Kirche (von links): Marietta Meier, Nicolas Betticher, Astrid Kaptijn, Stefan Loppacher, Elmar Tremp
Podium zu Missbrauch und Recht in der katholischen Kirche (von links): Marietta Meier, Nicolas Betticher, Astrid Kaptijn, Stefan Loppacher, Elmar Tremp

«Ich kam ins Gremium – und mir gingen die Augen auf», sagt Elmar Tremp. Der Staatsanwalt des Kantons St. Gallen ist nach eigenen Angaben 2003 «fast ein Mann der ersten Stunde» im Fachgremium sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld der Schweizer Bischofskonferenz. Er sei vom Kanton delegiert worden, weil es damals im Bistum St. Gallen einen Priester gab, der sich Jugendlichen gegenüber übergriffig verhalten habe. Von den Opfer- und Tätertherapeuten im Gremium habe er erfahren, wie Missbrauchstäter funktionierten.

«Übergriffe gegenüber Minderjährigen auf jeden Fall vor ein staatliches Gericht.»

Elmar Tremp, St. Galler Staatsanwalt

Für den Staatsanwalt gehören sexuelle Übergriffe gegenüber Minderjährigen auf jeden Fall vor ein staatliches Gericht – ausser, der Fall wäre verjährt. Das sieht auch Astrid Kaptijn so, Kirchenrechtlerin an der Universität Freiburg FR. Sie war an der Aufarbeitung des Missbrauchs in der katholischen Kirche Frankreichs prominent beteiligt und berät nun das entsprechende Forschungsprojekt in der Schweiz. «Das bürgerliche Recht hat Vorrang. Erst in zweiter Instanz kann die Kirche Missbrauchsfälle regeln.»

Eigene Rechtssprechung von Kirchen erlaubt

Weshalb die Kirche überhaupt eine eigene Rechtssprechung habe, kommt die Frage aus dem Publikum. Das beruhe auf der Religionsfreiheit, die in der Bundesverfassung festgehalten ist, klärt Elmar Tremp auf. Dementsprechend könnten Kirchen ihre eigenen Regeln aufstellen, die allerdings nur für ihre Mitglieder gälten.

Astrid Kaptijn
Astrid Kaptijn

Im Kirchenrecht werden laut Kaptijn die Rechte und Pflichten der Gläubigen festgelegt. «Ein wichtiges Element ist darunter die Frage, welche Sakramente gültig sind.» -«Wir sind eine Weltkirche mit 1,3 Milliarden Mitgliedern, da braucht es Regeln», bestätigt Nicolas Betticher. Diese sollten aber dezentralisiert und an das jeweilige kulturelle Umfeld angepasst werden, ist er überzeugt.

«Es geht zu weit, wenn alles ausserhalb der Kirche entschieden würde.»

Astrid Kaptijn, Kirchenrechtlerin

Die Missbrauchsfälle, die im kirchlichen Umfeld passieren, ganz dem Staat überlassen, das will die Kirchenrechtlerin Kaptijn nicht. «Es geht zu weit, wenn alles ausserhalb der Kirche entschieden würde – und von Leuten, die das Kirchenrecht nicht kennen.»

«Alles outsourcen geht nicht», doppelt Stefan Loppacher nach. Damit würde sich die Kirche jeglicher Verantwortung entziehen. Diese müsse Verantwortung tragen für die kirchlichen Mitarbeitenden und gefährliche Leute aus dem Dienst entfernen.

Allerdings rät Loppacher allen Missbrauchsbetroffenen in der Kirche, «zuerst zu einer staatlichen Opferhilfestelle zu gehen». Die Beratung dort laufe professioneller.

Kirchliche Höchststrafe: Entlassung aus dem Priesterstand

Kirche ist aber nicht gleich Staat, wie aus dem Podiumsgespräch hervorgeht, besonders betreffend Strafmöglichkeiten. «Die Höchststrafe, welche die Kirche verhängen kann, ist eine Entlassung aus dem Priesterstand», sagt Stefan Loppacher. Zudem habe die Kirchenleitung die Möglichkeit, einem fehlbaren Priester gewisse Tätigkeiten zu verbieten – etwa solche mit Kontakt zu Jugendlichen.

Einen Vorteil hat das kirchliche Recht laut Betticher: Hier ist es möglich, die Verjährung eines Übergriffs aufzuheben – per Entscheid aus dem Vatikan. So könne ein Täter auch viele Jahre später noch belangt werden.

Neu ist, dass die Kirche nun auch kirchliche Mitarbeitende ohne Weihe wegen sexuellen Übergriffen bestrafen könne. Das berichtet Stefan Loppacher, der auch Präventionsbeauftragter im Bistum Chur ist.


Nicolas Betticher. | © Raphael Rauch
12. November 2023 | 17:00
Lesezeit: ca. 4 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!