Simon Peng-Keller, Professor für Spiritual Care an der Universität Zürich
Schweiz

«Nahtoderfahrungen können vielgestaltig sein – bin gespannt, was ich erleben werde»

Filmemacherin Lila Ribi hat einen Film über ihre sterbende Grossmutter gemacht. Was braucht und wünscht die alte Frau? Oft seien die Wünsche schlicht, sagt Simon Peng-Keller. Der Professor für Spiritual Care hat den Film vorab gesehen – und diskutiert ihn morgen mit Natalie Fritz.

Eva Meienberg

Wie stellen Sie sich ganz persönlich das Sterben vor?

Simon Peng-Keller*: Als eine Verwesentlichung des gelebten Lebens und einen Übergang in eine andere Wirklichkeitsdimension. Ich gehe davon aus, dass ich im Prozess des Sterbens ähnliche Erfahrungen machen werde wie all jene, die von einer Nahtoderfahrung berichten. Nahtoderfahrungen können sehr vielgestaltig sein – ich bin gespannt, was ich selbst erleben werde.

Was spricht Sie am Film «(Im)mortels» an?

Peng-Keller: Ich finde es überzeugend, wie die Regisseurin ihre Grossmutter zwölf Jahre lang begleitet und die verschiedenen Phasen des Abschieds- und Übergangs dokumentiert hat. Der Film lässt mir als Zuschauer Zeit, regt mich zum Denken an und spricht mich auch auf der emotionalen Ebene an. Besonders spannend finde ich, dass die Regisseurin im Film zugleich als Enkelin und spirituelle Sucherin, aber auch als professionelle Filmemacherin involviert ist. Das ist kein einfaches Unterfangen, doch ist es ihr meines Erachtens sehr gut gelungen.

«Auch Angehörige und Freunde können Sterbende in spiritueller Hinsicht unterstützen.»

Können wir uns Gespräche, wie sie in «(Im)mortels» stattfinden, als Spiritual-Care-Alltag vorstellen?

Peng-Keller: Wenn Sie mit «Spiritual-Care-Alltag» professionelle Formen von Spiritual Care ansprechen, so gibt der Film dazu nur einen beschränkten Einblick, etwa im Gespräch des Palliativpsychologen. Der Fokus des Films liegt eher auf informellen Formen von Spiritual Care, die ebenso wichtig sind wie die professionellen Formen. Auch Angehörige und Freunde können Sterbende in spiritueller Hinsicht unterstützen, so wie es die Regisseurin letztlich ja selbst in der Begleitung ihrer Grossmutter tut.

Was ist Spiritual Care genau?

Peng-Keller: Ganz allgemein versteht man darunter die Integration der spirituellen Dimension des Menschen in die Gesundheitsversorgung. Das passiert auf vielfältige Weise. In meiner Forschung konzentriere ich mich aber vor allem auf die professionellen Akteure der Gesundheitsversorgung, etwa Seelsorgende, Psychologen, Ärztinnen oder Pflegende. Es gibt aber auch nicht-professionelle Spiritual Care. Etwa dann, wenn die Freundin einer Patientin sich um deren spirituelle Bedürfnisse kümmert.

Lila Ribi massiert ihrer Grossmutter die Beine
Lila Ribi massiert ihrer Grossmutter die Beine

Dann macht also das ganze medizinische Personal Spiritual Care?

Peng-Keller: Alle Menschen, die an der Behandlung und Pflege eines Patienten beteiligt sind, sollten sich an einer interprofessionellen Spiritual Care beteiligen. Diese Forderung findet nicht bei allen Gesundheitsfachpersonen gleichermassen Gehör. Für Ärztinnen und Ärzte ist Spiritual Care bislang nicht Teil ihrer Ausbildung. Inzwischen ist sie ansatzweise in den Lernzielen fürs Medizinstudium in der Schweiz verankert. Es ist aber wichtig, dass sich alle Gesundheitsfachpersonen für die spirituellen Bedürfnisse ihrer Patientinnen und Patienten öffnen. Denn die Bedürfnisse beeinflussen sowohl die Behandlungen als auch den Umgang der Patientinnen und Patienten mit ihrer Krankheit.

Wo verorten Sie die Spitalseelsorge?

