Thomas Boutellier
Schweiz

Missbrauchskrise: «Die Kirche in der Schweiz wird dem Null-Toleranz-Prinzip nicht gerecht»

Heute wird das Münchner Missbrauchsgutachten vorgestellt. Auch in der Schweiz gibt es im Bereich Aufarbeitung und Prävention viel zu tun, sagt Thomas Boutellier (42): «Nach wie vor gibt es Übergriffe.»

Raphael Rauch

Finden in der katholischen Kirche nach wie vor Übergriffe statt?

Thomas Boutellier*: Leider ja. Übergriffe kommen überall in der Gesellschaft vor: in Familien, in Vereinen – und nach wie vor auch in der katholischen Kirche. Missbrauch hat viel mit Macht zu tun: Ein Täter kann sich viel erlauben, das Opfer schämt sich und hat Angst, dass ihm nicht geglaubt wird. Das ist eine toxische Mischung. Und erfahrungsgemäss dringt nur die Spitze des Eisbergs an die Öffentlichkeit.

«Ohne den Druck der Medien wäre der Priester heute als gewählter Pfarrer im Amt.»

Die katholische Kirche spricht von einem Null-Toleranz-Prinzip. Hält sie das in der Schweiz ein?

Boutellier: In der Praxis? Nein. Es hat sich Vieles gebessert, aber nach wie vor braucht es Druck von aussen. 2019 dachte ein Priester im Bistum Basel, er kommt mit der Geschichte durch, dass er einen Jungen nur am Fuss massiert habe – obwohl es Hinweise gab, dass mehr vorgefallen war. Ohne den Druck der Medien wäre der Priester heute als gewählter Pfarrer im Amt. 

Sexueller Übergriff.
Sexueller Übergriff.

Wer hat hier versagt?

Boutellier: Das duale System mit beiden Seiten. Das Bistum hätte klarer Position beziehen können, den Priester in die Verantwortung nehmen. Das hat es nicht gemacht, weil es aus Sicht des Bistums ein Anstellungsproblem war. Und die Kirchgemeinde vor Ort wollte einen Pfarrer und hat dem Priester vertraut. Wenn wirklich «Null Toleranz» gilt, dann schiebt man sich nicht die Schuld gegenseitig zu. Dann handelt man. Und das wäre hier im Interesse von allen gewesen. Daraus hat man sicher gelernt – und trotzdem treten immer wieder im Kleinen wie im Grossen Missbrauchsfälle oder Vertuschungen zu Tage.

«Als Allheilmittel ist der Strafregisterauszug nicht zu sehen.» 

Wie wirksam ist es, einen Strafregisterauszug zu verlangen?

Boutellier: Im Fall des Fussmassage-Priesters ist ja alles wegen des Strafregisterauszuges aufgeflogen. Hätte das Bistum oder die Kirchgemeinde den vom Priester verlangt, wäre das Desaster 2019 nicht passiert. Es hilft also, sich den Strafregisterauszug oder den Sonderprivatauszug vor der Einstellung anzuschauen. Aber als Allheilmittel sind diese Auszüge nicht zu sehen. 

Warum nicht?

Boutellier: Nur die wenigsten Übergriffe werden zur Anzeige gebracht. Missbrauchsopfer melden sich oft erst Jahrzehnte später. Die Auszüge zeigen also nur einen Bruchteil der tatsächlichen Vorfälle. Und sie zeigen noch weniger, wenn Übergriffe unter Erwachsenen in einem Abhängigkeitsverhältnis stattfinden. 

«Der Sonderprivatauszug ist ein relativ neues Instrument.»

Was genau regelt der Sonderprivatauszug?

Boutellier: Im Sonderprivatauszug geht es um Urteile mit Berufsverbot im Umgang mit Minderjährigen. Aber auch der Sonderprivatauszug ist nicht perfekt: Er bildet laufende Verfahren nicht ab. Einträge können kalkuliert verzögert werden. Und der Sonderprivatauszug ist ein relativ neues Instrument. Es wird darum noch einige Zeit gehen, bis er greift. Als Präventionsmassnahme ist er nur bedingt geeignet. Da ist in anderen Bereichen viel mehr zu tun.

Thomas Boutellier, Verbandspräses der katholischen Pfadi Schweiz
Thomas Boutellier, Verbandspräses der katholischen Pfadi Schweiz

Legen Sie los…

Boutellier: Wir erleben immer mal wieder, dass Menschen angestellt werden, ohne dass die Referenzen eingeholt werden. Dabei ist das in der Privatwirtschaft selbstverständlich. Aber wegen des Personalmangels sind manche Kirchgemeinden froh, wenn sie qualifizierte Personen anstellen können. Meine Erfahrung ist: Am Telefon erfährt man mehr, als man denkt.

«Das Thema wird auf der to-do-Liste nach hinten geschoben.»

Was beobachten Sie sonst noch, was man einfach ändern könnte?

