„Wandelnde Kirchenfenster“: Die rund 250 beleuchteten Iffelen können bis zu 2,5 Meter hoch sein.
Schweiz

Monotone Klänge und Laternen in der Stille

Küssnacht am Rigi feiert den Nikolaustag jedes Jahr mit einem besonderen Spektakel aus Klang und Licht: Das Klausjagen am Vorabend fasziniert zugleich mit Anleihen an eine vermeintliche mystische Vorzeit und mit der christlichen Trostsymbolik des Lichts in der dunklen Jahreszeit. Für das Dorf mit 9’200 Einwohnern ist der 5. Dezember angeblich der wichtigste Tag im Jahr.   

Boris Burkhardt

Es ist dieser tiefe monotone chronische Klang, der offensichtlich die ursprünglichsten menschlichen Empfindungen anspricht und aus Lärm etwas macht, was Körper und Geist mit Wohligkeit umhüllt: Beim Klausjagen in Küssnacht am Rigi erzeugen diesen Klang jeden 5. Dezember über 1000 Treicheln, die von Männern in weissen Hirtenhemden durch die nächtlich verdunkelten Strassen des Dorfes getragen werden.

200 Kuhhörner

Ergänzt werden sie von rund 200 Kuhhörnern, dem ursprünglichsten Blasinstrument überhaupt. Mittendrin im heidnischen Getöne der Volksheilige schlechthin, Bischof Nikolaus von Myra, volkstümlich bekannt als Samichlaus.  

Der Namensgeber des Brauchtums: Der Samichlaus nimmt mit mehreren Schmutzli am Umzug teil.
Der Namensgeber des Brauchtums: Der Samichlaus nimmt mit mehreren Schmutzli am Umzug teil.

Es ist vermutlich diese Mischung, die beim Klausjagen unter die Haut geht, diese Mischung aus den Anklängen an eine mythische Vorzeit in der dunklen Jahreszeit einerseits und an die christliche Symbolik des Lichts andererseits, das nicht nur Sankt Nikolaus als Namenspatron dieses Brauchs umgibt, sondern sich konkret manifestiert in rund 250 Iffelen, deren Träger vor der Musik in fast gespenstischer Stille tänzelnd durch die Strassen ziehen und vor Bekannten in die Knie gehen.

Bis zu 2,5 Meter hohe Laternen

Iffelen sind bis zu 2,5 Meter hohe Laternen aus Pappe und Seidenpapier, die auf dem Kopf getragen werden und einerseits wie eine Bischofsmitra geformt, andererseits wie Kirchenfenster gestaltet sind und von echten Kerzen erhellt werden. Der Name geht auf das lateinische Wort Inful zurück, das ursprünglich die Quaste der Mitra, später stellvertretend die ganze Kopfbedeckung bezeichnete.

Imposante Lichterkulisse: Gruppenbild mit Samichlaus, Schmutzli, Iffelenträgern und Fackelträgern.
Imposante Lichterkulisse: Gruppenbild mit Samichlaus, Schmutzli, Iffelenträgern und Fackelträgern.

Küssnacht an der Nordostspitze des Vierwaldstättersees ist nicht der einzige Ort in der Innerschweiz, der den Brauch des Klausjagens kennt. Laut den Veranstaltern, der St. Niklausengesellschaft, ist es aber der bekannteste und weitaus grösste mit über 1500 Teilnehmern und bis zu 30’000 Zuschauern. Länger als 300 Jahre lässt sich der Brauch in Küssnacht mangels schriftlicher Quellen allerdings nicht mehr mit Sicherheit zurückverfolgen.

Kein vorchristlicher «Urbrauch»

Ein tatsächlicher vorchristlicher «Urbrauch», der dem Klausjagen zugrundeliegen könnte, gilt heute dennoch als sehr unwahrscheinlich. Die heidnischen Ahnen, die mit Lärm Winterdämonen vertreiben wollten, müssen im Alpenraum im Winterhalbjahr von Nikolaus über die Fasnacht bis Ostern allzu oft als volkstümliche Erklärung herhalten.

Vielmehr gehen die Ethnologen mittlerweile davon aus, dass die Wurzel im frühmittelalterlichen Brauch nordfranzösischer Internate liegt, dass am Nikolaustag ein Schüler Bischof spielen durfte. Ähnliche Bräuche gab es am Martinstag und am Tag der Unschuldigen Kindlein, dem 28. Dezember.