Peng-Keller: Die Seelsorge ist eine spezialisierte Form von Spiritual Care. In der Schweiz sind die Seelsorgenden in den Spitälern speziell ausgebildet und wollen mit den Gesundheitsfachpersonen zusammenarbeiten.

Was tun Menschen, die Spiritual Care praktizieren?

Peng-Keller: Es ist wichtig, dass Spiritual Care bei den Bedürfnissen der Patientinnen und Angehörigen ansetzt. Darum ist Spiritual Care zunächst eine Wahrnehmungspraxis. Studien zeigen, dass von der Religionszugehörigkeit oder der Konfessionslosigkeit einer Person sich nicht ableiten lässt, ob jemand spirituelle Bedürfnisse hat. Es bedarf einer sensiblen Nachfrage und Abklärung, was jemand braucht.

Greti Aebi hört nicht mehr gut
Greti Aebi hört nicht mehr gut

Wie ist das Vorgehen?

Peng-Keller: Wenn jemand Spiritual Care wünscht, gilt es zu klären, wer dafür die geeignete Person ist und welche Schritte nötig sind. Manchmal geht es darum, gemeinsam ein Abschiedsritual zu gestalten. Manche Menschen wünschen sich Gespräche. Oft sind es schlichte Wünsche, etwa ein bestimmtes Buch oder einen Besuch zu organisieren.

Wie geht Spiritual Care, wenn die betroffene Person nicht mehr sprechen kann?

Peng-Keller: Mittels Ja- und Nein-Fragen versucht man, die spirituellen Bedürfnisse festzustellen. Wenn auch die averbale Kommunikation nicht mehr möglich ist, versucht man mit Hilfe der Angehörigen und mit Blick auf die Biografie herauszufinden, welches die Bedürfnisse sein könnten.

Wird Spiritual Care ausschliesslich bei Sterbenden angewendet?

Peng-Keller: Nein, doch in der Schweiz hat sich Spiritual Care am stärksten in der Palliative Care institutionalisiert. Dort ist das Bewusstsein am grössten, dass Spiritual Care wichtig ist. International ist dieses Bewusstsein auch in anderen Bereichen der Medizin vorhanden. Grundsätzlich kann Spiritual Care überall dort wichtig werden, wo Menschen mit schweren Beeinträchtigungen umgehen müssen. In einem Forschungsprojekt zu chronischen Schmerzerkrankungen haben es die meisten Patienten begrüsst, wenn spirituelle Aspekte in ihrer Schmerztherapie berücksichtigt wurden.

«Spiritual Care sollte religiöse und nicht-religiöse Menschen gleichermassen unterstützen.»

Was hat Spiritual Care mit Religion zu tun?

Peng-Keller: Bei vielen Patientinnen und Patienten sind spirituelle Bedürfnisse mit religiösen Praktiken und Überzeugungen verbunden. Allerdings gibt es eine wachsende Anzahl an Menschen, die Spiritualität nicht in einem religiösen Rahmen verstehen. Spiritual Care sollte religiöse und nicht-religiöse Menschen gleichermassen unterstützen.

Hat Spiritual Care auch Auswirkungen auf das medizinische Personal?

Peng-Keller: Ja, Gesundheitsfachpersonen erfahren ihre Arbeit in der Regel als erfüllender, wenn sie den ganzen Menschen im Blick haben. Bei vielen Pflegefachpersonen stand am Anfang ihres Berufsweges der Wunsch, die Patientinnen und Patienten in ihrer Ganzheit unterstützen zu können. Im Berufsalltag blieb dann aber oft keine Zeit dafür. Spiritual Care mache ihren Beruf interessanter, sagen viele Pflegefachpersonen.

Lila Ribi hält ihrer Grossmutter die frisch lackierte Hand
Lila Ribi hält ihrer Grossmutter die frisch lackierte Hand

Wie beeinflussen Jenseits-Vorstellungen die Spiritual Care?

Peng-Keller: Das ist sehr unterschiedlich. Nicht alle Menschen machen sich ein Bild vom Jenseits. Einige tragen klare Bilder in sich, die sie oft auch mitteilen möchten. Bei einigen haben solche Bilder nie eine Rolle gespielt und werden am Lebensende plötzlich wichtig.

