Propst Martin Werlen
Schweiz

Martin Werlen: «Ich bin hier, um die Fastenzeit abzuschaffen»

Der Einsiedler Mönch und Propst von St. Gerold lockt die Menschen gern mit einer Provokation aus der Reserve. Auch in seiner aktuellen, alternativen Fastenzeit-Predigt mit dem Titel «Der Not der Menschen Sprache geben». Die Predigt im Wortlaut.

Martin Werlen*

Warum ich hier bin? Wenn ich das vorher gesagt hätte, wäre ich vom Team des Seelsorgeraums kaum eingeladen worden. Ich sage es klipp und klar: Ich bin hier, um die Fastenzeit abzuschaffen. Ja, ihr habt richtig verstanden: Ich bin hier, um die Fastenzeit abzuschaffen. Das ist jetzt aber gewagt, werden einige denken. Andere nicken zustimmend.

Fasten
Fasten

Mit dem deutschen Wort «Fastenzeit» definieren wir die Zeit im Kirchenjahr, die wir heute beginnen, mit Verzicht. Aber Verzicht steht nicht im Zentrum. Im Zentrum steht vielmehr die Sehnsucht nach Gott. Genau diese finden wir in allen romanischen Sprachen im Wort für die Zeit, die wir in der deutschen Sprache «Fastenzeit» nennen.

Die Vierzig

Die kirchliche Tradition spricht von der «Quadragesima», den Vierzig, ebenso im Französischen «quarème» und im Italienischen «caresima». Da schwingt ganz anderes mit, als wenn wir das Wort «Fastenzeit» hören. «Quadragesima» erinnert an die vierzig Tage, in denen sich Mose und Elija intensiv auf die Begegnung mit Gott vorbereiteten. Für Mose bedeuten diese vierzig Tage auf dem Sinai die unmittelbare Erfahrung der Gegenwart Gottes, die ihn so prägt, dass sein Gesicht leuchtet. Jesus selbst verbringt vierzig Tage in der Abgeschiedenheit der Wüste.

In der Wüste ist es brütend heiss.
In der Wüste ist es brütend heiss.

Diese Sehnsucht nach Gott drückt sich in erster Linie in der Liebe aus, besonders in der Liebe zu den Menschen in Not. Das haben wir in der Lesung aus dem Buch Jesaja (58,4-10) in aller Eindeutigkeit vernommen. In diesen Heiligen Vierzig Tagen will Gott unsere Augen, Ohren und Herzen für die Menschen in Not öffnen. Dazu soll auch jeder Verzicht führen, auch das Fasten.

Schicksal eines Menschen aus Syrien

Von einem Menschen in Not hier in Vorarlberg möchte ich euch ein wenig erzählen und so seiner Not Sprache geben. Das konkrete Schicksal soll uns allen helfen, anders durch diese Heiligen Vierzig Tage zu gehen.

Flüchtlinge auf dem Mittelmeer
Flüchtlinge auf dem Mittelmeer

Aziz aus Syrien lernte ich vor zwei Jahren am späten Abend im Zug kennen. Er war in Arbeits-kleidung. Ich fragte ihn, ob er Feierabend habe. Nein, er – eigentlich Grundschullehrer – war auf dem Weg zur Nachtschicht in einem Metallwerk. In Freundschaft durfte ich ihn in der Folge unterstützen beim Vertiefen seiner Kenntnis der deutschen Sprache, bei der Suche nach einer Arbeit, die seinen Fähigkeiten entspricht, bei der Vorbereitung der Reise seiner Frau und seiner Kinder aus Syrien über Teheran nach Österreich und bei der schwierigen Suche nach einer Wohnung. Wie viel Leid und Not durfte ich hier ein klein wenig mittragen – auch im Weg zu den Ämtern und Beratungsstellen!

Darüber könnte ich ein Buch schreiben. Aber so lange will ich jetzt nicht predigen. Darum hier nur ein paar kleine Szenen.

Wohnungssuche mit Hindernissen

Bei der Suche nach einer Wohnung sagte uns der sehr engagierte Sozialarbeiter besorgt: «Es gibt drei grosse Probleme: 1. In Vorarlberg gibt es zu wenig bezahlbare Wohnungen; 2. Deine Familie ist zu grosse: mit 4 Kindern; 3. Ihr kommt aus Syrien.» Das schmerzt.

Aziz hat wenige Gelegenheiten, Deutsch zu hören und zu sprechen. Von Einheimischen wird er kaum angesprochen. Am Arbeitsplatz beim Metallwerk, wo er lange tätig war, wird – wie an vielen Orten der Schwerstarbeit – nicht Deutsch gesprochen, sondern syrisch, arabisch, türkisch und ukrainisch.

Kinder leiden unter Trennungsangst

Sein ältester Sohn ist jetzt in der 1. Klasse der Grundschule. Was das für einen Stress für ein Kind bedeutet, das am Anfang kein Wort versteht, können wir uns kaum vorstellen. Fast jeden Tag beginnt er in der Schule zu weinen und der Vater muss hingehen.

Drei Jungen im EU-Aufnahme- und Identifizierungszentrum in Mytilini auf Lesbos.
Drei Jungen im EU-Aufnahme- und Identifizierungszentrum in Mytilini auf Lesbos.

Der Vater sollte arbeiten, die Mutter – ausgebildete Krankenpflegerin – den Deutschkurs besuchen. Wer aber betreut die Kinder? Der älteste ist in der Schule, die zwei mittleren im Kindergarten, der jüngste daheim. Von den schrecklichen Erfahrungen des Krieges leiden drei von vier an grosser Trennungsangst. Zudem stehen keine Grosseltern oder Nachbarinnen zur Seite.