Boutellier: Es gibt pastorale Mitarbeitende mit oder ohne bischöflichen Auftrag, also mit oder ohne Missio. Die mit Missio sind verpflichtet, Kurse zu besuchen. Und die ohne Missio sollten vom Vorgesetzten sensibilisiert und geschult werden. Nun haben die Leitungspersonen von Präventionsarbeit fachlich oft wenig Ahnung, man lernt das schliesslich nicht im Studium – und auch sonst haben die ja viel zu tun. Und da man die Menschen, die miteinander arbeiten, ja kennt, wird das Thema auf der to-do-Liste nach hinten geschoben. Dabei gäbe es im Team Leute, die das in die Hand nehmen könnten – zum Beispiel die Sozialarbeiterin, die in ihrem Studium viel zu diesem Thema gelernt hat. Aber sie wird im Pastoralteam zu wenig wahrgenommen. 

Workshop am Quellentag der Junia-Initiative.
Workshop am Quellentag der Junia-Initiative.

Warum wird die Dringlichkeit von Präventionskursen nicht erkannt?

Boutellier: Bei Missbrauch denkt man gleich an Kinderschänder. Aber das Problemfeld ist ja so viel grösser. Bei der Prävention geht es ja darum, für das eigene Verhalten sensibilisiert zu werden, ohne dass man gleich kriminell wird. 

Zum Beispiel?

Boutellier: Es fängt bei Kleinigkeiten an. In der Lehrerausbildung haben wir gelernt: Man soll sich den sitzenden Schülerinnen und Schülern von vorne nähern, nicht von hinten – denn es geht hier um Macht, Nähe und Distanz. Meine Tochter hat einmal gesagt: «Der Lehrer kommt mir etwas nahe.» Wir haben die Situation zusammen genau besprochen und sie war einverstanden, den Lehrer selbst drauf anzusprechen – er war sich seines Verhaltens gar nicht bewusst. Wirksame Prävention bedeutet, das Gegenüber zu verstehen, Grenzen nicht zu überschreiten. Dafür braucht es immer wieder Reflexion und auch ein wenig Übung. Es hilft, eine Teamkultur zu haben, in der man sich gegenseitig Feedback geben und problematisches Verhalten sofort ansprechen kann. Und es hilft, vor allem nach aussen mit dieser Kultur transparent zu sein: damit verstanden wird, warum man körperliche Distanz einnimmt oder Türen offen lässt. 

«Die Studentin war zuerst irritiert.»

Wie leben Sie das?

Boutellier: Nach einer Vorlesung am RPI blieb eine Studentin zurück und hat mich noch was gefragt. Ich habe die Tür des Raumes geöffnet. So konnte jeder reinsehen. Die Studentin war zuerst irritiert, aber mit der Erklärung, dass ich nicht mit einer Studentin alleine in einem geschlossenen Raum sein kann, hat sie es verstanden.

«Es ist ein öffentlicher Raum, in den jederzeit jemand hineinkommen kann.»

Gerade in der Seelsorge möchte man bestimmte Anliegen aber nicht besprechen, wenn die Tür offen ist. Es geht ja um sehr persönliche Dinge. 

Boutellier: Und genau das schliesst sich nicht aus. Oft hilft es, sein eigenes Verhalten sehr transparent zu machen. Denken wir an Einzelgespräche, die für das Sakrament der Versöhnung oder die Firmung stattfinden. Idealerweise schafft man einen Rahmen, der vertraulich und trotzdem sehr transparent ist. Wir gehen für solche Gespräche in die Kirche, in den Altarraum. Es ist ein öffentlicher Raum, in den jederzeit jemand hineinkommen kann. Wir sind aber genug weit weg, dass man nicht hört, was vertraulich geredet wird. So wird klar, dass man, weil man nichts zu verbergen hat, jederzeit gesehen werden kann in der Arbeit. 

Beichtstühle in der Luzerner Jesuitenkirche.
Beichtstühle in der Luzerner Jesuitenkirche.

Heisst das: Die Kirche muss mit dem Generalverdacht leben?

Boutellier: Ja, das muss sie – solange sie nicht bereit ist, in allen Bereichen eine hohe Transparenz an den Tag zu legen. Und sie muss mutige Schritte nach vorne machen und Missstände auch bei sich selber benennen und nicht verschweigen. Nur so kommt man aus dem Generalverdacht raus. Viele sagen, so fördern wir den Generalverdacht, aber für mich ist das professionelle Präventionsarbeit. Denn es geht auch um den Schutz von mir als Seelsorger. Wenn ich zeigen kann, dass ich mich sauber verhalte, kommen keine Gerüchte auf und die Eltern können zu Recht ein Vertrauen aufbauen. 

«Die Verantwortlichen sind oft mit Verwaltungsfragen überlastet.»

Erreicht man mit Präventionsarbeit die Falschen? Also diejenigen, die das Problem erkannt haben, machen Kurse – und andere drücken sich?

Boutellier: Deswegen brauchen wir ein genaues Monitoring: Wer hat einen Kurs besucht? Wer hat wann die letzte Fortbildung besucht? Aber die Realität sieht so aus: Die Verantwortlichen sind oft mit Verwaltungsfragen überlastet. Sie können gar nicht konsequent genug alle dazu zwingen, einen Präventionskurs zu machen oder regelmässig zu wiederholen. 

