Martin Werlen
Konstruktiv

Martin Werlen: «Die Kirche ist eine Baustelle»

Eine Baustelle kann nur gelingen, wenn mit einem wohlwollenden Blick darauf geschaut wird, sagt Pater Martin Werlen. Alles, was heute bewundert wird, ist Baustellen zu verdanken – auch in der Kirche. «Wir dürfen uns nicht von denen, die sich einsetzen, dass alles so bleibt, wie es immer war, bremsen lassen», so der Benediktiner.

Jacqueline Straub

Ihr neues Buch heisst «Baustellen der Hoffnung». Worum geht es darin?

Martin Werlen*: Vor zweieinhalb Jahren begann in der Propstei eine grosse Baustelle. Es war ein Bauprojekt, das viele alte Räume umfasst bis ins 11. Jahrhundert, aber auch neueste aus dem 21. Jahrhundert. In solch eine Gesamtsanierung sind natürlich auch viele Menschen involviert: Das Kloster Einsiedeln als Bauherrschaft, das Leitungsteam der Propstei St. Gerold vor Ort, dann Architekten, Planer, das Denkmalamt, Archäologinnen und schliesslich die Handwerker. Ich finde die Baustelle ein grossartiges Bild für unser Leben.

«Und eine Baustelle kann man nie allein bewältigen.»

Inwiefern?

Werlen: Wir haben mitten in der Baustelle unseren Alltag weitergeführt, Exerzitien und Seminar angeboten, Gäste zur Erholung aufgenommen. Und es war von Anfang an klar: Wir werden uns nie für die Baustelle entschuldigen. Unser Betrieb geht also weiter – nicht neben der Baustelle, sondern mit der Baustelle. Gerade im Zusammensein mit unseren Gästen aus allen Gesellschaftsschichten und ihren Problemen im Alltag, habe ich gemerkt: eine Baustelle kann nur gelingen, wenn wir mit einem wohlwollenden Blick draufschauen. Und eine Baustelle kann man nie allein bewältigen. Es braucht die Zusammenarbeit von vielen.

Baustelle in St. Gerold
Baustelle in St. Gerold

Was hat Sie am meisten überrascht?

Werlen: Am meisten überrascht hat mich, dass Baustelle das häufigste Bild für Kirche im Neuen Testament ist. Das habe ich vorher nie wahrgenommen. Bei einem Vortrag in Thun hat mich eine Theologin darauf aufmerksam gemacht, dass Josef Pfammatter 1960 an der Gregoriana in Rom darüber die Dissertation geschrieben hat: «Die Kirche als Bau». Genau dieses Bild kann uns heutzutage helfen. So schreibt der Exeget in der Einleitung: «Was für besondere Gesichtspunkte stellt die Bauallegoristik für das Verständnis der Kirche heraus? Ergibt sich aus den Baubildern neues Licht auf das Wesen der Kirche?» Dieses Bild wurde leider bis heute kaum aufgenommen.

«Wer in diesem Ideal lebt, sieht keine Baustellen in der Kirche.»

Welches Bild finden Sie hingegen weniger passend für die Kirche?

Werlen: Im vergangenen Jahr im Mai und Juni war ich zu drei Festgottesdiensten eingeladen. Jedes Mal stand das Lied «Ein Haus voll Glorie schauet» auf dem Programm. Genau dieses Bild ist mitverantwortlich für viele Probleme, die wir heute in der Kirche haben. Es erstaunt mich wirklich, dass Seelsorgende nicht merken, dass man das Lied nicht mehr singen darf. Mit diesem Kirchenbild ist verständlich, dass wir jeden Hauch von Mangel von uns weisen. Wer in diesem Ideal lebt, sieht keine Baustellen in der Kirche.

Was schlagen Sie vor?

Werlen: Wenn ich an Theologiestudierende denke, die einen kirchlichen Beruf antreten, um das Haus voll Glorie zu verteidigen, geht das am Evangelium und an der Realität vorbei. Doch wir brauchen Theologiestudierende, die zusammen mit anderen an dieser Baustelle Kirche arbeiten wollen. Das bringt eine Dynamik und eine Kreativität mit sich.

Sie haben Ihren Mitbruder gebeten, das Lied «Ein Haus voll Glorie schauet» umzuschreiben.

