Thierry Collaud, Ethikprofessor in Freiburg
Schweiz

Neue Regelung zur Todesstrafe beruht auf «organischer Entwicklung»

Freiburg, 12.8.18 (kath.ch) Am 2. August hat die Todesstrafe im Katechismus der katholischen Kirche einen neuen Stellenwert erhalten. War sie bisher unter bestimmten Bedingungen toleriert, ist sie nun «unzulässig» geworden. Der Fall sei symbolträchtig für die Dynamik des moralischen Denkens der Kirche, sagt Thierry Collaud, Professor für Ethik an der Universität Freiburg.

Pierre Pistoletti

Das orangefarbene Licht wurde rot. Nach einer langen Inkubationszeit führten Tendenzen zur Abschaffung der Todesstrafe innerhalb der Kirche schliesslich zu einer Änderung der Lehre. Die Entscheidung von Papst Franziskus, den Katechismus der katholischen Kirche zu ändern, fiel nicht vom Himmel: Der Wille zur Veränderung geht auf das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) zurück. Er hat seit Johannes Paul II. und seiner Enzyklika «Evangelium Vitae» (1995) über den Wert und die Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens an Bedeutung gewonnen. Und er wurde durch das Pontifikat von Benedikt XVI. gestärkt, der 2011 dazu aufrief, gemeinsam «die Abschaffung der Todesstrafe zu erreichen».

Beseitigung einer Unklarheit

«Ein schönes Beispiel für die Reifung des moralischen Gewissens der Kirche», für Thierry Collaud. Der Professor an der Freiburger Theologischen Fakultät sieht keinen Bruch im Übergang von der Bewilligung zum Verbot, sondern «einen Gewinn an Kohärenz». «Insgesamt hat die Kirche immer gesagt: Menschen zu töten ist nicht gut. Indem er die Ausnahme der Todesstrafe aus dem Katechismus streicht, verstärkt Papst Franziskus diese Linie.»

«Es ist leicht zu sagen, dass ich gegen Abtreibung, gegen Euthanasie oder gegen die Todesstrafe bin.»

Gleichzeitig beseitige er eine Zweideutigkeit, die es in der Kirche schon lange gibt. «Ich war immer schockiert, die Worte einiger selbstgerechter Katholiken zu lesen, die sich sowohl für die Todesstrafe als auch gegen die Abtreibung einsetzen», fährt der Ethiker fort. In Kontinuität mit Johannes Paul II. bekräftige Franziskus die Notwendigkeit, «sich um das ganze Leben und das Leben aller zu kümmern». Das des ungeborenen Kindes wie das des Migranten, der das Meer auf einem Boot überquert. Und sogar das des Verbrechers. Alle haben die gleiche Würde, die sie von Gott erhalten haben.

Die Kirche, im Takt ihrer Zeit?

Es handelt sich also um eine organische Entwicklung, wie die Kirche andere erlebt hat. Vor der Kursänderung bei der Todesstrafe hat sie auch ihre Ansichten über Sklaverei, Demokratie oder sogar über zinstragende Kredite geändert. Was soll das heissen? Dass die moralische Lehre der Kirche mit einigen Jahren Verspätung die Sitten ihrer Zeit annimmt?

«So einfach ist das nicht.»

«So einfach ist das nicht», differenziert Thierry Collaud. «Eine gesunde Entwicklung folgt nicht den gesellschaftlichen Trends des Augenblicks. Sie wird von Kraftlinien, also von grossen Prinzipien geleitet  im Falle der Todesstrafe: von der Achtung vor dem Leben. Deren Anwendung will sich in der komplexen historischen Realität menschlicher Gesellschaften immer genauer ausdrücken. In diesem Prozess kann der soziokulturelle Kontext ein Anreiz für die Kirche sein, ihre Botschaft besser zum Ausdruck zu bringen.

Veränderung muss sich im konkreten kirchlichen Leben niederschlagen

Kardinal John Henry Newman (1801 bis 1890)  hatte diese Entwicklung bereits gut beschrieben in der Formulierung theologischer Ideen, die nicht in einem zeitlosen Ausdruck fixiert sind, zum grossen Missfallen der Anhänger einer «Kirche für immer».

«Aber eigentlich ist diese Veränderung einer Zeile im katholischen Katechismus nur dann wichtig, wenn sie das konkrete Leben der kirchlichen Gemeinschaft widerspiegelt und das, was für sie hier und jetzt wirklich zählt: mit Christus auf den steinigen Wegen der Welt voranzukommen und das Leben in Fülle zu leben, das er uns anbietet», so Collaud.

Das Verbot reicht nicht aus

Über die Todesstrafe hinaus sind die Christen der Achtung vor dem Leben verpflichtet. «Es ist leicht zu sagen, dass ich gegen Abtreibung, gegen Euthanasie oder jetzt gegen die Todesstrafe bin. Aber das macht Sie nicht zu einem ‘guten Christen’», warnt Thierry Collaud. «Wir müssen weiter gehen und uns fragen, wie wir diesen Respekt im Alltag fördern. Was tun wir, damit diese mittellose schwangere Frau, dieser Migrant, dieser ausgebeutete Angestellte oder dieser ältere Mensch, der nicht mehr allein sein kann, ein echtes Leben führt?»

Gesunde Herausforderung

Am Tag nach der Abstimmung des argentinischen Senats über das Abtreibungsverbot klingt die Rede des Kardinals von Buenos Aires wie eine gesunde Herausforderung. «Wir haben wenig getan, um Frauen, die sich in sehr schwierigen Situationen befinden, in denen ihnen die Abtreibung als schnelle Lösung für ihre tiefe Qual präsentiert wird, angemessen zu begleiten», erkannte Mario Poli, Erzbischof von Buenos Aires. «Das ist eine ganz andere Sache, als sich damit zufrieden zu geben, ein Verbot zu bestätigen», so Thierry Collaud. (cath.ch/Übersetzung: rp, aktualisiert am 13.8.18)

 

Thierry Collaud, Ethikprofessor in Freiburg | © Pierre Pistoletti
12. August 2018 | 10:52
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