Mein Leib fühlt deinen Schmerz: Der Körper im Christentum

Im Christentum ist der Körper der Ort der Erlösung, des Leidens und der Erinnerung. Die Theologin Elke Pahud de Mortanges findet, dieser Körper verweigere sich einer eindeutigen Geschlechterzuschreibung.

Natalie Fritz

«Das Wort ist nicht Buch, sondern Fleisch geworden», schreibt Elke Pahud de Mortanges im Vorwort von Bodies of Memory and Grace. Der Köper in den Erinnerungskulturen des Christentums.

So einleuchtend das im Hinblick auf die Eucharistie oder Fronleichnam klingen mag, so irritierend ist die Aussage. Für viele ist das Christentum nämlich eine Buchreligion. Spätestens seit der Reformation mit ihrem Grundsatz sola scriptura (allein die Schrift) ist die Bibel, das buchstäbliche Wort also, das verbindliche Speichermedium des christlichen Weltbildes. Nur durch das Lesen und Hören der Bibel erinnern wir uns an die Essenz des christlichen Glaubens. Wirklich?

«Gottes Wort über allem», 1576, John Foxe, Acts and Monuments © gemeinfrei
«Gottes Wort über allem», 1576, John Foxe, Acts and Monuments © gemeinfrei

Disziplinierte Körper

Ein Blick in die Geschichte des Christentums zeigt, dass zugunsten des Wortes und somit des Intellekts der Körper und die gesamte sinnliche Wahrnehmungs- und Erinnerungskultur zeitweilig in den Hintergrund rückten. Die religiösen Institutionen unterstellten den Körper faktisch dem Intellekt, disziplinierten und kategorisierten ihn durch Regeln und Normen: im Öffentlichen und im Privaten. Wie sich Mann und vor allem Frau zu kleiden hat, was sie wann essen sollen und welche Sexualität erlaubt ist – alles genau geregelt, für Laien und für Spezialisten!

Erinnern durch und mit dem Körper

Die Dogmatikerin Elke Pahud de Mortanges zeigt in ihrem neuen Buch Bodies of Memory and Grace, wie essenziell der Körper für die christliche Erinnerungskultur und den gelebten christlichen Glauben ist. Mit dem eingangs erwähnten Zitat bezieht sich die Theologin konkret auf das Neue Testament, wo die Menschwerdung Gottes oder eben die «Fleischwerdung» mehrfach erwähnt wird. Und zwar buchstäblich!

Christus am Kreuz, 1665, Mateo Cerezo, Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin
Christus am Kreuz, 1665, Mateo Cerezo, Gemäldegalerie der Staatlichen Museen zu Berlin

Die grundsätzlichen Stationen des Christentums sind laut Pahud de Mortanges Körperereignisse wie Fleischwerdung, Passion und Auferstehung. Der Körper ist also der zentrale Ort der Erinnerung. Und nicht nur der künstlerisch inszenierte Körper Jesu, sondern auch die Körper der Gläubigen.

«Gekreuzigt»: Madonna am Konzert der «Confessions»-Tour, 5. Juni 2006, Fresno (US)
«Gekreuzigt»: Madonna am Konzert der «Confessions»-Tour, 5. Juni 2006, Fresno (US)

Die Gläubigen verinnerlichen den Glauben mit unterschiedlichsten Körperpraktiken. Wenn die Pop-Sängerin Madonna – ein Beispiel, das Pahud de Mortanges nicht anführt – während des Konzerts am Kreuz stehend singt, dann verweist sie einerseits konkret auf die Passion Christi. Sie erinnert uns durch ihren Körper an Christi Leid. Andererseits eröffnet Madonna mit der Inszenierung eine Diskussion über Heil, Leiden, Kunst, Blasphemie und Geschlecht, wodurch sie die Erinnerung an Christi Passion aktualisiert und einem zeitgenössischen Publikum zugänglich macht.

Holy Anorexia oder Stigmata als bleibende, Kleidung als temporäre Körperpraktiken

Pahud de Mortanges nimmt ihre Leserschaft auf eine reich bebilderte Reise durch die unterschiedlichsten körperlichen Erinnerungspraktiken des Christentums. Dabei verknüpft sie elegant Vergangenes und Gegenwärtiges, Momentanes und Bleibendes sowie Öffentliches und Privates.

