Abschluss 1500-Jahr-Jubiläum Abtei Saint-Maurice: Freilassung der Tauben. Von links: Abt Jean Scarcella, Kardinal Koch, alt-Abt Joseph Roduit
Kommentar

Neun Chorherren von Saint-Maurice – eine neue Dimension des systemischen Missbrauchs

Es ist ein Schlag, der tief sitzt. Aus dem Kloster Saint-Maurice ist seit Sonntagabend bekannt, dass neun Priester in Fälle von sexuellen Übergriffen auf Minderjährige verstrickt sind. Einige von ihnen sind immer noch im Amt. «Die Recherche von RTS deckt nicht nur Einzelfälle auf, sondern ein ganzes System», sagt Charles Martig im Kommentar. «Das ist schockierend.»

Charles Martig

Aus dem Umfeld der Orden ist in Sachen sexueller Übergriffe noch nicht viel bekannt. Jetzt hat in der Westschweiz eine Bombe eingeschlagen, und zwar im ältesten Kloster nördlich der Alpen. Es handelt sich um den Augustinerorden in Saint-Maurice.

Das Fernsehen RTS hat am Sonntagabend zur besten Sendezeit in der Sendung «Mise au point» einen ausführlichen und tief recherchierten Bericht über die Augustiner Chorherren ausgestrahlt. Insgesamt sind jetzt neun Priester bekannt, die in den letzten drei Jahrzehnten sexuelle Übergriffe auf Kinder und Jugendliche begangen haben sollen. Teilweise sind diese kriminellen Vergehen polizeilich untersucht. Teilweise aber auch wieder fallen gelassen worden.

Opfer werden abgewimmelt

Einige der mutmasslichen Täter sind noch immer in ihrem Amt. Das ist schockierend. Opfer versuchen seit Jahren, die Chorherren zu kontaktieren und mit ihren Zeugnissen von sexuellen Übergriffen in Saint-Maurice zu konfrontieren. Doch sie werden abgewimmelt, an den Rand gedrängt und mundtot gemacht.

Die Recherche von RTS deckt nicht nur Einzelfälle auf, sondern ein ganzes System. Die Geistlichen des Augustiner Ordens schützen ihre Institution und wehren die Aufklärung von konkreten Hinweisen auf sexuelle Übergriffe ab. Dabei haben sie lange von ihrem Status profitiert: «Der Priester war für uns wie der Liebe Gott», sagt ein Missbrauchsbetroffener aus dem Wallis.

Internat als Gelegenheit für Täter

Noch viel gravierender ist die Tatsache, dass das Kloster Saint-Maurice bis 2021 ein Internat führte. Es ist auch in vielen Aktivitäten mit Jugendlichen und Kindern involviert. Hier boten und bieten sich viele Gelegenheiten für pädokriminelle Täter. Und der Abt des Klosters hat nichts dagegen unternommen. Vielmehr ist Jean César Scarcella selbst einer der mutmasslichen Täter. Er hat sich Mitte September aus dem Amt zurückgezogen, nachdem Vorwürfe wegen sexueller Belästigung gegen ihn bekannt wurden.

Das Kloster Saint-Maurice wollte gegenüber RTS nicht Stellung nehmen. Die Bischofskonferenz hatte am Donnerstag einen Termin mit RTS vereinbart, um über die konkreten Fragen zu sprechen und dazu Stellung zu nehmen. In letzter Minute wurde der Termin von der SBK abgesagt. Also auch von dieser Seite ein «No comment».

Trägheit rächt sich

Während das Kloster Einsiedeln bereits im Jahr 2011 mit der Aufarbeitung von sexuellen Übergriffen begann und Zahlen publizierte, hat die Abtei Saint-Maurice mehr als ein Jahrzehnt zugewartet. Jetzt rächt sich diese Trägheit. Die Fälle der Augustiner Chorherren werden von Medien aufgedeckt. Das System hinter dem Missbrauch ist der eigentliche Skandal. Und die Untätigkeit der verantwortlichen Äbte von Saint-Maurice.

(korrigiert am 20.11.2023, 13.51 Uhr)

Mehr zum Missbrauchsskandal in Saint-Maurice berichtet kath.ch demnächst in einer News.


Abschluss 1500-Jahr-Jubiläum Abtei Saint-Maurice: Freilassung der Tauben. Von links: Abt Jean Scarcella, Kardinal Koch, alt-Abt Joseph Roduit | © 2015 Bernard Hallet
20. November 2023 | 12:02
Lesezeit: ca. 2 Min.
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