Im Kriegsgebiet war es nicht wichtig, dass man in der Nacht schläft und am Tag spielt oder arbeitet. Im Gegenteil. Man musste Tag für Tag schauen, irgendwie durchzukommen. Tag und Nacht musste man bereit sein, in einen Bunker zu gehen. Hier wird selbstverständlich anderes erwartet. Es ist eine grosse Herausforderung, sich diesen bisher ungewohnten Lebensstil anzueignen.

Verdienen oder deutsch lernen?

Mit dem Geld, das sie vom Land bekommen, reicht es nicht. Um so bald wie möglich als Lehrer zur Verfügung zu stehen – der Bedarf wäre gross –, müsste er noch intensiv Deutschkurse besuchen. Das ist aber nicht möglich, weil er für die Familie verdienen muss.

Obwohl es nicht reicht, will Aziz seinen Eltern Geld senden. Ich sagte zu ihm: «Das liegt jetzt nicht drin.» Er schaute mich entgeistert an: «Meinen Eltern verdanke ich die Flucht aus dem Kriegsgebiet. Sie waren bereit, mir dazu viel Geld zu geben. Das schulde ich ihnen. Sie brau-chen es noch dringender als ich.» Das hat mich tief berührt. Da geht uns vielleicht auf, was die politischen Diskussionen bedeuten, Asylbewerbern anstelle von Bargeld eine Bezahlkarte zu geben, um «Transferleistungen in die Heimatsländer» zu verhindern.

Das ist nur ein kleiner Einblick in die Not einer Familie hier bei uns in Vorarlberg.

Der Tropfen im Meer der Not

Eine Frage mag sofort kommen: Was kann ich als einzelner Mensch da schon machen? Was du da erzählt hast, ist schon gut, aber ist das nicht einfach ein kleiner Tropfen im Meer der Not? Genau diese Frage hat ein Journalist einmal Mutter Teresa von Kalkutta gestellt. Die grosse Heilige antwortete: «Das stimmt. Aber eine solche Frage stellen Sie nur, wenn sie nicht selbst einer dieser Tropfen im grossen Meer der Not sind.»

Jeden Tag begegnen wir Menschen in Not. Versuchen wir immer wieder unsere Augen, unsere Ohren und unsere Herzen zu öffnen! Mit dieser Haltung werden wir auch Menschen in die politische Verantwortung wählen, die mit offenen Augen, offenen Ohren und offenen Herzen auf andere Menschen zugehen – unabhängig davon, woher diese kommen. Das egoistische Kreisen um unsere eigenen Interessen hingegen lässt uns blind sein für Unrecht und Unterdrückung, wo wir sehr wohl zu Lösungen beitragen könnten.

Begegnungen wagen, statt kleinlich fasten

Wagen wir Begegnungen von Mensch zu Mensch – über alle menschlichen Grenzen hinweg. Das ist etwas Anderes als unser kleinliches Fasten und Verzichten. Selbstverständlich können wir in Begegnungen auch ausgenutzt werden. Übrigens: Das soll auch in der Begegnung mit Menschen aus Österreich vorkommen… Wir können überfordert sein oder enttäuscht.

Martin Kopp mit geflüchteten Jugendlichen.
Martin Kopp mit geflüchteten Jugendlichen.

Die Not von Menschen wahrnehmen und ihnen von Mensch zu Mensch begegnen. Manchmal gelingt es uns. Dann werden wir – und das kann ich aus eigener Erfahrung bezeugen – reich beschenkt. Warum? Weil wir demjenigen begegnen, der sagt: «Ich war fremd, und ihr habt mich aufgenommen. Ich war allein, und ihr habt mich besucht. Ich war hilflos, und ihr seid mir zur Seite gestanden.»

Wir hören uns jetzt noch einmal einen Abschnitt aus der Lesung an, die wir vorhin aus dem Buch Jesaja gehört haben. Wir werden merken: Wenn wir der Not der Menschen Sprache geben, berührt uns das Wort Gottes ganz anders in unserer Sehnsucht nach Gott – besonders in diesen Heiligen Vierzig Tagen.

Ist nicht das ein Fasten, wie ich es wünsche:
die Fesseln des Unrechts zu lösen,
die Stricke des Jochs zu entfernen,
Unterdrückte freizulassen,
jedes Joch zu zerbrechen?

Bedeutet es nicht,
dem Hungrigen dein Brot zu brechen,
obdachlose Arme ins Haus aufzunehmen,
wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden
und dich deiner Verwandtschaft nicht zu entziehen?

Dann wird dein Licht hervorbrechen wie das Morgenrot
und deine Heilung wird schnell gedeihen.

Deine Gerechtigkeit geht dir voran,
die Herrlichkeit des HERRN folgt dir nach.
Wenn du dann rufst, wird der HERR dir Antwort geben,
und wenn du um Hilfe schreist, wird er sagen: Hier bin ich.

Wenn du Unterjochung aus deiner Mitte entfernst,
auf keinen mit dem Finger zeigst
und niemandem übel nachredest,
den Hungrigen stärkst
und den Gebeugten satt machst,
dann geht im Dunkel dein Licht auf
und deine Finsternis wird hell wie der Mittag.

*Martin Werlen ist ehemaliger Abt des Klosters Einsiedeln und aktuell Propst in St. Gerold in Vorarlberg.


Propst Martin Werlen | © Christian Merz
15. Februar 2024 | 15:00
Lesezeit: ca. 5 Min.
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