Wie sollen Pflegende und Seelsorgende auf bedrohliche Vorstellungen reagieren, etwa von einem strafenden Gott?

Peng-Keller: Es empfiehlt sich, zu erfragen, woher diese Bilder kommen könnten. Menschen entwickeln sich in verschiedenen Lebensbereichen unterschiedlich. Die religiöse Entwicklung bleibt bei vielen Menschen im Jugendalter stehen. Danach setzen sich viele nicht mehr aktiv mit ihrem Gottesbild auseinander, was nicht bedeutet, dass dieses nicht weiterhin im Hintergrund wirksam ist. Die kindliche religiöse Prägung hat sich dann nicht zu einer reflektierten und erwachsenen Form des Glaubens weiterentwickelt.

Was ist dann zu tun?

Peng-Keller: Es geht zunächst einmal darum mit Wertschätzung wahrzunehmen, was Menschen glauben, auch wenn vielleicht widersprüchliche und befremdliche Vorstellungen damit verbunden sind. Als Seelsorger kann ich Klärungsprozesse begleiten. Ich kann auch darauf hinweisen, dass die theologischen und kirchlichen Sichtweisen sich in den vergangenen Jahrzehnten stark gewandelt haben und die biblischen Texte einen barmherzigen Gott zeichnen.

Können Menschen eine lebenslange Prägung am Ende des Lebens abwerfen?

Peng-Keller: Abwerfen vielleicht nicht, doch relativieren. Am Ende des Lebens sind erstaunliche innere Prozesse möglich. Viele Menschen ringen damit, innere Widersprüche aufzulösen und zu einem inneren Frieden zu gelangen. Dazu kommt, dass viele Menschen in den letzten Wochen, Stunden oder Minuten des Lebens intensive spirituelle Erfahrungen machen.

Greti Aebi schliesst die Augen vor ihrem Spiegelbild
Greti Aebi schliesst die Augen vor ihrem Spiegelbild

Erfahrungen welcher Art?

Peng-Keller: Viele Sterbende erzählen, dass sie in Träumen oder in Wachvisionen ihren Angehörigen begegnen. Meistens sind das tröstliche Erfahrungen, die mit der Vorstellung verbunden sind, bald mit nahestehenden Menschen wiedervereinigt zu werden.

Ist es aus Sicht der Spiritual Care wünschenswert, solche Erfahrungen und Prozesse zu ermöglichen?

Peng-Keller: Solche Erfahrungen und Prozesse stellen sich von alleine ein, die Aufgabe von Spiritual Care ist es, sie zu begleiten.

Greti Aebi mit einem Feldstecher in ihrem Zimmer im Altersheim
Greti Aebi mit einem Feldstecher in ihrem Zimmer im Altersheim

Wie sollte man mit Vorstellungen von Begegnungen mit Angehörigen im Jenseits umgehen?

Peng-Keller: Eine Begleitperson sollte respektvoll mit den Selbstdeutungen der Sterbenden umgehen. Denn für die meisten sind diese Begegnungen wichtig und tröstlich. Eine Deutung braucht es nicht.

Wie können diese Erfahrungen der Sterbenden aus christlicher Sicht interpretiert werden?

Peng-Keller: Das Christentum hat eine besondere Affinität zu solchen Erfahrungen. Denn solche Erfahrungen stehen am Anfang des Christentums. Die Ostererfahrungen der ersten Christen haben eine grosse Nähe zu den visionären Begegnungen mit Verstorbenen, wie sie Sterbenden und Trauernden zuteilwerden. Sie haben erfahren, dass Beziehungen über den Tod hinaus bestehen bleiben können. Der christliche Glaube sieht in diesen Erfahrungen mehr als lediglich tröstliche Träume, sondern einen Hinweis darauf, dass Gott Menschen aus dem Tod ins Leben ruft.

* Der römisch-katholische Theologe Simon Peng-Keller ist Professor für Spiritual Care an der Universität Zürich. Er diskutiert morgen mit kath.ch-Redaktorin Natalie Fritz über den Film «(Im)mortels». Mehr dazu hier.


Simon Peng-Keller, Professor für Spiritual Care an der Universität Zürich | © Frank Brüderli
4. April 2022 | 14:18
Lesezeit: ca. 5 Min.
Teilen Sie diesen Artikel!