Matthias Wenk, römisch-katholischer Theologe
Radiopredigt

Matthias Wenk: «Ich setze meinen Fuss in die Luft…»

Der römisch-katholische Theologe Matthias Wenk erlebt auf einer Bergwanderung Höhenangst. Dabei fallen ihm Worte der deutsch-jüdischen Schriftstellerin Hilde Domin ein – und ein ähnlich klingender Psalm. Das erzählt er in seiner aktuellen SRF-Radiopredigt.

Matthias Wenk*

Gleich nach Tagesanbruch haben wir uns von der Meglisalp aus auf den Weg gemacht, um endlich einmal zu Fuss auf den Säntis zu steigen. Es tut so gut, in den Bergen unterwegs zu sein. Ich schwitze, komme körperlich an meine Grenzen, fühle mich aber unglaublich glücklich, mitten in der Natur zu sein – über mir nur der Himmel. Sie kennen dieses Gefühl vielleicht auch, liebe Hörerin, lieber Hörer?!

Zwei Tage zuvor sind meine Frau Maria und ich gemeinsam mit unserer Hündin Eni zuhause in St. Gallen gestartet und haben den Weg auf den Säntis unter die Füsse genommen – über Appenzell, das Bödeli am Wyssbach, die Ebenalp und den Aescher und dann über den Seealpsee auf die Meglisalp.

Matthias Wenk unterwegs im Wald
Matthias Wenk unterwegs im Wald

Auf der letzten Etappe geht es nun über die Wagenlücke auf den ersehnten Gipfel. Die Wagenlücke ist ein wunderbarer Ort für eine Pause: vor uns der imposante Kamm der Rosmahd, auf der einen Seite erspähen wir ganz winzig das Berggasthaus Schäfler und auf der anderen thront der ehrwürdige Altmann.

Dem Himmel nahe

Auf 2025 Metern Höhe fühle ich mich dem Himmel doch schon recht nahe. Eigentlich reicht mir diese Höhe schon. Schon seit meiner Kindheit lebe ich mit Höhenangst. Hier oben bin ich froh, dass ich mich bei unserer Pause an die Felsen schmiegen kann. Der Wind umweht uns warm an diesem Sommertag.

Er ist stark. Hier sind wir ihm ausgeliefert. Neben uns fallen die Felsen auf beiden Seiten ab in Richtung Lochtem und Rossegg. Und ich frage mich, was wäre, wenn ich einfach so tun würde, als könnte ich über den Abgrund hinaus ungehindert weiterlaufen – einfach so als gäbe mir die Luft einen sicheren Tritt?!

Gedanken gegen Höhenangst

Juah – bei dieser Vorstellung kribbelt es mir beängstigend in den Füssen. Solche Dinge sollte ich hier an diesem Ort, der so sehr den Naturgewalten ausgesetzt ist, nicht denken. Aber obwohl sich die Höhenangst unbarmherzig meldet, übt der Gedanke, den Fuss in die Luft zu setzen, irgendwie eine Faszination auf mich aus. Und plötzlich ist mir auf 2025 Metern Höhe ein Satz der deutsch-jüdische Schriftstellerin Hilde Domin ganz nah. Er lautet: Ich setzte meine Füsse in die Luft und sie trug.

Ich setzte meine Füsse in die Luft und sie trug. Wie wunderbar das wäre, Schritt für Schritt den Abgrund überqueren zu können, und das, weil mich die Luft unter meinen Füssen trägt. Einfach über die Rossegg hinweg auf der Luft zur Rotsteinpasshütte hinüberschreiten. Ich glaube, diese Vorstellung würde sogar meine Höhenangst davon überzeugen, ihre Meldepflicht hintenanzustellen und mich einen Luft-Schritt nach dem anderen wagen zu lassen.

Kein Schritt in die Luft geplant

Ich weiss, das hört sich sehr feingeistig, ja total lebensfremd an – und sagt sich so leicht dahin auf einer sommerlichen Bergwanderung. Mit Sicherheit werden Sie weder auf Ihrer NewsApp oder in Ihrer Zeitung davon lesen noch auf Radio SRF davon hören, dass ein 46-jähriger Wanderer aus St. Gallen von der Wagenlücke zum Rotsteinpass zu Fuss durch die Luft geschritten ist – weder kann ich das noch bin ich lebensmüde!

Natürlich meinte die Dichterin Hilde Domin das im übertragenen Sinn. Aber einfach nur so dahingesagt in ihrem dichterischen Feingeist hat sie es eben auch nicht. Zu einer sehr, sehr dunklen Zeit ihres Lebens hat sie diesen Satz zum ersten Mal zu Papier gebracht – in einem Brief an ihren Bruder. Sie schreibt diesen Satz in einer tiefen Lebenskrise nach dem Tod ihrer Mutter. Und ausgerechnet dann, wenn Hilde Domin Unterstützung gebraucht hätte, verlässt sie auch noch ihr Mann.

Gedichte zur Rettung

Sie schreibt an ihren Bruder: Ich fand mein Leben mit einem Schlage als widerlegt, […]. Aber Leben mochte ich auch nicht mehr. […] Da wurden mir die Gedichte gegeben. Ich setzte den Fuss in die Luft und sie trug. Ich ging weg in eine eigene Welt.

Da schreibt keine, die sich das Leben schönreden möchte; keine, die das Unglück nicht kennt, aber anderen Ratschläge geben will, wie sie es bewältigen sollten; keine, die Schlimmes nicht wahrhaben will. Sie schreibt es nicht für andere. Hilde Domin schreibt diese Zeilen nur für sich selbst. Vermutlich wurde dieser Brief nie losgeschickt.