Werlen: P. Christoph Müller, der in Vorarlberg drei Einsiedler Pfarreien betreut, ist auch Dichter. Er hat zur gleichen Melodie einen neuen Text geschrieben. Hier ein Auszug:

Ein Haus im Bau verkündet

weit über alle Land:

Der Herr, der stets dran bauet,

vertraut auf Lehm und Sand.

Was denken Sie, kann das Bild der Baustelle leisten?

Werlen: Es kann sicherlich Gräben zwischen konservativ und progressiv überbrücken. Denn es geht nicht mehr darum, etwas zu verteidigen oder von einem Ideal zu träumen, das wieder ein Haus voll Glorie wäre. Auf einer Baustelle schauen wir gemeinsam, was zu machen ist. Es wird diskutiert. Räume, die nicht mehr den heutigen Bestimmungen entsprechen, müssen grundsaniert oder sogar abgerissen werden. Dennoch muss nicht alles abgerissen werden – wie es manche vielleicht wünschen.

Die meisten Menschen haben einen Horror vor Baustellen.

Werlen: Baustelle ist etwas, was wir lieber nicht hätten. Doch sind wir ehrlich: Alles, was wir bewundern, haben wir Baustellen zu verdanken. Jeden Raum verdanken wir einer Baustelle. Jeden Kilometer, den ich per Bus oder Bahn zurücklege, verdanke ich einer Baustelle.

Kirche im Umbruch: Die Propstei St. Gerold in Vorarlberg.
Kirche im Umbruch: Die Propstei St. Gerold in Vorarlberg.

Und was heisst das für uns Menschen?

Werlen: Wir dürfen unsere Baustellen im Leben haben. Im Kontakt mit unseren Gästen erlebe ich immer wieder, wie dieses Bild der Baustelle heilend wirken kann. Denn viele Gäste kommen mit sehr vielen Baustellen zu uns, die sie fast erdrücken – sie wissen einfach nicht mehr weiter.

Haben Sie mir ein konkretes Beispiel?

Werlen: Eine Frau hatte schwere Lasten zu tragen. Sie erzählte mir, dass sie früher gerne gemalt hat. Ich habe ihr gesagt, sie soll ihre Baustellen doch mal zeichnen. Mit einem liebevollen Blick konnte sie dann darauf schauen. Ich glaube, es kann ein Ansporn sein, das Leben als Baustelle zu entdecken und – um es mit unserem Slogan zu sagen – leben lieben lernen.

«Auch auf unserer Baustelle haben wir immer eine Lösung gefunden.»

Wo sehen Sie die grössten Baustellen in der Kirche?

Werlen: Die Kirche ist Baustelle. Da muss ich nicht fragen, wo die grösste Baustelle ist. Wir mussten im Haupthaus einen Teil abreissen, weil er – als er gebaut wurde – sinnvoll war, heute aber nicht mehr. Wir haben hingegen ein anderes Treppenhaus benötigt, um der Brandschutzverordnung zu entsprechen.

Ich bleibe im Bild: Was ist aber, wenn es eine Gruppe auf der Baustelle gibt, die nicht einsieht, dass dieser Teil des Gebäudes abgerissen werden muss?

Werlen: Hier merke ich, wie wichtig die Synodalität ist, dass man miteinander auf dem Weg sein muss. Auch auf unserer Baustelle haben wir immer eine Lösung gefunden. Wir haben in der Baukommission viele Sachdiskussionen geführt, manchmal ganz heftig. Ziel war für alle, dass dieses Gebäude auch in Zukunft Lebensraum bietet.

«Eine Baustelle ist eine Herausforderung, kreativ zu sein.»

Bedauert denn niemand den Umbau der Propstei?

Werlen: Doch. Eine Frau meinte während der Bauzeit, es sei schade, dass es nicht mehr so ist, wie früher.

Was haben Sie ihr geantwortet?

Werlen: Wäre es noch immer beim Alten, hätten die Behörden das grossartige Haus geschlossen. Wir dürfen uns nicht von denen, die sich einsetzen, dass alles so bleibt, wie es immer war, bremsen lassen. Das würde Untergang bedeuten. Wir dürfen nicht vor ihnen einknicken, aber wir müssen versuchen, auch sie mitzunehmen.

Bei der Sanierung ist drinnen kaum ein Stein auf dem anderen geblieben. Selbst die Heiligen bleiben nicht, wo sie immer waren.

