Der Basler Psychiater Werner Tschan
Schweiz

«Missbrauchsopfer möchten Zeugnis ablegen»

Basel, 17.8.17 (kath.ch) Am Donnerstag ist das Buch des Freiburger Missbrauchsopfers Daniel Pittet beim Herder Verlag auf Deutsch erschienen. Was wollen Opfer von sexuellem Übergriffen, wenn sie ein Buch über ihre Missbrauchsgeschichte schreiben? Ist das heilsam für sie? Und was bringt es der Gesellschaft? kath.ch hat beim Basler Psychotraumathologen Werner Tschan (64) nachgefragt.

Barbara Ludwig

Mit Daniel Pittet und Markus Zangger haben dieses Jahr kurz nacheinander zwei Missbrauchsopfer ein Buch über ihre Erfahrungen veröffentlicht. Gibt es einen Trend, dass Opfer von sexuellem Missbrauch ihre Erfahrungen in Büchern beschreiben?

Werner Tschan: Es ist ein Phänomen, das man über die letzten drei bis vier Jahrzehnte zurückverfolgen kann. Immer wieder gab es Opfer, die versuchten, ihre Situation in Büchern darzustellen. Meines Erachtens gibt es heute nicht mehr Personen, die das tun. Ich würde deshalb nicht von einem Trend sprechen, aber von einer Entwicklung.

Das Schweigen hat ganz viel mit Scham zu tun.

Die Entwicklung wurde vorgezeichnet, weil Opferverbände seit langem dafür kämpfen, dass die Opfer Gehör bekommen und die Diskussion über das Thema «Missbrauch» nicht nur von Fachleuten bestritten wird. Opfer sollen sich einbringen können. Im Bereich der Kirche gibt es Netzwerke, die versuchen, sich im Internet Gehör zu verschaffen und Einfluss zu nehmen.

Es ist bekannt, dass Missbrauchsopfer zunächst einmal schweigen, jahre- oder jahrzehntelang. Können Sie sich vorstellen, warum einzelne Opfer ihre schlimmen Erfahrungen plötzlich publik machen wollen?

Tschan: Das kommt nicht plötzlich. Eine US-amerikanische Studie hat gezeigt, dass mehr als 50 Prozent der Opfer mehr als 20 Jahre brauchen, bis sie auch nur irgendjemandem von den Vorfällen erzählen. Das Schweigen hat ganz viel mit Scham zu tun. Aber auch mit der Angst, dass man ihnen nicht glauben wird. Wenn die Bereitschaft da ist, etwa bei der Polizei, auf Opferaussagen einzugehen, reden die Opfer eher darüber. Wenn sie spüren, dass sie ernst genommen werden, beginnen sie zu sprechen.

Aber das muss ja noch nicht heissen, dass sie ihre Erfahrungen öffentlich machen wollen. Opfer könnten sich damit begnügen, ihre Geschichte einem Therapeuten zu erzählen.

Tschan: Das stimmt. Aber viele Opfer möchten auch Zeugnis ablegen von dem, was passiert ist. Und sie möchten, dass mehr Menschen wissen, was da läuft. Viele haben den Wunsch, anderen zu helfen, andere zu schützen, damit ihnen nicht das Gleiche passiert. Das ist nur möglich, wenn sie mit ihrer Geschichte hinausgehen.

Opfer möchten, dass mehr Menschen wissen, was da läuft.

Dann gibt es noch einen anderen Aspekt. Hinstehen und sagen: «Mir wurde Unrecht angetan», ist eine wichtige Etappe im Heilungsprozess. Dass Opfer ihre Scham überwinden und öffentlich sagen können, es brauche andere Strukturen, ist ein therapeutisch erwünschter Prozess.

Dann geht das also über die individuelle Aufarbeitung in einer Therapie hinaus?

Tschan: Ja. Wir reden heute mit Blick auf das Täterverhalten von einer Opfer-Täter-Institutionsdynamik. Täter nutzen die Institutionen und ihre Strukturen aus. Und Opfer möchten das thematisieren. Sie wollen zum Beispiel sagen: «Innerhalb der Kirche gibt es Übergriffe. Ob ihr das glauben wollt oder nicht, es ist so, schon lange. Und ihr müsst etwas machen. Ihr müsst achtsam werden. Ihr müsst überprüfen, was die Priester machen.» Das ist der Appell der Opfer.