Sie beschreibt mit diesen Zeilen den Moment, in dem sie begann, Gedichte zu schreiben. Gedichte zu schreiben, hat Hilde Domin das Leben gerettet – als sie vor diesem Lebensabgrund stand. Diesem wollte sie sich eigentlich hingeben. Doch statt der Leere des Abgrunds fand sie mit dem Schreiben einen Tritt in der Luft, der sie in ihrer Hoffnungslosigkeit trug. Der Abgrund, der sich in ihrem Leben auftat, war für Hilde Domin nicht das Ende.

Trotz Abgrund – weiterleben

Später sagt sie über sich selbst, sie sei «eine Sterbende, die gegen das Sterben anschrieb». Sie hat also am eigenen Leib erlebt, dass ein Leben trotz der Erfahrung von Abgrund weitergehen kann, dass Leben über den Abgrund hinaus möglich ist. Ihre Erfahrung, die sie in diesem einen Satz verdichtet, zeigt: Es ist möglich, das Leben weiterzugehen, auch wenn der Boden, auf dem man geht, den Anschein macht, er sei Luft.

Ich setzte den Fuss in die Luft und sie trug. Ein Satz voll von Lebenswirklichkeit. Ich glaube, genauso viel Lebenswirklichkeit atmet auch eine Zeile von Psalm 31. Sie hört sich ganz ähnlich an wie Hilde Domins verdichtete Erfahrung: Du hast meine Füsse auf weiten Raum gestellt.

Gott als tragfähige Zuflucht

In Psalm 31 besingt die oder der Betende Gott als die Zuflucht in tiefer Krise. Dabei wird an Beispielen aus der eigenen Lebenserfahrung aufgezeigt, dass sich Gott immer wieder schon als tragfähige Zuflucht erwiesen hat. Eben: «Du, Gott, hast meine Füsse auf weiten Raum gestellt.» Und für mich schwingt darin das Vertrauen mit: «und Du, Gott, wirst wieder meine Füsse auf weiten Raum stellen und mich über den Abgrund führen.»

An den Abgründen des Lebens bläst uns ein scharfer Wind entgegen. Vielleicht erinnern Sie sich ja jetzt gerade auch an einen solchen Moment?! Ich hoffe sehr, dass es Ihnen damals gelungen ist, über den Abgrund hinaus Ihren Lebensweg weiterzugehen? Und hoffentlich hat Sie die Luft, der weite Raum getragen.

Aufsteller im Leben

Solche Erfahrungen sind Aufsteller im Leben. Die Verfasserin, der Verfasser des 31. Psalms und Hilde Domin haben uns einen solchen Aufsteller hinterlassen – wunderbar! Domin gibt sogar noch einen Ausblick darauf, was geschehen kann, wenn ich es wage, meinen Lebensweg im luftigen Ungewissen weiterzugehen. Ich ging weg in eine eigene Welt, schreibt sie im daran anschliessenden Satz.

Holzsteg über den Zürichsee bei Rapperswil
Holzsteg über den Zürichsee bei Rapperswil

«Eine eigene Welt» – ich denke, Hilde Domin beschreibt mit dieser Formulierung ihre Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Sie hat den Schritt in die Luft gewagt und erlebt, dass die Luft tragen kann. So ist es ihr gelungen, die Abgründigkeit ihrer damaligen Lebenssituation zu bewältigen. Sie hat erfahren, dass sie das schaffen kann; sie hat als Sterbende gegen das Sterben angeschrieben; sie hat sich am Abgrund gegen den Sog des Abgrunds gestellt.

Entfaltung dank Krise

Und dabei ist ihr bewusst geworden, dass sie über sich hinauswachsen kann, dass sich der weite Raum des Lebens vor ihr ausbreitet. Ohne die Lebenskrise, die sie erlebt hat, wäre Hilde Domin vielleicht nie zu der dichterischen Tiefe gelangt, durch die uns heute noch ihre Texte inspirieren können. Wer seinen Fuss in die Luft setzt und darauf vertraut, dass sie trägt, taucht in die weiten Möglichkeitsräume und Entfaltungswelten ein, die Gott unserem Leben schenken kann und wir können die wer-den, die wir sind – über jeden Abgrund hinaus.

So, der Wind an der Wagenlücke, unserem Pausenplatz auf dem Weg zum Säntis, hat nachgelassen und mein Gedankenausflug im Angesicht des Abgrunds links und rechts von uns hat meine Höhenangst verfliegen lassen.

Hier in den Bergen werde ich sicher keinen Fuss über den Abgrund hinaus in die Luft setzen. Aber das hoffnungsvolle Bild, das mir Hilde Domin mit ihrem Satz ins Herz gepflanzt hat, wird mich weiterbegleiten und stärken in den Wagnissen des Lebens. Und so machen wir uns auf und setzen unseren Weg auf den Säntis fort. Ich freue mich auf den weiten Raum, der sich dort oben vor uns ausbreiten wird – en schöne Suntig.

*Matthias Wenk ist römisch-katholischer Theologe, Seelsorger in der Cityseelsorge St. Gallen und Radioprediger bei SRF.

Bibelstelle: Psalm 31,9b

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Matthias Wenk, römisch-katholischer Theologe | © Manuela Matt
6. August 2023 | 10:00
Lesezeit: ca. 6 Min.
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