So erklärt die Autorin etwa, warum im Mittelalter die Nahrungsverweigerung bei gläubigen Frauen wie Klara von Assisi nicht nur pathologisch als holy anorexia, sondern als Zeichen der körperlichen Selbstermächtigung verstanden werden kann. Die fastenden Frauen benutzten ihren Körper, um Jesu Armutsgebot zu vergegenwärtigen. Mit dieser physischen Form der imitatio Christi, der Nachahmung Christi, entzogen die Frauen ihre Körper den Geschlechter-Reglementierungen. Ihre Körper waren nicht länger «weiblich», sondern repräsentierten Jesu Botschaft.

Heilige Klara und Heiliger Franziskus von Assisi – Fresko um 1520.
Heilige Klara und Heiliger Franziskus von Assisi – Fresko um 1520.

Pahud de Mortanges zeigt anschaulich auf, wie temporäre und permanente Körperpraktiken – etwa Kleidung, Tätowierungen oder Stigmata – auf die christliche Heilsbotschaft verweisen und wie sie überliefert werden. Nebst der gelebten Religiosität hebt Pahud de Mortanges die Rolle der Kunst und der Kunstschaffenden hervor, die für die Verbreitung und Überlieferung religiöser Inhalte bis heute zentral sind.

Viele Körper, ein Leib

Nebst individuellen Formen der körperlichen Vergegenwärtigung des christlichen Glaubens sind auch gemeinschaftliche Körperpraktiken relevant. Pahud de Mortanges fokussiert dabei die Prozessionskulturen als gemeinschaftlichen und öffentlichen Ort des Glaubensvollzugs. In der Gemeinschaft der Körper wird ein Selbstbild konstruiert, in dem das Ich ein Teil eines sichtbaren grossen Ganzen, quasi eines Leibes, ist.

Osterprozession in Guatemala City, 16.04.2014
Osterprozession in Guatemala City, 16.04.2014

Wenn man von Körpern und Religion spricht, dann ist das Geschlecht eine Grösse, die sich nicht ausblenden lässt. Pahud de Mortanges zeigt gekonnt auf, wann und warum das Zwei-Geschlechter-Modell in der christlichen Glaubenspraxis relevant wurde und wieso Geschlechter-Diversität ein bewährtes und kein neuzeitliches Konzept ist. Mit bestechenden Argumenten legt die Autorin dar, dass der Körper Jesu sich einer exklusiven Geschlechtszuschreibung entzieht.

Der gebärende Jesus und die LGBTQAI+-Bewegung

Der eine Leib Jesu besteht laut Pahud de Mortanges aus Abstufungen. Geschlechtergrenzen werden überschritten, wenn Jesus aus seiner Seitenwunde die Kirche «gebärt». Oder wenn Bernard von Clairvaux von Jesu Brüsten spricht, die dieser den Gläubigen darreicht.

Jesus gebärt die Kirche aus der Seitenwunde (oben links), Ausschnitt Screenshot Twitter
Jesus gebärt die Kirche aus der Seitenwunde (oben links), Ausschnitt Screenshot Twitter

So sind auch viele Körperpraktiken, durch die sich die Gläubigen an die Frohe Botschaft erinnern, nicht geschlechtsgebunden. Bodies of Memory and Grace entführt nicht nur in ein unglaublich faszinierendes Kapitel der christlichen Erinnerungskultur, vielmehr erklärt das Buch die Geschlechter-Diversität und somit auch die LGBTQAI+-Bewegung zu einem integralen Bestandteil der Verkörperung des Christentums.


Unterarm mit tätowiertem Kreuz und Bibelstelle Röm 5,6–8, «Christus ist schon zu der Zeit, als wir noch schwach und gottlose waren, für uns gestorben...» | © Wikimedia Commons/A guy saved by Jesus, CC BY-SA 4.0
2. Juli 2022 | 05:00
Lesezeit: ca. 3 Min.
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Zum Buch

Bodies of Memory and Grace. Der Körper in den Erinnerungskulturen des Christentums, 2022, Baden-Baden/Zürich: Pano/TVZ. 238 Seiten, zahlreiche Abbildungen. Elke Pahud de Mortanges rekonstruiert in ihrem Buch unterschiedliche körperliche Erinnerungspraktiken und setzt ihre Inszenierungen in Bezug zu zeitgenössischer Kunst. Dadurch entsteht eine dichte Beschreibung dessen, was die «Fleischwerdung» im Christentum bedeutet und welchem Bezug sie zu Geschlechtskonzepten steht. (nf)

Die Autorin: Elke Pahud de Mortanges

Elke Pahud de Mortanges (1962) ist ausserplanmässige Professorin für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Universität Freiburg im Breisgau. Ausserdem ist sie Dozentin für Gender Aspects in Religious Studies an der Universität Freiburg im Üechtland. https://www.theol.uni-freiburg.de/disciplinae/dqtm/personen/dogmatik/pahud (nf)