Schreiben Opfer über ihr Schicksal ein Buch, ist das Teil dieses Prozesses. Sie möchten Zeugnis ablegen. Sie möchten Ungerechtigkeit benennen. Sie möchten gehört werden.

Sie sagten, der Gang an die Öffentlichkeit sei therapeutisch erwünscht. Worin besteht das Heilsame, wenn ein Missbrauchsopfer ein Buch veröffentlicht?

Tschan: Es ist heilsam, wenn die Opfer auf Gehör stossen, wenn sie in ihrer Situation wahrgenommen werden, wenn die Publikation etwas bewirkt. Etwa wenn die Verantwortlichen erschrecken und finden: «Wir müssen etwas unternehmen!»

Der Kontrollverlust kann für die Opfer schlimm sein.

Die Publikation bewirkt oft auch einen Medienrummel. Tut der den Opfern gut?

Tschan: Wenn man an die Medien geht, gibt man die Kontrolle ab. Die Medien haben eine eigene Dynamik, die lässt sich nicht steuern. Der Kontrollverlust kann für die Opfer schlimm sein. Sie müssen wissen: Ein Buch geschrieben zu haben, heisst nicht, dass jetzt alles vorbei ist. Vielleicht geht es erst richtig los. Es ist möglich, dass sie angegriffen werden, dass Dreck über sie gegossen wird. Die Opfer müssen auch wissen, wie sie mit dem Druck umgehen, wenn ein Journalist nach dem anderen für ein Interview anklopft.

Heisst das, Sie würden ein Opfer, das ein Buch publizieren will, zur Vorsicht mahnen?

Tschan: Unbedingt. Es braucht Boden, damit ein solcher Schritt möglich ist. Es kann nicht das Ziel sein, mit der Veröffentlichung die Therapie abzukürzen. Sinnvoll ist zudem, wenn Opfer Unterstützung bekommen. Es stellen sich auch rechtliche Fragen. Wer in der Öffentlichkeit jemanden anschuldigt, muss damit rechnen, dass man ihn wegen Rufschädigung einklagt.

Jetzt auch auf Deutsch: Das Buch von Daniel Pittet | © Sylvia Stam

Welche Rolle spielen die Opferbücher für die Gesellschaft?

Tschan: Sie sind Augenöffner. Die Beschreibung der Einzelschicksale zeigt, was ein Übergriff bedeutet und welche Folgen er hat. Das trägt zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit bei. Parallel dazu kommt immer auch auf der fachlichen Ebene etwas ins Rollen. In der katholischen Kirche etwa hat das Thema «Missbrauch» irgendwann die Fachleute auf den Plan gerufen. Es gab Diskussionen, die teilweise publik wurden. Das sind Prozesse, sie sich ergänzen.

Opferbücher sind Augenöffner.

Letztlich geht es um das Wahrnehmen. Und zwar das Wahrnehmen eines Tatbestandes, mit dem man Mühe hat. Die Vorstellung, dass ein Priester Kinder missbraucht und dass er das in der Sakristei oder im Pfingstlager macht, ist etwa gleich schlimm, wie wenn ein Lehrer in der Schule Übergriffe begeht.

Bücher von Opfern können mithelfen das Bewusstsein dafür zu schaffen, dass Übergriffe immer noch und überall vorkommen. Es liegt dann an den Entscheidungsträgern, die Strukturen zu ändern. 

Papst Franziskus hat das Vorwort zum Buch von Pittet geschrieben. Wie beurteilen Sie das?

Tschan: Als sehr gut.

Warum?

Tschan: Der oberste Verantwortungsträger der jeweiligen Organisation muss Stellung beziehen und vor allem die Sache in die Hand nehmen. Als Oberhaupt der katholischen Kirche verfügt der Papst über Autorität, er hat eine Stimme. Ich finde es mehr als gut, dass er das Vorwort geschrieben hat. Auch wenn er die Kirche nicht alleine steuern kann: Gegen aussen ist er die Stimme, welche die Haltung der Kirche zum Ausdruck bringt.

Die Stimme des Papstes bringt die Haltung der Kirche zum Ausdruck.

