Zürcher Spitalseelsorgerin Sabine Zgraggen
Schweiz

Sabine Zgraggen: «Der Pflegeberuf wurde systematisch kaputt gemacht»

Kranke Menschen wünschen sich eine für sie optimale Pflege und Betreuung. Das ist nicht immer einfach umzusetzen. Denn private Pflege, die über Dritte geleistet werden muss, kann schnell zu einem «Armutsgrab» werden, sagt Sabine Zgraggen, Leiterin der katholischen Spitalseelsorge in Zürich. Viele Erkrankungen sind Ergebnis einer «knallharten» Leistungsgesellschaft.

Wolfgang Holz

Frau Zgraggen, heute am 12. Mai ist der Tag der Pflege. Was bedeutet dieser Tag für Sie und ihre Kollegen und Kolleginnen von der Spitalseelsorge?

Sabine Zgraggen*: Der Tag der Pflege ist für uns wichtig, da wir als Spital- und Klinikseelsorgerinnen vor Ort am engsten mit dem Pflegepersonal zusammenarbeiten. Die Pflegenden stehen im Mittelpunkt. Was sie sehen, erfahren, weiterleiten und direkt am Patienten dann wieder umsetzen, ist von entscheidender Bedeutung für den Heilungsprozess und das Wohlbefinden der Erkrankten. Insofern bemühen wir Spitalseelsorgenden uns um einen sehr guten Kontakt zur Pflege, erhalten von ihnen auch Hinweise auf spirituelle Bedürfnisse, oder eine seelsorglich notwendige Krisenintervention.

«Insgesamt herrscht eine grosse Verdrängung bei dieser Thematik.»

Wie wichtig ist die Pflege von Kranken heutzutage in unserer Gesellschaft, die immer älter wird?

Zgraggen: Zu allen Zeiten wünschten sich kranke Menschen eine für sie optimale Pflege und Betreuung – wenn immer möglich daheim. Damals wie heute sind hier die privaten sozialen Gefüge entscheidend. Denn der Grossteil pflegerischer Leistungen wird durch die nächsten Angehörigen geleistet. Die Spitexen stehen auch parat und leisten Grossartiges. Doch wird private Pflege, die über Dritte geleistet werden muss, schnell zu einem «Armutsgrab».

Am Stand des Palliative-Care-Kongresses in Biel: Kabine für spirituelle Erfahrung.
Am Stand des Palliative-Care-Kongresses in Biel: Kabine für spirituelle Erfahrung.

Warum?

Zgraggen: Die Entwicklung zeigt eben, dass die meisten älteren Menschen dann doch in ein Alters- oder Pflegeheim gehen müssen und zum Sterben dann – je nachdem – noch ins Spital. Zudem: Wenn wir an die grosse Anzahl von Singlehaushalten heute denken, darf schon einmal gefragt werden: Und, wie stellst du dir das später vor?

«In der Werbung sehen wir nur vitale, hüpfende und strahlende Alte, die jung geblieben sind.»

Insgesamt herrscht eine grosse Verdrängung bei dieser Thematik. In der Werbung sehen wir nur vitale, hüpfende und strahlende Alte die jung geblieben sind. Und solange man nicht krank ist, leben wir in der Illusion: Der Staat und die Pflegenden sorgen dann später schon für mich. Nachher ist die Enttäuschung dann gross, wenn weder das Geld fürs Pflegeheim reicht, noch genügend Pflegepersonal zur Verfügung steht. Hinzu kommt die Sinnkrise, die alles Älterwerden mit sich bringt.

Wird aus Ihrer Sicht den Pflegenden, die ja eine sehr verantwortungsvolle und wichtige Aufgabe ausüben, von der Gesellschaft aus Ihrer Sicht genügend Anerkennung und Wertschätzung geschenkt?

Zgraggen: In keinem Fall. Ich weiss das aus eigener Erfahrung als ehemalige Pflegeexpertin. Man hat diesen Beruf systematisch kaputt gemacht. Ständig neue Ausbildungskonzepte und Anforderungen, bei gleichzeitig weniger Kompetenzen und abnehmender Attraktivität. Dann noch der im Verhältnis zur Verantwortung zu geringe Lohn. Es wird viel Geld in neue Therapien und Techniken gesteckt, aber letztlich nutzt uns das alles nichts, wenn nicht genügend qualifizierte Pflegende diesen Beruf ausüben.

Lichtstrahl
Lichtstrahl

Ist das möglicherweise eine Fehlentwicklung?

Zgraggen: Ja, aus meiner Sicht ist es grundsätzlich eine Fehlentwicklung, mit Kranken einen Gewinn erwirtschaften zu müssen. Sei es als Spital oder als Spitex. Krankheit ist nun mal per se defizitär. Viele Erkrankungen sind zudem das Ergebnis dieser knallharten Leistungsgesellschaft, die sozial viele Verlierer kennt. Unser heutiges Leben hat seinen Preis in Bezug auf Körper, Geist und Seele.