«Viele Teilzeitangestellte fallen durchs Raster.»

Im Erzbistum Köln muss vom Sakristan bis zum Erzbischof jeder einen Präventionskurs durchlaufen. Ehrenamtliche müssen ein Führungszeugnis vorlegen. Wie sieht das in der Schweiz aus?

Boutellier: In der Theorie sind sich alle einig: Prävention ist wichtig und alle müssen sich damit auseinandersetzen. Aber die Praxis sieht anders aus. Viele Teilzeitangestellte fallen durchs Raster. Oder man geht davon aus, dass in der Ausbildung schon was gemacht wurde und weiss nicht, dass es nicht so ist. Auch bei Ehrenamtlichen muss Prävention ein Thema sein. Gehen Sie mal zu einem Ehrenamtlichen und sagen ihm: «Ich will deinen Strafregisterauszug haben!», wie man das bei den Angestellten sagt. Der Ehrenamtliche sagt: «Das geht dich gar nichts an!» Und auch zu Recht. 

Karin Iten und Stefan Loppacher
Karin Iten und Stefan Loppacher

Was fordern Sie?

Boutellier: Man muss die ganze Präventionsarbeit deutlich stärken – und zwar auf allen Ebenen. Es reicht nicht, zu sagen: Die Bischöfe sollen mehr machen. Auch die Landeskirchen und die Kirchgemeinden stehen in der Verantwortung. Es müssen nicht nur die Angestellten in den Fokus kommen, die mit Kindern arbeiten. Machtmissbrauch kann auf allen Ebenen und mit allen Altersstufen geschehen.

«Ich kenne viele kirchlichen Mitarbeitende, die nicht so viel Aus- und Weiterbildung in dem Thema haben.»

Sieht’s bei der Pfadi besser aus?

Boutellier: Auch wir haben ein Null-Toleranz-Prinzip. Werden Vorwürfe oder sogar Fälle bekannt, wird durchgegriffen und nicht abgewartet. Unsere Leitenden absolvieren als Ehrenamtliche in ihren Leitungskursen mindestens zehn Stunden im Bereich Missbrauchsprävention. Und es werden regelmässig auch in diesem Bereich Weiterbildungen angeboten. Ich kenne viele kirchlichen Mitarbeitende, die nicht so viel Aus- und Weiterbildung in dem Thema haben. 

Quo vadis, Pfadi?
Quo vadis, Pfadi?

Auch bei der Pfadi wird nicht alles gut laufen.

Boutellier: Wir sind uns bewusst: Es gab und gibt Übergriffe. Das können zwei Jugendliche sein, die miteinander knutschen und am nächsten Morgen hören Sie zwei verschiedene Geschichten: einvernehmlicher Sex oder Vergewaltigung? Auch bei der Pfadi kann es zu Übergriffen mit Macht- und Altersunterschieden kommen. Wir sind hier genauso ein Abbild der Gesellschaft. Aber wir tun alles, um problematische Situationen erst gar nicht entstehen zu lassen.

Pfadfinderinnen und Pfadfinder begegnen sich, Treffen 2016
Pfadfinderinnen und Pfadfinder begegnen sich, Treffen 2016

Was macht die Pfadi konkret?

Boutellier: Wir arbeiten daran, dass ungute Traditionen, die früher üblich waren, analysiert und abgeschafft werden. Und wir fördern in allen Altersstufen die Präventionsarbeit und die Feedback-Kultur. Und wir haben ein Krisensystem: rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr, bei dem Leitende jederzeit professionelle Hilfe holen können. So sind wir in der Lage, unsere Leitenden jederzeit und schnell zu unterstützen und die Fälle professionell zu bearbeiten.

«Den Mut haben bisher nur wenige Bischöfe gezeigt.»

Was kann die Kirche von den Jugendverbänden lernen?

Boutellier: Es reicht nicht, etwas zu machen. Man muss kontinuierlich dran bleiben und sich vor allem trauen, die heissen Eisen anzufassen. Es hilft nicht, um Vergebung zu bitten und im gleichen Atemzug Fürbitten zu schreiben, die vor den Medien warnen, wie das im Dezember im Bistum Trier geschehen ist. Als Kirche haben wir einen moralischen Anspruch. Warum lassen wir uns nicht daran messen? Warum machen wir nicht reinen Tisch mit echter Aufarbeitung und echten Konsequenzen? Den Mut haben bisher nur wenige Bischöfe gezeigt. 

* Thomas Boutellier (42) ist Verbandspräses im Verband Katholischer Pfadi und Leiter der kirchlichen Fachstelle Jugend in Solothurn. Im Ehrenamt ist er Krisenverantwortlicher der Pfadibewegung Schweiz. Er ist beruflich und im Ehrenamt im Bereich Missbrauchs-Prävention und Intervention tätig.


Thomas Boutellier | © zVg
20. Januar 2022 | 05:00
Lesezeit: ca. 7 Min.
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