Werlen: Wir nehmen die Heiligen von den Sockeln. So kommen sie erst richtig zur Geltung. Da realisieren wir: Sie waren Menschen wie wir. Heilige stehen oft nach langen Umwegen zu ihren Baustellen. Eine Baustelle ist eine Herausforderung, kreativ zu sein. Genau das ist es, was die Kirche auszeichnen müsste: Kreativität.

Sie sind auch kreativ mit dem heiligen Gerold.

Werlen: Die lebensgrosse Skulptur steht immer wieder aktuell in unserer Zeit. Nach dem Tod von Alexej Nawalny trug der politische Flüchtling Gerold ein Schild: «Ich weiss, was es heisst, politisch verfolgt und vom Tode bedroht zu sein». Da zeigt sich eine grosse Aktualität und gleichzeitig: Ich kann nicht die Heiligen von damals verehren und heute nicht realisieren, dass wir Menschen haben, die in genau gleichen Situationen stecken. Wir dürfen nicht nur die aus der Vergangenheit ehren, sondern wollen auch die politisch Verfolgten und vom Tode Bedrohten von heute nicht vergessen. Zudem trägt er auch regelmässig eine Regenbogenflagge.

Und da hat keiner etwas dagegen?

Werlen: Zweimal schon war die Flagge verschwunden. Beim ersten Mal tippe ich auf den Wind. Aber wir haben genügend auf Lager. Wir knicken nicht ein und hängen weiterhin eine Regenbogenflagge als starkes Zeichen der Versöhnung über die Schultern unseres Heiligen.

Sie feiern Gottesdienste auch mitten in der Baustelle.

Werlen: Ja, selbstverständlich. Und an Weihnachten waren unserer Krippenfiguren in den vergangenen Jahren mitten in der Baustelle oder mitten im Kriegsgeschehen. Schliesslich wurde Jesus nicht in einem sterilen Kirchenraum geboren, sondern inmitten von Problemen und Herausforderungen. Und auch heutzutage müssen Menschen mitten von Kriegsschutt Weihnachten feiern. Kürzlich hatte ich ein schönes Erlebnis. In der Predigt habe ich über Baustellen gesprochen. Ich habe gesagt, dass wir alle eingeladen sind, in dieser Baustelle der Kirche mitzuarbeiten. Und manchmal muss der Herrgott lange anklopfen, bis wir das überhaupt realisieren. Und in dem Moment kam oben vom Dach her ein lautes Klopfen – es wirkte wie geplant. Alle mussten lachen.

Die Kirche steht derzeit vor grossen Herausforderungen. Viele erleben einen Baustopp. Was sagen Sie dazu?

Werlen: Jeder Baustelle kann man mutige Verantwortliche wünschen. Sonst wird es schwierig. Und da merkt man plötzlich, was das Schlimmste an Baustellen ist: Wenn es nicht mehr weitergeht. Oder wenn man nicht mal sagen darf, es ist eine Baustelle.

Dennoch habe heute viele Angst, dass die Kirche zusammenbricht, weil die Baustelle nicht angegangen wird.

Werlen: Tatsächlich versuchen bestimmte Gruppen, das Haus voll Glorie aufrechtzuerhalten. Das blockiert und es widerspricht dem Wesen der Kirche zutiefst. Die Kirche wird immer eine Baustelle bleiben. Und das Faszinierende ist ja gerade, dass wir miteinander an dieser Baustelle arbeiten dürfen – in den unterschiedlichsten Aufgabenbereichen. Niemand kann alles alleine machen. Aber es ist klar: Es gibt Auseinandersetzungen. Mit dem Buch «Baustellen der Hoffnung» versuche ich zu ermutigen, das Leben anzupacken, aber auch mit der Zeitschrift «Gemeinsam Glauben».

*Martin Werlen war von 2001 bis 2013 Abt des Klosters Einsiedeln. Seit 2020 ist er Propst der seit 1000 Jahren zum Kloster Einsiedeln gehörenden Propstei St. Gerold in Vorarlberg. Sein neuestes Buch: «Baustellen der Hoffnung. Eine Ermutigung, das Leben anzupacken.» Er ist Herausgeber der Herder-Zeitschrift «Gemeinsam Glauben».

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Martin Werlen | © Christian Merz
27. März 2024 | 07:00
Lesezeit: ca. 6 Min.
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