«Nur wenn wir eine Kirche der Schwachen, Gebrechlichen und Ausgestossenen sind, haben wir als Kirche unser Existenzrecht.»

Die Kirche leistet ja durch ihre Institutionen auch einen grossen Beitrag, um sich Kranken anzunehmen und zu pflegen. Sie leiten beispielsweise die Dienststelle der katholischen Spital- und Klinikseelsorge in Zürich. Würden Sie sagen, dass der Bereich Spitalseelsorge für die Kirche – nicht zuletzt angesichts all der Skandale, mit der sie auf anderen Ebenen konfrontiert ist – wieder wichtiger geworden ist für das Image?

Zgraggen: Ja, das stimmt schon. Denn viele Menschen, die heute noch Kirchensteuer zahlen, haben diese diakonischen und seelsorglichen Dienste im Sinn. Es gibt aber nicht nur die Spitalseelsorge, sondern zum Beispiel auch die Gefängnis-, Behinderten-, Polizei- und Jugendseelsorge – und einige mehr. Wir sind hier in Zürich etwa 19 Dienst- und Fachstellen mit rund 200 Mitarbeitenden «draussen», ohne die Freiwilligen vergessen zu wollen, die noch zu Hunderten dazu kommen. Wir sind an der Basis also wichtige «Multiplikatoren».

Raum der Stille in der psychiatrischen Klinik Hohenegg
Raum der Stille in der psychiatrischen Klinik Hohenegg

Nur durch die konkrete Hilfe in Situationen der Not, bleibt die katholische Kirche gesamtgesellschaftlich relevant. Schon Jesus und seine Jünger hatten die Benachteiligten, Kranken und Schwächsten im Sinn, um ihnen Erfahrungen von der zugesagten göttlichen Liebe zu ermöglichen. Nur wenn wir eine Kirche der Schwachen, Gebrechlichen und Ausgestossenen sind, haben wir als Kirche unser Existenzrecht. Jesus wollte es so. Alle kirchlichen Berufe müssen dieser Botschaft dienen.

Sie selbst waren 15 Jahre Psychiatrieseelsorgerin und ihre Mitarbeiterinnen kümmern sich auch in den psychiatrischen Kliniken um das seelische Leid des Menschen. Haben psychische Erkrankungen zugenommen?

Zgraggen: Ja. Langsam, aber stetig. Besonders während und auch jetzt nach Corona hat es die Jungen 10- bis 24-Jährigen «heraus geschleudert». Hier fehlen heute stationäre wie ambulante Plätze. Die Volkskrankheit «Depression» betrifft inzwischen fast 10 Prozent unserer Bevölkerung. Jede dritte Person in der Schweiz hat mindestens eine Person mit einer Alkoholkrankheit in ihrem privaten Umfeld.

Element aus der immersiv Lichtshow Offener St. Jakob
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Das tönt dramatisch. Sie sprechen von der Krankheit als Spiegel der Gesellschaft, wenn es um Menschen mit seelischen Leiden geht. Was meinen Sie damit genau?

Zgraggen: 37 Prozent der schweizerischen Gesellschaft sind mit ihrem Leben sehr zufrieden. Dies ist nachweislich auch vom Einkommen abhängig. Doch knapp 30 Prozent sind armutsgefährdet. Anhand der Kranken und Leidenden sollten wir uns ein Bild machen, wohin sich die Gesellschaft entwickelt. Diejenigen Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen, oder Menschen die Anspruch auf Sozialleistungen hätten, sie aus Scham aber nicht einfordern, sind oftmals einfach «unter die Räder» gekommen. Das muss die ganze Gesellschaft mit verantworten.

Seelsorge-Angebot im Reha-Zentrum Wald
Seelsorge-Angebot im Reha-Zentrum Wald

Haben Sie ein persönliches Rezept, wie man seelisch im Alltag einigermassen intakt bleiben kann?

Zgraggen: In gesunden Tagen muss man sich seine sozialen Kontakte und spirituellen «Reserven» aufbauen, damit sie einen in Krankheit, Krisen und Not tragen können. Wenn man erst am Boden liegt, wird es oftmals zu schwer.

*Sabine Zgraggen (54) ist seit vier Jahren in der Gesamtleitung der katholischen Spitalseelsorge im Kanton Zürich tätig. Seit 2005 arbeitete sie als Psychiatrieseelsorgerin und leitete das katholische Seelsorgeteam der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich. In ihrem Erstberuf war sie als Pflegeexpertin während zehn Jahren auf einer Intensiv-Überwachungsstation aktiv. Das Interview wurde schriftlich geführt.


Zürcher Spitalseelsorgerin Sabine Zgraggen | © zVg
12. Mai 2023 | 16:00
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