Wird der "Segen für alle" jetzt ein Exorzismus?
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«La Pasión Mística»: Das steht im Skandal-Buch des Glaubenspräfekten

Rücktrittsforderungen und sogar Morddrohungen: Ein vergriffenes Buch von Kardinal Víctor Manuel Fernández erhitzt die Gemüter. Der Grund: Der heutige Glaubenspräfekt schreibt darin über Sex und Orgasmen. kath.ch hat das Buch gelesen und findet: Die Kirche hat grössere Probleme als diesen mittelmässigen Eheratgeber.

Annalena Müller

Die Empörung in konservativen Kreisen ist wegen des «Segens für alle» gross. Just diese Kreise haben nun ein vergriffenes Buch des für «Fiducia Supplicans» verantwortlichen Kardinals Fernández ausgegraben. Darin schreibt der Kleriker über Mystik, Sex und Orgasmen. kath.ch hat das Skandal-Buch gelesen. Spoiler: Ein literarisches Meisterwerk ist das Opus des Kardinals nicht.

Sex und Gott: eine lange Tradition

«La Pasión Mística. Espiritualidad y sensualidad» (zu Deutsch etwa: Die mystische Leidenschaft. Spiritualität und Sinnlichkeit) widmet sich in weiten Teilen der erotischen Mystik des Mittelalters. Für Mittelalter-Historikerinnen, wie die Autorin dieses Textes eine ist, steckt im Skandal-Buch nichts Neues.

Die Heilige Katharina von Siena gehört zu den bekanntesten Mystikerinnen des Mittelalters.
Die Heilige Katharina von Siena gehört zu den bekanntesten Mystikerinnen des Mittelalters.

Ab dem 13. Jahrhundert haben Mystikerinnen – es waren vor allem Frauen – ihre Gotteserfahrung vielfach in erotischer Sprache zu Pergament gebracht. Bekannte Vertreterinnen dieser Form der Gottesliebe waren unter anderem Mechthild von Magdeburg (†1282), Katharina von Siena (†1380), Juliana von Norwich (†c. 1413) oder Teresa von Avila (†1582).

«So tut er sie in sein glühendes Herz. Da umhalsen sich der hohe Fürst und die kleine Dirne und sind vereint wie Wasser und Wein. Da wird sie zunichte und kommt ausser sich. Je mehr die Begierde wächst, desto enger wird das Liebeslager, je liebevoller sie einander anschauen, desto süsser der Geschmack des Mundkusses.»

Mechthild von Magdeburg

In ihren Schriften wird Jesus zum Bräutigam und die Seele zur «Dirne», die sich mit ihm vereint. Nicht nur bei Mechthild von Magdeburg steht die Seele als «vollerwachsene Braut» «nakend» vor dem Bräutigam, der sie auf dem Brautbett «durchküssen» und «mit seinen blossen Armen umfassen» will.

Amateurhaft

So viel zur historischen Erfahrungsmystik, welche Víctor Manuel Fernández anscheinend fasziniert hat. Die ersten fünf Kapitel seines Buches sind ihr gewidmet. Allerdings ohne dass sie geschichts- oder literaturwissenschaftlich fundiert wären.

Im Gegenteil. «La Pasión Mística» wirkt amateurhaft und zuweilen naiv. Denn Fernández zitiert zwar fleissig aus den mystischen Texten, aber der historische Kontext scheint ihm wenig bekannt, noch interessant. Ihm dienen die Texte vor allem als Beleg, dass eine erfüllte Sexualität in kirchlich legitimierten Paarbeziehungen gottgefällig ist und sie ausserdem eine lange Tradition der Offenbarung hat.

Küchenpsychologie und Evolutionsbiologie

Zugegebenermassen empören sich die traditionalistischen Eiferer, die den Skandal um das Büchlein auf Social Media antreiben, besonders über die Kapitel sieben bis neun. Da nämlich wagt der heutige Glaubenspräfekt den Sprung von der mittelalterlichen Mystik zur modernen Paartherapie.

Die konservative Journalistin Diane Montagna gehört zu den einflussreichen Antreiberinnen des «Skandals».

Aber auch dieser Teil des Buches mutet vor allem naiv an. Fernández Ausführungen zum männlichen und weiblichen Orgasmus erscheinen als Küchenpsychologie mit evolutionsbiologischen Tendenzen. Das ist eher peinlich, als dass es skandalös ist.

Positive Bewertung von Sexualität

Die Intension des Verfassers ist über das ganze Buch hindurch eindeutig zu erkennen: Fernández möchte Paaren eine positive Bewertung von Liebe und Sexualität an die Hand geben. Und ihnen zeigen, dass diese positive Bewertung eine lange Tradition in der Kirche hat.

Der Katechismus der Katholischen Kirche, das kürzere Kompendium und "Youcat"
Der Katechismus der Katholischen Kirche, das kürzere Kompendium und "Youcat"

In seinen eigenen Worten klingt das so: «Alles, was wir gesehen haben, zeigt uns, dass Gott kein Feind unseres Glücks ist, dass er unsere Fähigkeit zu lieben nicht einschränkt, denn er ist Liebe, leidenschaftliche Liebe, eine Liebe, die Gutes tut, die befreit, die heilt.» (Kapitel 8).

Inhaltlich steht das Büchlein in keinem Widerspruch zum Kirchrecht. Der Katechismus bewertet Sexualität im Rahmen der sakramentalen Ehe durchaus positiv. Sie wird ausdrücklich als ein Akt der Liebe und «eine Quelle der Freude und Lust» bezeichnet (KKK, 2362).

Literarischer Wert überschaubar – Skandalpotential auch

Der literarische Wert des Buches ist überschaubar. Intellektuell flacher als Georg Gänsweins Autobiografie «Nichts als die Wahrheit» ist es allerdings auch nicht. Ebenfalls überschaubar ist bei näherer Betrachtung das Skandalpotential.

Anders gesagt: Wenn ein mittelmässiger Ratgeber für Paare aus dem Jahr 1998, der einen positiven Umgang mit ehelicher Sexualität propagiert und in dem ein Kleriker wiederholt das Wort Orgasmus verwendet, Anlass für einen solchen Skandal ist: Dann muss man sich wirklich fragen, ob die Weltkirche keine anderen Probleme hat.


Wird der «Segen für alle» jetzt ein Exorzismus? | © KNA
11. Januar 2024 | 17:00
Lesezeit: ca. 3 Min.
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