Die Kirche ist vielleicht die Organisation, die in den letzten fünfzig Jahren am meisten in Verruf geriet.

Zu Recht?

Tschan: Nein! Bei anderen Organisationen brauchte es genauso viel Kritik und Auseinandersetzung. Die Kirche ist einfach am meisten in den Fokus geraten bei dem Thema.

Was könnte dafür der Grund sein?

Tschan: Die Kirche will sich für das Wohl der Menschen einsetzen. Gleichzeitig passieren Übergriffe. Dadurch verliert sie jede Glaubwürdigkeit. Vor allem, wenn sie dann nichts unternimmt. Und dies musste man zuerst merken. Merken, dass sie die Täter einfach in eine andere Diözese schickte, wenn Anschuldigungen kamen. Hier war die Stimme der Opfer wichtig: Die sagten, was los ist.

Ich habe den Eindruck, als habe die Kirche die Wahrheit bekämpfen wollen. Das ist bekanntlich ein Kampf, den man nie gewinnen kann. Meines Erachtens ist Franziskus der erste Papst, der aus Überzeugung gegen Missbrauch vorgeht, und nicht nur, weil irgendwelche Berater ihm das nahelegen.

Bei der Publikation des französischsprachigen Originals spielte auch die katholische Kirche Schweiz eine Rolle. So übernahm die Bischofskonferenz im Februar zusammen mit den Kapuzinern die Kommunikation über das neue Buch. Wie kommt dieses Setting bei Ihnen an?

Tschan: Das ist in Ordnung. Es zeigt, dass die Kirche sich erneuert oder eine neue Sichtweise entwickeln konnte. Das ist legitim. Die Kirche darf ruhig auch ein bisschen PR in eigener Sache machen.

Man könnte ihr vorwerfen, sie wolle sich damit reinwaschen.

Tschan: Kritik und negative Sichtweisen kommen immer. Das kann man nicht verhindern.

Vielleicht will die Kirche einfach wieder gut dastehen.

Tschan: So naiv schätze ich den Papst nicht ein. Er hat meines Erachtens eingesehen, dass es substantielle Massnahmen braucht. Er hat zum Beispiel festgestellt, dass die Kirche nicht in eigener Regie Abklärungen machen kann, wenn es um den Vorwurf sexueller Übergriffe geht, sondern dass die Ermittlungen von staatlichen Behörden geführt werden müssen.

Franziskus ist der erste Papst, der aus Überzeugung gegen Missbrauch vorgeht.

Das ist ein wichtiger Schritt. Darin zeigt sich, dass er der Meinung ist, man komme mit der bisherigen Vertuschungspolitik nicht weiter. Auch Klaus Mertes (Mertes machte Anfang 2010 als Rektor Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg publik und brachte damit eine Welle weiterer Enthüllungen in der deutschen Kirche ins Rollen, d. Red.) sagte deutlich, Machtmissbrauch in den eigenen Reihen könne man nicht selber aufklären.

Der Basler Psychiater Werner Tschan | © Barbara Ludwig
17. August 2017 | 08:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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Kirchliche Institutionen sind Stammkunden bei Werner Tschan

Der Basler Psychiater Werner Tschan (64) führt seit 1990 eine eigene Praxis. Seit den 1990er Jahren behandelt der Facharzt Opfer von sexuellem Missbrauch. Tschan hat eine Ausbildung in Psychotraumatologie und in der Behandlung von Sexualdelinquenten absolviert. Er hat sich schwerpunkmässig mit der Thematik «Fachliches Fehlverhalten und Übergriffe durch Fachleute» befasst, im Gesundheitswesen, in Schulen, im Sport und auch bei den Kirchen.

Tschan berät auch Institutionen. Kirchliche Institutionen im deutschsprachigen Raum gehörten zu seiner Stammkundschaft, sagte er gegenüber kath.ch. Er hat nach eigenen Angaben Bistümer, Landeskirchen, aber auch Ordensgemeinschaften beraten.

Literatur:

Karl H. Richstein, Werner Tschan: Weiterbildung zur Prävention sexualisierter Gewalt. Das Modellprojekt des Erzbistums Freiburg im Breisgau. Weinheim, Beltz Verlag, 2017.