Wildes Treiben der Dorfjugend

Das wilde Treiben der Dorfjugend wuchs in seinen Ausmassen: In Gruppen zogen die Burschen pöbelnd und lärmend durch die Strassen, gingen die Bewohner um Essen und Alkohol an und prügelten sich untereinander, wenn sie sich begegneten.

Schaurig schön: Der „Musik“ mit Blechbläsern folgen rund 1100 Treichelträger mit ihrem irdenen Gleichklang.
Schaurig schön: Der „Musik“ mit Blechbläsern folgen rund 1100 Treichelträger mit ihrem irdenen Gleichklang.

Bis zur Gründung der St. Niklausengesellschaft 1928 war das Klausjagen den weltlichen und kirchlichen Behörden jedenfalls ein Greuel und immer wieder Anlass zu Beschwerden und manchem Küssnachter Grund zur Scham.

Das änderte sich danach radikal. Angeblich gibt es heute im Ort keinen wichtigeren Tag im Jahr als den 5. Dezember – fällt er auf einen Samstag oder Sonntag, findet das Klausjagen ausnahmsweise am Freitag davor statt. Nicht nur das ganze Dorf ist von früh morgens bis zum folgenden Morgengrauen auf den Beinen – die Zuschauer zieht es jedes Jahr von weit her an das einzigartige Licht- und Klangspektakel.

Tradition des Grossvaters

Für die Brüder Mischa (19) und Lenny (14) Felder ist es beispielsweise eine Ehrensache, die Tradition des Grossvaters fortzusetzen. Dabei sind sie gar keine Küssnachter, sondern wohnen im zwölf Kilometer entfernten Ebikon.

„Geisselchlepfe“ auf dem Hauptplatz
„Geisselchlepfe“ auf dem Hauptplatz

Die beiden tragen heuer eine Iffele; Mischa war aber in anderen Jahren auch schon mit der Treichel unterwegs. Er nahm zum ersten Mal am Umzug teil, als er sechs Jahre alt war; sein Bruder Lenny begann mit sieben Jahren, wie sie im Gespräch nach dem Umzug berichten. Mischas Iffele ist rund 1,60 Meter hoch und wiegt zehn Kilo. Insgesamt zwei Stunden trägt er sie auf dem Kopf: «Das spüre ich im Nacken.»

Verstehen die Gleichaltrigen in Ebikon, was die Brüder da machen? «Ich mache es gerne; mir ist es egal, was andere darüber denken», sagt Mischa. Und Lenny versichert als Teenager: «Das Klausjagen ist etwas Cooles.»

Vom Saxophon bis zur Posaune

Seit ihrer Gründung hat die St. Niklausengesellschaft das Brauchtum in Küssnacht gefestigt: Neben den Iffelen, den Treicheln und Hörnern gehören seither unabdingbar dazu die Blechbläser vom Saxophon über die Posaune bis zum Sousaphon, einfach «Musik» genannt, die einen ebenfalls ständig wiederholten Dreiklang intonieren, sowie die Peitschenknaller, die ihre Kunst schon vor dem Umzug auf dem Hauptplatz zeigen.

Die Peitschen werden nach ihrer Fertigungsart in Schafsgeisseln und Fuhrmannsgeisseln (»Chrützlistreich») unterteilt. Kurse fürs Knallen bietet die St. Niklausengesellschaft ab Anfang November an. Im April und Mai 2024 wird sogar erstmals ein Kurs zur Fertigung der Treicheln stattfinden.

Lichterspektakel
Lichterspektakel

Bezeichnenderweise dürfen nur Männer Mitglieder der St. Niklausengesellschaft werden und damit am Umzug teilnehmen. Laut Präsident Pascal Knüsel gibt es durchaus vereinzelte Küssnachterinnen, die gerne mitmachen würden. Im Allgemeinen werde das Klausjagen im Dorf aber als reine Männerangelegenheit akzeptiert. Dennoch gibt es immer wieder an der Generalversammlung Versuche, dies zu ändern: Zuletzt wurde 2019 ein Antrag mehrheitlich abgelehnt.  


«Wandelnde Kirchenfenster»: Die rund 250 beleuchteten Iffelen können bis zu 2,5 Meter hoch sein. | © Alexander Dietz, Merlischachen
6. Dezember 2023 | 12:00
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